Little Brother von Cory Doctorow: Kapitel 17

Little Brother

Kapitel 17

Dieses Kapitel ist Waterstone†™s gewidmet, der landesweiten britischen Buchhandelskette. Waterstone†™s ist zwar eine Kette von Läden, aber jeder einzelne hat die Ausstrahlung einer großartigen unabhängigen Buchhandlung mit ausgeprägtem Charakter, phantastischem Sortiment (vor allem bei Hörbüchern!) und fachkundigem Personal.

Waterstones:

http://www.waterstones.com

………………………………………………………………………………………………

Also erzählten wir es ihr. Und es machte mir sogar Spaß. Leuten beizubringen, wie sie eine bestimmte Technologie benutzen können, ist immer spannend. Es ist so cool, den Leuten dabei zuzugucken, wie sie versuchen, aus all der Technik um sie herum das Beste für sich selbst rauszuholen. Ange war auch klasse †“ wir waren ein Spitzen-Team. Wir wechselten uns dabei ab, zu erklären, wie das alles funktionierte. Wie zu erwarten, war Barbara ziemlich gut mit solchen Sachen.

Wir erfuhren, dass sie über die Krypto-Kriege berichtet hatte, jene Epoche in den frühen Neunzigern, als Bürgerrechtsgruppen wie die Electronic Frontier Foundation für das Recht jedes Amerikaners gekämpft hatten, starke Verschlüsselung benutzen zu dürfen. Ich hatte schon ein bisschen was über diese Phase gehört, aber Barbara erklärte sie auf eine Art, dass ich Gänsehaut bekam.

Man kann es sich heute nicht mehr vorstellen, aber es gab mal eine Zeit, als die Regierung Kryptografie als Munition eingestuft und den Export und die Verwendung aus Gründen der nationalen Sicherheit generell verboten hatte. Verstanden? Wir hatten mal illegale Mathematik in diesem Land.

Die National Security Agency war die eigentliche Strippenzieherin bei diesem Verbot. Sie hatte einen Verschlüsselungsstandard, den sie für sicher genug hielt für die Benutzung durch Banken und ihre Kunden, aber nicht so sicher, dass die Mafia damit ihre Buchhaltung geheim halten könnte. Der Standard, DES-56, galt als praktisch nicht zu knacken. Dann baute einer der Co-Gründer der EFF, ein Millionär, für 250.000 Dollar einen DES-56-Cracker, der einen solchen Schlüssel in zwei Stunden knacken konnte.

Doch die NSA argumentierte weiterhin, dass man amerikanische Bürger davon abhalten können müsse, Geheimnisse zu haben, die der NSA unzugänglich blieben. Dann holte die EFF zum vernichtenden Schlag aus. 1995 vertrat sie einen Berkeley-Mathematikstudenten namens Dan Bernstein vor Gericht. Bernstein hatte eine Verschlüsselungs-Anleitung geschrieben, die Computercode enthielt, der geeignet war, Schlüssel zu erstellen, die stärker als DES-56 waren. Millionen Male stärker. Aus Sicht der NSA war dieser Artikel eine Waffe und durfte deshalb nicht veröffentlicht werden.

Mag sein, dass es schwer ist, einem Richter begreiflich zu machen, was Kryptografie ist und was sie bedeutet, aber es stellte sich heraus, dass der typische Berufungsrichter nicht allzu ehrgeizig ist, Studenten vorzuschreiben, welche Art von Artikeln sie schreiben dürfen und welche nicht. Die Krypto-Kriege endeten mit einem Sieg der Guten, als der 9th Circuit Appellate Division Court urteilte, Computercode sei eine Form des Ausdrucks, die vom First Amendment geschützt werde (†œDer Kongress soll kein Gesetz erlassen, das die Redefreiheit einschränkt†). Wenn du schon jemals was im Internet eingekauft hast, eine geheime Nachricht verschickt oder deine Kontoauszüge online angeguckt, dann hast du Verschlüsselung verwendet, die die EFF legalisiert hat.
Auch gut zu wissen: Die NSA ist nicht unendlich klug. Alles, was die knacken können, können Terroristen und Mafiosi genauso.

Barbara war eine von den Reportern gewesen, die ihren Ruf auf die Berichterstattung über diesen Fall gründeten. Sie hatte sich darin verbissen, über die San Franciscoer Bürgerrechtsbewegung zu schreiben, und die Gemeinsamkeiten zwischen dem Kampf um die Verfassung in der echten Welt und dem Kampf im Cyberspace erkannt.

Seite 149

Daher begriff sie es. Ich glaube nicht, dass ich meinen Eltern all das Zeug hätte erklären können, aber mit Barbara war es ganz leicht. Sie stellte kluge Fragen über unsere kryptografischen Protokolle und die Sicherheitsmaßnahmen, auf die ich manchmal selbst keine Antwort wusste, und wies auf Schwachstellen in unserem Verfahren hin.

Wir stöpselten die Xbox ein und gingen online. Vom Besprechungszimmer aus waren vier offene Funknetze sichtbar, und ich richtete es so ein, dass wir in unregelmäßigen Abständen zwischen ihnen wechselten. Das begriff sie auch †“ sobald du erst mal im Xnet drin warst, war es genau so wie eine normale Internetverbindung, außer dass einige Sachen etwas langsamer liefen und dass alles anonym und nicht zu verfolgen war.

†œUnd jetzt?†, fragte ich, als wir die Box runterfuhren. Ich hatte mich heiser geredet und ein grässlich übersäuertes Gefühl von all dem Kaffee. Außerdem drückte Ange die ganze Zeit unterm Tisch meine Hand in einer Art und Weise, dass ich nur noch mit ihr weglaufen und ein privates Fleckchen finden wollte, um unsere unvollendete erste Nacht zu Ende zu bringen.

†œJetzt betreibe ich Journalismus. Ihr geht, und ich recherchiere all die Dinge, die ihr mir erzählt habt, und versuche sie möglichst genau zu verifizieren. Ich werde euch zeigen, was ich veröffentlichen werde, und ich werde euch wissen lassen, wann es veröffentlicht wird. Es wäre mir sehr lieb, wenn ihr ab jetzt mit niemandem mehr über die Sache redet, denn ich möchte diesen Scoop und ich möchte sicherstellen, dass ich die Story in trockenen Tüchern habe, bevor sie vor lauter Pressespekulationen und Beeinflussung durch das DHS verwässert wird.

Ich werde das DHS anrufen und um eine Stellungnahme bitten müssen, bevor wir in Druck gehen, aber ich werde das so tun, dass es euch in jeder nur denkbaren Weise schützt. Ich werde euch selbstverständlich auch darüber im Voraus informieren.

