Deutscher Buchpreis 2010 geht an Melinda Nadj Abonji für „Tauben fliegen auf“

Melinda Nadj Abonji erhält den Deutschen Buchpreis 2010 für ihren Roman „Tauben fliegen auf

Die Gewinnerin des Deutschen Buchpreises 2010 ist Melinda Nadj Abonji. Sie erhält die Auszeichnung für ihren Roman „Tauben fliegen auf“ (Jung und Jung Verlag).

„Ich danke der Jury, dass Sie gelesen hat und nicht bereits gesetzte Namen bestätigt hat“, sagte Melinda Nadj Abonji mit zittriger Stimme bei der Verkündung im Frankfurter Römer am Montagabend.

Melinda Nadj Abonji, geboren am 22. Juni 1968 in Bečej, Vojvodina, Serbien ist eine Schweizer Schriftstellerin, Musikerin und Performerin. 1997 beendete sie ihr Studium an der Universität Zürich mit dem Lizenziatsgrad. Sie ist Verfasserin literarischer Texte und nahm 2004 am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt teil. Sie tritt auch als Solo-Performerin und gemeinsam mit dem Rapper Jurczok 1001 als Musikerin auf. Abonji lebt heute in Zürich.

Melinda Nadj Abonji ist Mitglied des Verbandes Autorinnen und Autoren der Schweiz. Sie erhielt u.a. folgende Auszeichnungen: 1998 die Kulturelle Auszeichnung des Kantons Zürich, 2000 ein Aufenthaltsstipendium des Literarischen Colloquiums Berlin, 2001 den Hermann-Ganz-Preis, 2004 eine Anerkennungsgabe der Stadt Zürich sowie 2006 einen Werkbeitrag der Stiftung Pro Helvetia sowie ein Grenzgänger-Stipendium  der Robert Bosch Stiftung.

Mit ihrem Roman „Tauben fliegen auf“ ist Melinda Nadj Abonji ebenfalls auf der Shortlist für den Schweizer Buchpreis vertreten, der am 14.11.2010 vergeben wird.

„Melinda Nadj Abonji erzählt, aus der Perspektive der Tochter Ildiko, die Geschichte einer ungarischen Familie aus der serbischen Vojvodina, die sich eine Existenz in der Schweizer Gastronomie gründet. Sie erzählt es mit einer eigenen und äußerst lebendigen Stimme, zunächst noch mit dem Blick des Kindes auf die Welt, dem alles neu ist und sich doch von selbst versteht, dann der jungen Frau, die allmählich die Brüche in und zwischen diesen sehr verschiedenen Welten wahrnimmt, immer aber mit einer großen Empathie und Humanität. Was als scheinbar unbeschwerte Balkan-Komödie beginnt, wenn die Familie mit einem klapprigen braunen Chevrolet die sommerliche Reise in die alte Heimat antritt †“ darauf fallen bald die Schatten der Geschichte und der sich anbahnenden jugoslawischen Kriege. So gibt das Buch Tauben fliegen auf das vertiefte Bild eines gegenwärtigen Europa im Aufbruch, das mit seiner Vergangenheit noch lang nicht abgeschlossen hat „, so die Begründung der sieben Jury-Mitglieder.

„Trotz aller Risiken muss es den innovativen, riskanten Preis geben: Ganz gleich, ob am Ende die Entscheidung der Jury auf Zustimmung oder Kritik stößt, der Gewinner ist in jedem Fall die Literatur. Sie gewinnt Aufmerksamkeit und mit der Aufmerksamkeit die nötigen Leser. Und unter den Lesern wächst die Freude und das Gespür für literarische Qualität, Standards vertiefen sich und Innovationen werden entdeckt“, sagte Prof. Dr. Gottfried Honnefelder, Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels und Vorsitzender der Akademie Deutscher Buchpreis, bei der Begrüßung der rund 400 Gäste im Kaisersaal des Römers.

Die Jury hat in diesem Jahr insgesamt 148 Titel gesichtet, die zwischen Oktober 2009 und dem 8. September 2010 erschienen sind. Aus diesen Romanen wurde eine 20 Titel umfassende Longlist zusammengestellt. Daraus haben die Juroren sechs Titel für die Shortlist gewählt.

Mit dem Deutschen Buchpreis zeichnet die Börsenverein des Deutschen Buchhandels Stiftung zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse den besten deutschsprachigen Roman des Jahres aus.

Weitere Informationen, Filmausschnitte von der Pressekonferenz und Termine des Preisträgers rund um die Frankfurter Buchmesse können abgerufen werden unter www.deutscher-buchpreis.de.

Quelle: Deutscher Buchpreis

Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2010

Die Jury hat sich entschieden: Die sechs Finalisten für den Deutschen Buchpreis 2010 stehen fest und wurden heute bekannt gegeben.

„Einen Tag lang haben wir über die Kandidaten für unsere Shortlist diskutiert. Nicht immer, das gehört dazu, waren wir uns einig. Wir freuen uns, nun sechs außergewöhnliche Finalisten zu präsentieren, sechs sehr unterschiedliche literarische Stimmen: poetisch, komisch, experimentell. Es sind Romane, deren Gemeinsamkeit wohl vor allem in ihrer Welthaltigkeit zu finden ist“, sagt Jurysprecherin Julia Encke, Literaturkritikerin bei der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“.

Die Jury hat in den letzten fünf Monaten insgesamt 148 Titel gesichtet, die zwischen Oktober 2009 und dem 8. September 2010 erschienen sind. 20 Titel haben es in die Longlist geschafft und nachfolgend die 6 nominierten Romane der Shortlist in in alphabetischer Reihenfolge:

Jan Faktor – Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag

Kurzbeschreibung
Ein ödipales Vergnügen – Faktors erotischer Entwicklungsroman über Widerstände, Schmutz und Schönheit. Georg wächst in der schönsten Wohngegend Prags in einem summenden Frauenhaushalt auf. Leider zur Zeit des politischen Terrors, der überirdischen Atomversuche und später des Reformversuchs von ’68. Zwischen Tanten mit Kriegstraumata, dem tyrannischen Onkel ONKEL und der überstrahlend-schönen Mutter bleibt ihm nur die Flucht nach vorn.
Das sozialistische Prag hat in den Jahren von Georgs Jugend seinen Glanz verloren. In einer Stadt voller gewalttätiger Müllmänner, 50-ccm-Motorradcowboys, sexbesessener Fremdgänger und vieler anderer unsozialistischer Elemente nutzt Georg alle sich bietenden Freiräume, um auszubrechen: Er experimentiert mit hochexplosiven Substanzen, verbringt die Nachmittage mit wilden Jugendcliquen und findet im Kreis der Familie schließlich auch eine Geliebte. In einer Gesellschaft, die von den Rändern her vergammelt und sich von innen auflöst, bekommt das Körperliche eine befreiend-subversive Bedeutung. Georg mobilisiert alle Kräfte, um neben der Mutter auch dem stickig-klebrigen Vaterhaushalt zu entkommen, in dem er seine verhassten Wochenenden verbringen muss. Als er nach der Okkupation des Landes den kulturellen Niedergang miterlebt und sich der Prager Dissidentenszene nähert, wird ein geschasster Intellektueller, der sich trotz seiner Blindheit wie ein Sehender in der Stadt bewegt, zu seinem Wunschvater.
Georg macht sich seit seiner frühen Kindheit Sorgen um seine Vergangenheit, seiner hellen glücklichen Zukunft ist er sich aber völlig sicher. Die Frage, ob er wirklich glücklich werden wird, beantwortet sich bei einer zufälligen, aber nicht wirklich vermeidbaren Begegnung auf der Straße.
Indem Jan Faktor Georg selbst erzählen lässt, macht er das Erzählen zu einem zweiten subversiven Akt – und führt damit den Entwicklungs- und den Gesellschaftsroman zusammen. So entstehen ein vor Witz strotzendes Psychogramm einer Familie und ein hellsichtiges Porträt einer Stadt.