Aber eines muss ich jetzt noch sagen: Das ist nun nicht mehr eure Geschichte. Es ist meine. Ihr wart sehr großzügig, sie mir zu überlassen, und ich werde versuchen, mich dafür erkenntlich zu erweisen; aber ihr habt kein Recht, irgendetwas zu streichen, zu ändern oder mich aufzuhalten. Versteht ihr das?†

So genau hatte ich noch nicht darüber nachgedacht, aber jetzt, wo sies sagte, war es nur allzu offensichtlich. Es bedeutete, dass ich eine Rakete gestartet hatte, die ich jetzt nicht mehr zurückrufen konnte. Sie würde an dem Ziel landen, auf das sie abgefeuert wurde, oder sie würde vom Kurs abweichen, aber sie war jetzt in der Luft und konnte nicht mehr von mir beeinflusst werden. Irgendwann in der nächsten Zukunft würde ich aufhören, Marcus zu sein; dann würde ich eine Person des öffentlichen Interesses werden. Ich wäre der Typ, der das DHS verpfiffen hatte.

Ich wäre ein Toter auf Abruf.

Ange musste an etwas Ähnliches gedacht haben, denn ihre Gesichtsfarbe changierte jetzt zwischen Weiß und Grün.

†œJetzt aber nichts wie raus hier†, sagte sie.

Anges Mutter und Schwester waren wieder unterwegs, was die Entscheidung erleichterte, wo wir den Abend verbringen sollten. Die Zeit fürs Abendessen war schon vorbei, aber meine Eltern wussten, dass ich mit Barbara verabredet war, und würden nicht sauer sein, wenn ich spät heimkäme.

Als wir bei ihr ankamen, hatte ich keinerlei Ambitionen, die Xbox einzustöpseln. Für heute hatte ich mehr als genug Xnet gehabt. Alles, woran ich denken konnte, war Ange, Ange, Ange. Leben ohne Ange. Wissen, dass Ange wütend war auf mich. Ange, die womöglich nie mehr mit mir reden würde. Ange, die mich nie wieder küssen würde.

Seite 150

Sie hatte dasselbe gedacht. Ich konnte es in ihren Augen sehen, als wir die Tür zu ihrem Zimmer schlossen und einander anschauten. Ich hatte Hunger nach ihr, die Sorte Hunger nach tagelangem Fasten. Wie man sich nach einem Glas Wasser sehnt, wenn man gerade drei Stunden nonstop Fußball gespielt hat.

Und doch noch ganz anders. Das war mehr. Es war etwas, das ich noch nie gefühlt hatte. Ich wollte sie am Stück essen, mit Haut und Haaren verschlingen.

Bis zu diesem Moment war sie in unserer Beziehung die Sexuelle gewesen. Ich hatte es ihr überlassen, das Tempo vorzugeben und zu kontrollieren. Ich empfand es als unglaublich erotisch, sie nach mir greifen, sie mein Shirt ausziehen, sie mein Gesicht an das ihre heranziehen zu lassen.

Aber heute Nacht konnte ich mich nicht zurückhalten. Und ich wollte mich nicht zurückhalten.

Mit dem Klicken der Tür hinter uns griff ich nach dem Saum ihres T-Shirts und zog; ließ ihr kaum die Zeit, die Arme zu heben, während ich es ihr über den Kopf zerrte. Dann riss ich mir mein Shirt über den Kopf und hörte das Knistern der Baumwolle, als die Nähte platzten.

Ihre Augen leuchteten, ihr Mund war offen, ihr Atem schnell und flach. Meiner ebenfalls, und mein Atem und mein Herz und mein Blut pochten, nein, brüllten in meinen Ohren.

Dem Rest unserer Kleidung widmete ich mich mit demselben Eifer, warf ihn zu den Haufen schmutziger und sauberer Wäsche auf dem Boden. Überall auf dem Bett lagen Bücher und Zettel verstreut, die ich einfach beiseite fegte. Wir landeten auf dem ungemachten Bett, Arme umeinander geschlungen, so fest, als ob wir einander durchdringen wollten. Sie stöhnte in meinen Mund, und ich gab den Ton zurück; ich fühlte ihre Stimme in meinen Stimmbändern vibrieren, ein Gefühl intimer als alles, was ich jemals gefühlt hatte.

Sie machte sich los und langte hinüber zu ihrem Nachttisch, zog die Schublade auf und warf einen weißen Kulturbeutel vor mir aufs Bett. Ich schaute hinein: Kondome †“ Trojans, ein Dutzend spermizide, noch verschweißt. Ich lächelte sie an, sie lächelte zurück, und ich öffnete die Schachtel.

Wie es sein würde, darüber hatte ich seit Jahren nachgedacht. Hundert Mal am Tag hatte ich es mir vorgestellt. Es hatte Tage gegeben, da hatte ich praktisch an nichts anderes gedacht.

Und es war kein Stück so, wie ich es erwartet hatte. Manches daran war besser. Manches war viel schlimmer. Während es andauerte, empfand ich es als eine Ewigkeit. Und hinterher hatte ich das Gefühl, es habe nur einen einzigen Augenblick lang gedauert.

Hinterher fühlte ich mich wie zuvor. Und doch anders. Irgendetwas war anders geworden zwischen uns.

Es war ziemlich schräg. Verschämt zogen wir uns wieder an, stapften durchs Zimmer, vermieden es, dem Blick des Anderen zu begegnen. Ich wickelte das Kondom in ein Kleenex aus einer Schachtel neben dem Bett, trug es ins Bad, umwickelte es mit Klopapier und steckte es tief unten in den Mülleimer.

Als ich zurückkam, saß Ange auf dem Bett und spielte mit ihrer Xbox. Ich setzte mich zaghaft neben sie und nahm sie bei der Hand. Sie wandte mir das Gesicht zu und lächelte. Wir waren beide ausgelaugt und zitterten.

†œDanke†, sagte ich.

Sie sagte kein Wort und drehte mir wieder den Kopf zu. Sie lächelte übers ganze Gesicht, während ihr dicke Tränen über die Wangen liefen.

Ich umarmte sie, und sie klammerte sich fest an mich. †œDu bist ein guter Mensch, Marcus Yallow†, flüsterte sie.

†œDanke.†

Ich wusste darauf nichts zu entgegnen, aber ich erwiderte ihre Umklammerung. Sie weinte nun nicht mehr, aber sie lächelte noch.

Seite 151

Sie wies auf meine Xbox auf dem Boden neben dem Bett. Ich verstand den Wink, nahm sie hoch, stöpselte sie ein und loggte mich ein.

Immer dasselbe: Berge von E-Mail. Die neuen Einträge der Blogs, die ich las, trudelten ein. Und Spam. Oh Mann, bekam ich Spam. Meine schwedische Mailadresse war schon mehrfach von Spammern gehijackt worden, um sie als Antwortadresse für hundertmillionenfach versandte Werbemails zu missbrauchen, und deshalb bekam ich automatische Rückläufer und auch wütende Antworten. Keine Ahnung, wer dahintersteckte †“ ob nun das DHS, um meine Mailbox zu fluten, oder auch nur Leute, die sich einen Spaß erlaubten. Immerhin hatte die Piratenpartei ziemlich gute Filter, und sie gaben jedem, der wollte, 500 Gigabyte Speicherplatz für Mails, also stand nicht zu befürchten, dass mein Postfach demnächst erstickte.

Ich hämmerte auf die Löschtaste und filterte alles raus. Für alles Zeug, das mit meinem öffentlichen Schlüssel verschlüsselt war, hatte ich ein separates Postfach, weil das mit einiger Wahrscheinlichkeit mit dem Xnet zu tun hatte und vertraulich war. Bisher waren die Spammer noch nicht dahintergekommen, dass die Verwendung öffentlicher Schlüssel ihrem Müll einen seriöseren Anstrich geben würde; das funktionierte also noch ganz gut.

Ich hatte ein paar Dutzend verschlüsselte Nachrichten von Leuten in meinem Web of Trust. Ich überflog sie †“ Links zu Videos und Fotos mit neuen Übergriffen des DHS, Horrorgeschichten übers Entkommen um Haaresbreite, Kommentare zu meinen Blog-Texten. Das Übliche.

Dann kam eine, die nur mit meinem öffentlichen Schlüssel verschlüsselt war. Das bedeutete, dass niemand außer mir die Nachricht lesen konnte, aber ich hatte keine Ahnung, wer sie geschrieben hatte. Als Absender stand da †œMasha† †“ das konnte ein Nick sein oder auch ein Realname, ich wusste es nicht.

> M1k3y

> Du kennst mich nicht, aber ich kenne dich.

> Ich wurde an dem Tag festgenommen, an dem die Brücke hochging. Sie befragten mich und kamen zu dem Ergebnis, dass ich unschuldig sei. Sie haben mir einen Job angeboten: Ich sollte ihnen helfen, die Terroristen zu jagen, die meine Nachbarn getötet hatten.

> Damals klang das wie eine gute Idee. Ich habe erst später gemerkt, dass mein eigentlicher Job darin besteht, Kids auszuspionieren, die sich dagegen wehren, dass ihre Stadt in einen Polizeistaat verwandelt wird.

> Ich habe das Xnet am Tag seiner Entstehung infiltriert. Ich bin in deinem Web of Trust. Wenn ich meine Identität preisgeben wollte, könnte ich dir eine Mail von einer Adresse schicken, der du vertraust. Drei Adressen, um genau zu sein. Ich bin so weit drin in deinem Netzwerk, wie das überhaupt nur einer 17-Jährigen möglich ist. Einige der Mails, die du bekommen hast, enthielten sorgfältig ausgewählte Fehlinformationen von mir und meinen Auftraggebern.

> Sie wissen noch nicht, wer du bist, aber sie kommen dir näher. Sie drehen immer mehr Leute auf ihre Seite um. Sie grasen die sozialen Netzwerke ab und machen Kids mithilfe von Drohungen zu Informanten. Mittlerweile arbeiten mehrere hundert Leute im Xnet für das DHS. Ich habe ihre Namen, Nicks und Schlüssel. Die privaten und die öffentlichen.

> Kurz nach dem Start des Xnets haben wir begonnen, ParanoidLinux zu hacken. Bisher haben wir nur kleine, unbedeutende Lücken aufgetan, aber der eigentliche Hack steht unmittelbar bevor. Und sobald wir den haben, bist du tot.

> Ich glaube, es dürfte klar sein, dass ich in Gitmo-an-der-Bay alt und grau werde, wenn meine Auftraggeber herausfinden, dass ich das hier tippe.

> Selbst wenn sie ParanoidLinux nicht knacken:

Seite 152

Es sind schon verseuchte Distros im Umlauf. Bei denen stimmen die Prüfsummen nicht, aber wer außer dir und mir schaut sich schon die Prüfsummen an? Eine Menge Kids sind schon tot, sie wissen es nur noch nicht.

> Das Einzige, worauf meine Auftraggeber jetzt noch warten, ist der beste Zeitpunkt, dich hochgehen zu lassen, damit die Aufmerksamkeit der Medien am größten ist. Und das wird eher früher als später sein, glaub mir.

> Vielleicht fragst du dich jetzt, warum ich dir das erzähle.

> Ich frage es mich übrigens auch.

> So viel steht jedenfalls fest: Ich habe mich anheuern lassen, um Terroristen zu bekämpfen. Stattdessen schnüffle ich Amerikaner aus, die an Dinge glauben, die das DHS nicht mag. Keine Leute, die Brücken sprengen wollen, sondern Demonstranten. Ich kann so nicht weitermachen.

> Du aber auch nicht, ob du es schon weißt oder nicht. Wie gesagt: Es ist nur eine Frage der Zeit, bis du in Ketten auf Treasure Island landest. Es ist nicht mehr †œob†, sondern †œwann†.

> Deshalb bin ich hier durch. Unten in Los Angeles sind ein paar Leute, die sagen, sie können mir Sicherheit bieten, wenn ich raus will.

> Ich will raus.

> Und wenn du willst, nehme ich dich mit. Lieber ein Kämpfer als ein Märtyrer. Wenn du mit mir kommen willst, können wir austüfteln, wie wir gemeinsam siegen können. Ich bin auch so schlau wie du, glaub mir.

> Was meinst du?

> Hier ist mein öffentlicher Schlüssel.

> Masha

Bist du ängstlich und allein, hilft nur rennen oder schrei†™n.

Schon mal gehört? Das ist zwar nicht sonderlich hilfreich, aber zumindest leicht zu befolgen. Ich sprang vom Bett und lief hin und her. Mein Herz wummerte, und mein Blut sang in einer grausamen Parodie dessen, was ich empfunden hatte, als wir heimkamen. Das hier war keine sexuelle Erregung, es war nackte Angst.

†œWas?†, fragte Ange. †œWas ist?†

Ich zeigte nur auf den Monitor auf meiner Seite des Betts. Sie rollte rüber, schnappte sich meine Tastatur und fuhr mit dem Finger übers Touchpad. Sie las schweigend.

Ich lief weiter herum.

†œDas müssen Lügen sein†, sagte sie. †œDas DHS spielt Psychospielchen mit dir.†

Ich sah sie an. Sie biss auf ihre Lippe und sah nicht aus, als ob sie es selbst glaubte.

†œMeinst du?†

†œKlar. Sie können dich nicht erwischen, also versuchen sie es jetzt übers Xnet.†

†œNa sicher.†

Ich setzte mich wieder aufs Bett. Ich atmete wieder hektisch.