Thomas Lehr – September. Fata Morgana

Kurzbeschreibung
Zwei Väter und zwei Töchter, zwei parallele Lebensgeschichten in den USA und im Irak. Ihre Schauplätze sind weit entfernt, und doch verbinden sie zwei politische Ereignisse: Sabrina stirbt am 11. September 2001 im New Yorker World Trade Center, während Muna 2004 in Bagdad bei einem Bombenattentat ums Leben kommt. Thomas Lehr, in Deutschland einer der „klügsten und brillantesten Schriftsteller“ (FAZ), begibt sich in seinem grandiosen, vielschichtigen Werk auf eine literarische Grenzwanderung zwischen zwei Kulturen. In einer verdichteten, lyrischen Sprache erzählt „September“ vom Islam, von Öl, Terror und Krieg und von zwei Frauen, die stellvertretend für die Opfer dieses Konflikts stehen.

Melinda Nadj Abonji – Tauben fliegen auf

Kurzbeschreibung
Eine ungarische Familie aus Serbien in der Schweiz. Ein schwungvoll und gewitzt erzählter Roman aus der Mitte Europas.Zuhause ist die Familie Kocsis also in der Schweiz, aber es ist ein schwieriges Zuhause, von Heimat gar nicht zu reden, obwohl sie doch die Cafeteria betreiben und obwohl die Kinder dort aufgewachsen sind. Die Eltern haben es immerhin geschafft, aber die Schweiz schafft manchmal die Töchter, Ildiko vor allem, sie sind zwar dort angekommen, aber nicht immer angenommen. Es genügt schon, den Streitigkeiten ihrer Angestellten aus den verschiedenen ehemals jugoslawischen Republiken zuzuhören, um sich nicht mehr zu wundern über ein seltsames Europa, das einander nicht wahrnehmen will. Bleiben da wirklich nur die Liebe und der Rückzug ins angeblich private Leben?

Doron Rabinovici – Andernorts

Kurzbeschreibung
Weshalb polemisiert der israelische Kulturwissenschaftler Ethan Rosen gegen einen Artikel, den er selbst verfaßt hat? Erkennt er seinen eigenen Text nicht wieder? Oder ist er seinem Kollegen Klausinger in die Falle gegangen, mit dem er um eine Professur an der Wiener Universität konkurriert? Ethan Rosen und Rudi Klausinger: Beide sind sie Koryphäen auf demselben Forschungsgebiet, und doch könnten sie unterschiedlicher nicht sein: Rosen ist überall zu Hause und nirgends daheim. Selbst der Frau, die er liebt, stellt er sich unter falschem Namen vor. Klausinger wiederum ist Liebkind und Bastard zugleich. Er weiß sich jedem Ort anzupassen und ist trotzdem ruhelos: Was ihn treibt, ist die Suche nach seinem leiblichen Vater; sie führt ihn schließlich nach Israel und zu Ethan Rosen. Dessen Vater, ein alter Wiener Jude, der Auschwitz überlebte, braucht dringend eine neue Niere. Bald wird die Suche nach einem geeigneten Spenderorgan für die Angehörigen zur Obsession. Und selbst der obskure Rabbiner Berkowitsch hat plötzliches Interesse an den Rosens. Herkunft, Identität, Zugehörigkeit †“ um und um wirbelt Doron Rabinovici in seinem neuen Roman „Andernorts“ die Verhältnisse in einer jüdischen Familie, deckt ihre alten Geheimnisse auf und beobachtet sie bei neuen Heimlichkeiten. Am Ende dieser packend erzählten Geschichte sind alle Gewißheiten beseitigt. Nur eines scheint sicher: Heimat ist jener Ort, wo einem am fremdesten zumute ist. »Rabinovici gelingt das Kunststück, seine Prosa unterhaltsam, elegant und leicht, zugleich aber auch ausgesprochen artifiziell, genial und mehrdeutig darzubieten.« Tages-Anzeiger