†œEntspann dich†, sagte sie. †œEs sind nur Psychospielchen. Hier.† Sie hatte meine Tastatur noch nie von sich aus übernommen, aber jetzt war eine neue Intimität zwischen uns. Sie klickte auf †œAntworten† und schrieb:

> Netter Versuch.

Seite 153

Sie schrieb jetzt auch als M1k3y. Wir waren auf eine andere Art zusammen als zuvor.

†œSignier das. Mal sehen, was sie sagt.†

Ich wusste nicht, ob das die beste Idee war, aber ich hatte keine bessere. Ich signierte und verschlüsselte es mit meinem privaten und Mashas öffentlichem Schlüssel, den sie mitgeschickt hatte.

Die Antwort kam postwendend.

> Ich hatte mir schon gedacht, dass du so was sagen würdest.

> Hier kommt ein Hack, an den du noch nicht gedacht hast. Ich kann Video anonym über DNS tunneln. Hier sind ein paar Links zu Clips, die du dir anschauen solltest, bevor du über mich urteilst. Diese Leute zeichnen sich ständig gegenseitig auf, um sich gegen Hinterhältigkeiten abzusichern. Man kann die völlig einfach dabei ausschnüffeln, wie sie sich gegenseitig ausschnüffeln.

> Masha

Im Anhang war Quellcode für ein kleines Programm, das genau das zu tun schien, was Masha behauptete: Videodaten über das Domain-Name-Service-Protokoll saugen.

Erlaubt mir an dieser Stelle eine kleine Abschweifung, um das zu erklären. Letzten Endes ist jedes Internet-Protokoll nur eine Abfolge von Text, der in einer vorgegebenen Reihenfolge hin- und hergeschickt wird. Es ist ein bisschen so wie mit einem Laster, in den man einen PKW verlädt, in dessen Kofferraum man ein Motorrad packt, auf das man dann ein Fahrrad schnallt, an dem man ein paar Inline-Skates befestigt. Mit dem Unterschied, dass man hier wieder den Truck an den Inlinern festbinden könnte.

Nehmen wir etwa das Simple Mail Transport Protocol, oder SMTP, das dazu benutzt wird, E-Mails zu versenden.

Hier ist eine Beispiel-Konversation zwischen mir und meinem Mailserver, wenn ich eine Nachricht an mich selbst sende:

> HELO littlebrother.com.se

250 mail.pirateparty.org.se Hallo mail.pirateparty.org.se, schön, dich zu sehen.

> MAIL FROM:m1 k3y@littlebrother.com.se

250 2.1.0 mlk3y@littlebrother.com.se… Absender ok

> RCPT TO:m1 k3y@littlebrother.com.se

250 2.1.5 mlk3y@littlebrother.com.se… Empfänger ok

>DATA

354 Nachricht eintippen, beenden mit †œ.† in einer eigenen Zeile

> Bist du ängstlich und allein, hilft nur rennen oder schrei†™n

> .

250 2.0.0 k5SMW0xQ006174 Nachricht zum Versand akzeptiert

>QUIT

221 2.0.0 mail.pirateparty.org.se beendet die Verbindung

Verbindung durch entfernten Teilnehmer beendet.

Die Grammatik dieser Konversation wurde 1982 von Jon Postel definiert, einem der heroischen Gründerväter des Internets, der damals, in der Steinzeit, die wichtigsten Server im Netz unter seinem Schreibtisch an der University of Southern California stehen hatte.

Seite 154

Jetzt mal angenommen, du klinkst einen Mail-Server in eine Instant-Messaging-Session ein. Du könntest eine IM mit dem Inhalt †œHELO littlebrother.com.se† an den Server senden, und er würde antworten mit †œ250 mail.pirateparty.org.se Hallo mail.pirateparty.org.se, schön, dich zu sehen.† Mit anderen Worten: Du hättest dieselbe Konversation via Messenger wie über SMTP. Mit den geeigneten Anpassungen könnte der gesamte Mailserver-Verkehr innerhalb eines Chats ablaufen. Oder innerhalb einer Web-Session. Oder in einem beliebigen anderen Protokoll.

Das nennt man †œTunneling†: Du schleust SMTP durch einen Chat-†Tunnel†. Und wenn du es gern ganz abgedreht hättest, könntest du den Chat noch mal durch SMTP tunneln †“ ein Tunnel im Tunnel.

Tatsächlich ist jedes Internet-Protokoll für solch ein Vorgehen nutzbar. Das ist cool, weil es bedeutet, dass du in einem Netzwerk mit reinem WWW-Zugang deine Mails darüber tunneln kannst; du kannst dein Lieblings-P2P drüber tunneln; und du könntest sogar das Xnet drüber tunneln, das ja seinerseits bereits einen Tunnel für Dutzende Protokolle darstellt.

Domain Name Service ist ein interessantes, steinaltes Internet-Protokoll aus dem Jahr 1983. Es beschreibt die Art und Weise, wie dein Computer den Namen eines anderen Computers (zum Beispiel pirateparty.org.se) in die IP-Adresse auflöst, unter der sich Computer in Wirklichkeit im Netzwerk gegenseitig finden, zum Beispiel 204.11.50.136. Das funktioniert normalerweise wie geschmiert, obwohl das System Millionen beweglicher Teile umfasst †“ jeder Internet-Provider unterhält einen DNS-Server, genau wie die meisten Regierungen und jede Menge privater Anwender. Diese DNS-Kisten unterhalten sich ununterbrochen alle miteinander, stellen einander Anfragen und beantworten sie; und völlig egal, wie abseitig der Name ist, den du aufrufen willst, das System wird ihn in eine Nummer auflösen können.

Vor DNS gab es die HOSTS-Datei. Ob ihrs glaubt oder nicht: Das war ein einzelnes Dokument, das den Namen und die Adresse von jedem einzelnen Computer im Internet enthielt. Jeder Computer hatte eine Kopie davon. Die Datei wurde irgendwann zu umfangreich, um sie noch handhaben zu können; deshalb wurde DNS erfunden, und es lebte auf einem Server unter Jon Postels Schreibtisch. Wenn die Putzkolonne den Stecker rauszog, dann verlor das gesamte Internet seine Fähigkeit, sich selbst zu finden. Ehrlich.

Heute ist an DNS vor allem schick, dass es überall ist. Jedes Netzwerk hat einen eigenen DNS-Server, und all diese Server sind so konfiguriert, dass sie miteinander und mit allen möglichen Leuten überall im Internet Verbindung aufnehmen können.

Masha nun hatte einen Weg gefunden, ein Videostream-System über DNS zu tunneln. Sie teilte das Video in Milliarden von Einzelteilen auf und versteckte jedes einzelne in einer normalen Nachricht an einen DNS-Server. Indem ich ihren Code nutzte, konnte ich das Video in unglaublichem Tempo von all diesen überall im Internet verteilten DNS-Servern wieder zusammenpuzzeln. Das musste in den Netzwerk-Histogrammen bizarr aussehen †“ als ob ich sämtliche Computer-Adressen der ganzen Welt nachschlagen würde.

Aber es hatte zwei Vorteile, die mir auf Anhieb einleuchteten: Ich bekam das Video in rasantem Tempo auf den Schirm †“ kaum hatte ich auf den ersten Link geklickt, hatte ich schon bildschirmfüllende, absolut ruckelfreie Bewegtbilder -, und ich hatte keine Ahnung, wo die Filme gehostet waren. Es war vollkommen anonym.

Den Inhalt des Videos nahm ich zuerst gar nicht zur Kenntnis. Ich war einfach zu überwältigt davon, wie clever dieser Hack war. Videos über DNS streamen? Das war so klug und abseitig, es war regelrecht pervers.

Aber allmählich begriff ich, was ich da sah.

Es war ein Besprechungstisch in einem kleinen Raum mit einem Spiegel an einer Wand. Ich kannte diesen Raum. In diesem Raum hatte ich gesessen, als mich Frau Strenger Haarschnitt dazu brachte, mein Passwort laut auszusprechen.

Seite 155

Um den Tisch herum standen fünf komfortable Stühle, auf denen es sich fünf Personen, alle in DHS-Uniformen, gemütlich gemacht hatten. Ich erkannte Generalmajor Graeme Sutherland, den DHS-Kommandeur für die Bay Area, sowie Strenger Haarschnitt. Die anderen waren mir unbekannt. Sie alle betrachteten einen Videomonitor am Ende des Tischs, auf dem ein unendlich viel vertrauteres Gesicht zu sehen war.

Kurt Rooney war landesweit bekannt als der Chefstratege des Präsidenten, der Mann, der der Partei ihre dritte Amtszeit in Folge gesichert hatte und jetzt stramm auf die vierte zusteuerte. Man nannte ihn auch †œRuppig†, und ich hatte mal eine Reportage darüber gesehen, an welch kurzen Zügeln er seine Mitarbeiter hielt: Er rief sie ständig an, schickte Instant Messages, beobachtete jede ihrer Bewegungen, kontrollierte jeden Schritt. Er war alt, hatte ein zerfurchtes Gesicht, blassgraue Augen, eine flache Nase mit breit ausgestellten Nasenlöchern und dünne Lippen †“ ein Mann, der ständig so aussah, als hätte er gerade einen sehr strengen Geruch in der Nase.

Er war der Mann auf dem Monitor. Er redete, und jeder im Raum war auf den Monitor fixiert, versuchte hektisch mitzutippen und dabei schlau auszusehen.

†œ… sagen, dass sie auf die Behörden wütend sind, aber wir müssen dem Land begreiflich machen, dass sie Terroristen für alles verantwortlich machen müssen, nicht die Regierung. Verstehen Sie mich? Die Nation liebt diese Stadt nicht. Aus ihrer Sicht ist es ein Sodom und Gomorra aus Schwuchteln und Atheisten, die es verdient haben, in der Hölle zu schmoren. Der einzige Grund dafür, dass sich das Land dafür interessiert, was man in San Francisco denkt, ist der glückliche Umstand, dass sie da von irgendwelchen islamischen Terroristen zur Hölle gebombt worden sind.

Diese Xnet-Kinder könnten allmählich nützlich für unsere Zwecke werden. Je radikaler sie werden, desto eher begreift der Rest des Landes, dass die Bedrohungen überall lauern.†

Seine Zuhörer beendeten das Tippen.

†œIch denke, wir können das kontrollieren†, sagte Frau Strenger Harschnitt. †œUnsere Leute im Xnet haben mittlerweile eine Menge Einfluss. Die Mandschurischen Blogger betreiben jeder bis zu fünfzig Blogs, fluten die Chat-Kanäle und verlinken sich gegenseitig. Dabei übernehmen sie die meiste Zeit bloß die Parteilinie, die dieser M1k3y vorgibt, aber sie haben auch schon bewiesen, dass sie radikale Aktionen provozieren können, auch wenn M1k3y gerade auf die Bremse tritt.†

Generalmajor Sutherland nickte. †œUnser Plan war es, sie noch bis etwa einen Monat vor den Midterms im Untergrund zu lassen.† Vermutlich meinte er die Wahlen in der Mitte der Legislaturperiode, nicht meine Prüfungen. †œSoweit war das jedenfalls der ursprüngliche Plan. Aber es klingt so, als ob…†

†œFür die Midterms haben wir andere Planungen†, sagte Rooney. †œEs steht noch nichts Genaues fest, aber Sie alle sollten lieber für den Monat vorher keine Reisen mehr planen. Lassen Sie das Xnet jetzt von der Leine, so schnell Sie können. So lange die moderat sind, sind sie ein Risiko. Sorgen Sie dafür, dass sie radikal sind.†

Das Video brach ab.

Ange und ich saßen auf der Bettkante und starrten den Bildschirm an. Ange langte nach vorn und startete das Video neu. Wir schauten es noch mal an, und beim zweiten Mal war es noch schlimmer.

Ich schob die Tastatur beiseite und stand auf.

†œIch habs so dermaßen satt, Angst haben zu müssen†, sagte ich. †œKomm, wir bringen das hier zu Barbara und lassen sie es veröffentlichen. Stellen wir es alles online. Und dann sollen sie kommen und mich abholen. Zumindest weiß ich dann sicher, was mit mir passiert. Dann hab ich wenigstens wieder ein kleines bisschen Gewissheit in meinem Leben.†

Ange umarmte und streichelte mich beruhigend. †œIch weiß, Baby, ich weiß. Das alles ist furchtbar. Aber du siehst immer nur das Schlechte und vergisst dabei das Gute. Du hast eine Bewegung ins Leben gerufen. Du hast die Idioten im Weißen Haus und die Betrüger in DHS-Uniform überflügelt. Und du hast dich selbst in eine Position gebracht, in der du dafür verantwortlich sein könntest, diese ganze verdammte DHS-Nummer ans Licht zu bringen.

Seite 156

Natürlich sind sie hinter dir her. Ist doch völlig logisch. Hast du das je auch nur einen Moment lang bezweifelt? Ich wusste das die ganze Zeit. Aber denk dran, Marcus, die wissen nicht, wer du bist. Stell dir das doch mal vor: All die vielen Leute, so viel Geld, Waffen und Spione, und du, ein siebzehnjähriger Schüler, du tanzt ihnen immer noch auf der Nase rum. Die wissen nichts von Barbara. Die wissen nichts von Zeb. Du hast sie auf den Straßen von San Francisco gejammt und sie vor den Augen der ganzen Welt gedemütigt. Also hör auf zu jammern, ja? Du bist der Sieger.†

†œTrotzdem sind sie hinter mir her. Du siehst es doch. Und sie werden mich für den Rest meines Lebens wegsperren. Vielleicht nicht mal in den Knast. Ich werde einfach verschwinden, so wie Darryl. Vielleicht noch schlimmer, vielleicht nach Syrien. Warum sollten sie mich in Amerika lassen? Ich bin ein Risiko, solange ich in den USA bin.†

Sie setzte sich neben mir aufs Bett.