Peter Wawerzinek – Rabenliebe

Kurzbeschreibung
Ein Buch wie ein Erdbeben. Über fünfzig Jahre quälte sich Peter Wawerzinek mit der Frage, warum seine Mutter ihn als Waise in der DDR zurückgelassen hatte. Dann fand und besuchte er sie. Das Ergebnis ist ein literarischer Sprengsatz, wie ihn die deutsche Literatur noch nicht zu bieten hatte. Ihre Abwesenheit war das schwarze Loch, der alles verschlingende Negativpol in Peter Wawerzineks Leben. Wie hatte seine Mutter es ihm antun können, ihn als Kleinkind in der DDR zurückzulassen, als sie in den Westen floh? Der Junge, herumgereicht in verschiedenen Kinderheimen, blieb stumm bis weit ins vierte Jahr, mied Menschen, lauschte lieber den Vögeln, ahmte ihren Gesang nach, auf dem Rücken liegend, tschilpend und tschirpend. Die Köchin des Heims wollte ihn adoptieren, ihr Mann wollte das nicht. Eine Handwerkerfamilie nahm ihn auf, gab ihn aber wieder ans Heim zurück.
Wo war Heimat? Wo seine Wurzeln? Wo gehörte er hin? Dass er auch eine Schwester hat, erfuhr er mit vierzehn. Im Heim hatte ihm niemand davon erzählt, auch später die ungeliebte Adoptionsmutter nicht. Als Grenzsoldat unternahm er einen Fluchtversuch Richtung Mutter in den Westen, kehrte aber, schon jenseits des Grenzzauns, auf halbem Weg wieder um. Wollte er sie, die ihn ausgestoßen und sich nie gemeldet hatte, wirklich wiedersehen? Zeitlebens kämpfte Peter Wawerzinek mit seiner Mutterlosigkeit.
Als er sie Jahre nach dem Mauerfall aufsuchte und mit ihr die acht Halbgeschwister, die alle in derselben Kleinstadt lebten, war das über die Jahrzehnte überlebensgroß gewordene Mutterbild der Wirklichkeit nicht gewachsen. Es blieb bei der einzigen Begegnung.
Aber sie löste – nach jahrelanger Veröffentlichungspause – einen Schreibschub bei Peter Wawerzinek aus, in dem er sich das Trauma aus dem Leib schrieb: Über Jahre hinweg arbeitete er wie besessen an Rabenliebe, übersetzte das lebenslange Gefühl von Verlassenheit, Verlorenheit und Muttersehnsucht in ein großes Stück Literatur, das in der deutschsprachigen Literatur seinesgleichen noch nicht hatte.

Judith Zander – Dinge, die wir heute sagten

Kurzbeschreibung
Bresekow, ein Dorf in Vorpommern. Als die alte Frau Hanske stirbt, kommt ihre Tochter Ingrid mit ihrer Familie aus Irland zur Beerdigung. Ingrid hatte Bresekow vor vielen Jahren fluchtartig verlassen. Der Besuch verändert vieles im Dorf, wirft gerade für die Familien Ploetz und Wachlowski alte und neue Fragen auf. Die Dorfbewohner beginnen zu sprechen, über ihr derzeitiges Leben und ihre Verstrickungen von damals. Bresekow war immer eine kleine Welt, eng, abgelegen und heute zudem vom Verfall bedroht.
Judith Zander lässt drei Generationen zu Wort kommen. Sie erzählt mit ungeheurer Sprachkraft von einem verschwiegenen Ort im Nordosten Deutschlands, von Provinz und Alltag, von Freundschaft und Verrat, vom Leben selbst.

Am 4. Oktober 2010 zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse im Kaisersaal des Frankfurter Römers, erfahren die sechs Autoren, wer von ihnen den Deutsche Buchpreis 2010 gewonnen hat. Der Preisträger erhält ein Preisgeld von 25.000 Euro; die fünf Finalisten erhalten jeweils 2.500 Euro.