†œJa†, sagte sie. †œGenau das.†

†œGenau das.†

†œUnd du weißt auch, was du also tun musst, oder?†

†œWas?†

Sie blickte bedeutungsvoll auf meine Tastatur. Ich konnte sehen, dass ihr Tränen die Wangen herabliefen. †œNein! Du bist wohl nicht bei Trost. Glaubst du wirklich, ich würde mit irgendeiner durchgeknallten Internet-Tante wegrennen? Mit einer Spionin?†

†œHast du ne bessere Idee?†

Ich kickte einen ihrer Wäschestapel in die Gegend. †œMeinetwegen. Na supi. Ich werde noch mal mit ihr reden.†

†œRede mit ihr†, sagte Ange. †œSchreib ihr, dass du mit deiner Freundin verschwinden willst.†

†œWas?†

†œHalt die Klappe, du Depp. Du denkst, du bist in Gefahr? Ja, aber ich doch genauso, Marcus. Mitgefangen, mitgehangen. Wenn du gehst, gehe ich mit.†

Wir setzten uns zusammen schweigend aufs Bett.

†œEs sei denn, du willst mich nicht†, sagte sie schließlich mit kläglicher Stimme.

†œMachst du Witze?†

†œSeh ich so aus, als würde ich Witze machen?†

†œOhne dich würde ich für kein Geld der Welt freiwillig gehen, Ange. Ich hätte es nie gewagt, dich zu fragen; aber du glaubst nicht, was es mir bedeutet, dass du es anbietest.†

Sie lächelte und schubste mir meine Tastatur rüber.

†œMail dieser Masha-Kröte. Mal schauen, was die Braut für uns tun kann.†

Ich mailte ihr, verschlüsselte die Nachricht und wartete auf ihre Antwort. Ange tätschelte mich ein wenig, ich küsste sie und wir knutschten ein bisschen. Das Wissen um die Gefahr und unsere Verabredung, zusammen zu verschwinden †“ all das ließ mich die Peinlichkeiten am Sex vergessen und machte mich spitz wie Hölle.

Wir waren wieder halb nackt, als Mashas Mail eintrudelte.

> Ihr seid zu zweit? Oh Gott, als ob es nicht schon schwierig genug wäre.

> Ich kann mich nicht los machen, außer für ein bisschen Feindaufklärung nach einem großen Xnet-Event. Verstanden?

Seite 157

Meine Hintermänner beobachten mich auf Schritt und Tritt, aber sie lassen mich von der Leine, wenn irgendwas Großes mit Xnettern passiert. Dann werde ich vor Ort eingesetzt.

> Also müsst ihr was Großes anleiern. Da werde ich hingeschickt, und dann hole ich uns beide raus. Uns drei meinetwegen.

> Aber mach schnell, ja? Ich kann dir nicht oft mailen, kapiert? Die beobachten mich. Und sie kommen dir immer näher. Du hast nicht mehr viel Zeit. Wochen? Vielleicht nur noch Tage.

> Ich brauch dich, um selbst rauszukommen. Deshalb tu ich das alles, nur falls du dich wunderst. Ich kann nicht auf eigene Faust verschwinden. Ich brauch ne fette Xnet-Blendgranate. Das ist dein Job. Lass mich nicht im Stich, M1k3y, oder wir sind beide tot. Und deine Freundin auch.

> Masha

Das Klingeln meines Telefons ließ uns beide hochschrecken. Es war meine Mom, die wissen wollte, wann ich heimkommen würde. Ich sagte ihr, ich sei schon unterwegs. Sie erwähnte Barbara mit keinem Wort †“ wir hatten vereinbart, nichts davon am Telefon zu erwähnen. Das war die Idee meines Dads gewesen. Der konnte genauso paranoid sein wie ich.

†œIch muss jetzt los†, sagte ich.

†œUnsere Eltern werden…†

†œIch weiß. Ich hab doch gesehen, was mit meinen Eltern los war, als sie dachten, ich sei tot. Und wenn sie wissen, dass ich ein Flüchtling bin, wird das nicht viel besser sein. Aber lieber ein Flüchtling als ein Gefangener. So seh ich das. Und überhaupt: Sobald wir weg sind, kann Barbara alles veröffentlichen, ohne uns damit in zusätzliche Gefahr zubringen.†

Wir küssten uns an ihrer Zimmertür. Nicht eine dieser heißen, lässigen Nummern wie sonst, wenn wir uns verabschiedeten. Ein süßer Kuss diesmal. Ein langsamer Kuss. Ein Lebewohl-Kuss.

Fahrten in der BART haben was Introspektives. Wenn der Zug hin- und herruckelt und du versuchst, keinen Blickkontakt zu den anderen Fahrgästen herzustellen; wenn du versuchst, nicht all die Plakate für kosmetische Chirurgie, Kautionsvermittler und AIDS-Tests zu lesen; wenn du die Graffiti zu ignorieren versuchst und dir all das Zeug im Teppich lieber nicht zu genau anguckst †“ in diesen Momenten wird dein Geist wirklich gründlich durchgerüttelt und -geschüttelt.

Du ruckelst also hin und her, und dein Gehirn spult all die Dinge ab, die du bislang übersehen hast, zeigt dir all die Filme deines Lebens, in denen du nicht der Held warst, sondern ein Trottel und ein Versager.

In solchen Momenten entwickelt dein Gehirn Theorien wie diese: †œWenn das DHS M1k3y fangen wollte, wäre es dann nicht das Geschickteste, ihn aus seiner Deckung zu locken? Ihn zu einer Panikreaktion in Form eines riesigen öffentlichen Xnet-Events zu veranlassen? Wäre das nicht das Risiko wert, ein kompromittierendes Filmchen an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen?† Dein Gehirn bombardiert dich zwangsläufig mit solchem Zeug, selbst wenn die Zugfahrt nur zwei oder drei Stationen lang dauert. Wenn du dann aussteigst und losläufst, dann nimmt auch dein Blutkreislauf wieder Fahrt auf, und manchmal hilft dir dein Gehirn auch wieder aus deinem Dilemma heraus.

Manchmal liefert dir dein Gehirn nicht nur Probleme, sondern auch die passenden Lösungen. – Fortsetzung Kapitel 18

______________________________________________________________________________________

Hintergründe, Handlung und weitere Informationen zu Little Brother findet ihr unter: Jugendthriller: Little Brother von Cory Doctorow komplett im Netz

Hier handelt es sich um die deutsche Übersetzung von Christian Wöhrl

Little Brother ist unter einem Creative Commons Namensnennung-Keine kommerzielle Nutzung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenzvertrag lizenziert.

Das Original wurde unter: http://craphound.com/littlebrother veröffentlicht.

Little Brother von Cory Doctorow: Kapitel 16

Little Brother

Kapitel 16

Dieses Kapitel ist San Franciscos Booksmith gewidmet, versteckt im legendären Haight-Ashbury-Viertel, nur ein paar Türen hinter Ben and Jerry†™s an eben dieser Ecke Haight und Ashbury. Die Leute von Booksmith wissen genau, wie man eine Autorenlesung veranstalten muss †“ als ich in San Francisco lebte, war ich ständig dort, um unglaubliche Autoren zu hören (William Gibson war unvergesslich). Sie produzieren auch kleine Sammelkarten für jeden Autor †“ ich habe zwei von meinen eigenen Lesungen dort.

Booksmith:
http://thebooksmith.booksense.com 1644 Haight St. San Francisco CA 941 17 USA + 1 415 863 8688

………………………………………………………………………………………………

Zuerst wirkte Mom schockiert, dann wütend, und schließlich gab sie es ganz auf und saß bloß noch mit offenem Mund da, während ich sie durch die Vernehmungen führte, durch mein Einpinkeln, den Sack über meinem Kopf, Darryl. Ich zeigte ihr den Zettel.

†œWarum…?†

Es war alles in diesem einen Wort: All die Vorwürfe, die ich mir während der Nächte machte, jeder Moment, den es mir an Mut mangelte, der Welt zu berichten, worum es wirklich ging, warum ich in Wirklichkeit kämpfte und was das Xnet in Wahrheit inspiriert hatte.

Ich atmete tief durch.

†œSie haben mir gesagt, ich würde ins Gefängnis gehen, wenn ich darüber rede. Nicht nur für ein paar Tage. Für immer. Ich… ich hatte Angst.†

Mom saß eine lange Zeit nur bei mir und sagte kein Wort. Dann: †œUnd was ist mit Darryls Vater?† Genauso gut hätte sie mir eine Stricknadel in die Brust bohren können. Darryls Vater. Er musste glauben, dass Darryl schon lange, lange tot war.

Und war er es etwa nicht? Wenn das DHS dich widerrechtlich drei Monate lang festgehalten hat, lassen sie dich dann überhaupt noch mal raus?

Aber Zeb war rausgekommen. Vielleicht würde Darryl auch rauskommen. Vielleicht konnten ich und das Xnet dabei helfen, Darryl rauszubekommen.

†œIch hab es ihm nicht erzählt.†

Jetzt fing Mom an zu weinen. Das tat sie nicht oft; es war ihre britische Ader. Das machte ihre kleinen hicksenden Schluchzer noch viel schwerer zu ertragen.

†œDu wirst es ihm erzählen†, brachte sie hervor. †œDu musst.†

Ja.†

†œAber zuerst müssen wir es deinem Vater erzählen.†

Dad kam längst nicht mehr zu einer bestimmten Zeit nach Hause. Durch seine Beratungstätigkeit †“ seine Kunden hatten jetzt reichlich Arbeit, seit das DHS sich auf der Halbinsel nach Data-Mining-Startups umsah †“ und die lange Pendelei nach Berkeley kam er irgendwann zwischen sechs Uhr abends und Mitternacht nach Hause.

Heute abend rief Mom ihn an und sagte, er möge †œauf der Stelle† heimkommen. Er entgegnete etwas, und sie wiederholte bloß †œauf der Stelle†.

Als er ankam, hatten wir uns im Wohnzimmer hingesetzt und den Zettel zwischen uns auf den Kaffeetisch gelegt.

Beim zweiten Mal fiel das Erzählen leichter. Das Geheimnis war nicht mehr so drückend. Ich schönte nichts, und ich verheimlichte nichts. Ich redete mir alles von der Seele.

Seite 140

Ich hatte die Phrase schon gehört, aber nie zuvor begriffen, was sie eigentlich bedeutete. Das Geheimnis für mich zu behalten hatte mich beschmutzt, meinen Geist verdorben. Es hatte mich ängstlich und beschämt gemacht. Es hatte mich zu all dem gemacht, was Ange über mich gesagt hatte.

Dad saß die ganze Zeit steif wie ein Amboss da, sein Gesicht wie aus Stein gemeißelt. Als ich ihm den Zettel reichte, las er ihn zwei Mal und legte ihn dann sorgfältig beiseite.

Er schüttelte den Kopf, stand auf und ging zur Haustür.

†œWohin gehst du?†, fragte Mom besorgt.

†œIch muss mal um den Block†, war alles, was er mit brechender Stimme hervorbrachte.

[X]

Wir sahen einander unsicher an, Mom und ich, und warteten auf seine Rückkehr. Ich versuchte mir vorzustellen, was in seinem Kopf vorgehen mochte. Nach den Attentaten war er ein so anderer Mensch geworden, und ich wusste von Mom, dass das, was ihn geändert hatte, die Tage waren, während derer er mich für tot gehalten hatte. Er war zu der Ansicht gelangt, dass die Terroristen seinen Sohn beinahe getötet hatten, und das hatte ihn verrückt gemacht.

Verrückt genug, um alles zu tun, was das DHS von ihm verlangte: sich einzureihen wie ein braves kleines Lamm, sich kontrollieren zu lassen, sich antreiben zu lassen.

Und nun wusste er, dass es das DHS war, das mich gefangen gehalten hatte, dasselbe DHS, das San Franciscos Kinder in Gitmo-an-der-Bay als Geiseln hielt. Es war auch völlig logisch, jetzt, da ich drüber nachdachte. Natürlich musste es Treasure Island sein, wo man mich gefangen gehalten hatte. Was sonst war zehn Minuten Bootsfahrt von San Francisco entfernt?

Als Dad zurückkam, sah er so zorniger aus als jemals zuvor im Leben.

†œDu hättest es mir erzählen müssen!†, polterte er.

Mom stellte sich zwischen ihn und mich. †œDu beschuldigst den Falschen†, sagte sie. †œEs war doch nicht Marcus, der für das Kidnapping und die Einschüchterung verantwortlich war.†

Er schüttelte den Kopf und stampfte. †œIch beschuldige nicht Marcus. Ich weiß nur zu genau, wer hier schuld ist. Ich. Ich und das dumme DHS. Zieht eure Schuhe an und holt eure Mäntel.†

†œWohin gehen wir?†

†œZuerst zu Darryls Vater. Und dann besuchen wir Barbara Stratford.†

Der Name Barbara Stratford sagte mir irgendwas, aber mir fiel nicht ein, was. Mochte sein, dass sie eine alte Freundin meiner Eltern war, aber ich konnte sie nicht einordnen.

Erst mal waren wir jetzt zu Darryls Vater unterwegs. Ich hatte mich nie sehr wohl gefühlt in der Gegenwart des alten Mannes, der Funker bei der Navy gewesen war und seinen Haushalt straff wie auf dem Schiff organisierte. Er hatte Darryl schon Morsecode beigebracht, als der noch ein Kind war, und das hatte ich ziemlich cool gefunden. Das war übrigens einer der Gründe dafür, dass ich wusste, ich konnte Zebs Nachricht trauen. Aber auf jedes coole Ding wie Morsecode kam bei Darryls Vater irgendeine schwachsinnige militärische Disziplinnummer aus anscheinend reinem Selbstzweck †“ zum Beispiel bestand er auf perfektes Bettenbauen und auf zwei Rasuren pro Tag. Das trieb Darryl ziemlich auf die Palme.

Darryls Mutter hatte das auch nicht so dufte gefunden und war zu ihrer Familie nach Minnesota zurückgegangen, als Darryl zehn war; er verbrachte seine Sommer- und Weihnachtsferien dort.

Ich saß hinten im Auto und konnte den Hinterkopf meines Vaters betrachten, während er fuhr. Seine Muskeln im Nacken waren angespannt und waren in steter Bewegung, weil er mit seinen Kiefern mahlte.

Seite 141

Mom behielt ihre Hand auf seinem Arm, aber es war niemand da, der mich tröstete. Wenn ich doch bloß Ange anrufen könnte. Oder Jolu. Oder Van. Naja, vielleicht, wenn dieser Tag rum war.

†œEr muss seinen Sohn innerlich schon beerdigt haben†, sagte Dad, während wir uns auf den Haarnadelkurven hinauf nach Twin Peaks dem Häuschen näherten, in dem Darryl und sein Vater lebten. Es war neblig um Twin Peaks, wie so oft bei Nacht in San Francisco, und das Scheinwerferlicht wurde zu uns zurückreflektiert. In jeder Kurve sah ich die Täler der Stadt tief unter uns, Schüsseln voller glitzernder Lichter, die sich im Nebel bewegten.

†œIst es das?†

†œJa†, sagte ich, †œdas ist es.† Ich war nun monatelang nicht bei Darryl gewesen, aber ich hatte in all den Jahren genug Zeit hier verbracht, um sein Haus auf Anhieb zu erkennen.

Wir drei standen einen ausgedehnten Moment lang ums Auto herum, um zu sehen, wer gehen und an der Tür klingeln würde. Zu meiner eigenen Überraschung war ich es.

Ich klingelte, und wir warteten in angespanntem Schweigen eine Minute lang. Dann klingelte ich erneut. Der Wagen von Darryls Vater stand in der Auffahrt, und wir hatten im Wohnzimmer ein Licht brennen sehen. Gerade wollte ich ein drittes Mal klingeln, als die Tür geöffnet wurde.

†œMarcus?† Ich erkannte Darryls Vater kaum wieder. Unrasiert, in einem Hausmantel und barfuß, mit langen Zehennägeln und roten Augen. Er hatte Gewicht zugelegt, und unter dem kräftigen Soldatenkinn war ein weiches Doppelkinn zu erkennen. Sein dünnes Haar war strähnig und ungepflegt.

†œMr. Glover†, sagte ich. Meine Eltern schoben sich hinter mir zur Tür herein.

†œHallo, Ron†, sagte meine Mutter.

†œRon†, sagte mein Vater.

†œIhr auch? Was ist los?†

†œKönnen wir reinkommen?†

Sein Wohnzimmer sah aus wie eins jener Zimmer, die man in den Nachrichtenmeldungen über verwahrloste Jugendliche sieht, die einen Monat eingeschlossen sind, bevor sie von den Nachbarn gerettet werden: Schachteln für Tiefkühlkost, leere Bierdosen und Saftflaschen, schmutzige Müslischüsseln und stapelweise Zeitungen. Ein Hauch von Katzenpisse hing in der Luft, und Müll knirschte unter unseren Füßen. Selbst ohne die Note von Katzenpisse wäre der Geruch unglaublich gewesen, wie in einem Bahnhofsklo.

Die Couch war mit einem schmuddeligen Laken und ein paar fettig glänzenden Kissen bedeckt, und die Polster waren eingedrückt wie nach vielen Nächten Schlaf.

Wir standen alle für einen langen, schweigsamen Moment da, während dessen Verlegenheit alle anderen Gefühle überlagerte. Darryls Vater sah aus, als wolle er auf der Stelle sterben.

Langsam räumte er dann die Laken vom Sofa, räumte die Stapel schmutzigen Geschirrs von einigen der Sofas und trug sie in die Küche, wo er sie, dem Geräusch nach zu urteilen, auf den Boden fallen ließ.

Vorsichtig setzten wir uns auf die Plätze, die er freigeräumt hatte, dann kam er zurück und setzte sich ebenfalls.

†œEs tut mir Leid†, sagte er undeutlich. †œIch kann euch wirklich keinen Kaffee anbieten. Ich rechne für morgen mit der Lebensmittellieferung, deshalb bin ich ein bisschen knapp…†

†œRon†, sagte mein Vater. †œHör uns bitte zu. Wir haben dir etwas zu erzählen, und es wird nicht leicht sein, es anzuhören.†

Er saß wie eine Statue da, während ich berichtete.

Seite 142

Dann starrte er auf den Zettel, las ihn augenscheinlich, ohne ihn zu begreifen, und las ihn noch einmal. Dann gab er ihn mir zurück.

Er zitterte.

†œEr…†

†œDarryl lebt†, sagte ich. †œDarryl lebt, und er wird auf Treasure Island als Gefangener festgehalten.†

Er presste seine Faust in seinen Mund und gab ein furchterregendes Stöhnen von sich.

†œWir haben eine Freundin†, sagte mein Vater. †œSie schreibt für den ,Bay Guardian†™. Eine investigative Reporterin.†

Daher also kannte ich den Namen. Die kostenlose Wochenzeitung †œGuardian† verlor häufiger ihre Reporter an die größeren Tageszeitungen und ans Internet, aber Barbara Stratford war dort schon seit Ewigkeiten. Ich hatte eine vage Erinnerung an ein Abendessen mit ihr, als ich ein Kind war.

†œWir gehen jetzt zu ihr†, sagte meine Mutter. †œWirst du mit uns kommen, Ron? Wirst du ihr Darryls Geschichte erzählen?†

Er schlug die Hände vors Gesicht und atmete schwer. Dad versuchte ihm die Hand auf die Schulter zu legen, aber Mr. Glover schüttelte sie vehement ab.

†œIch muss mich auf Vordermann bringen†, sagte er. †œGebt mir eine Minute.†

Mr. Glover kam als veränderter Mensch wieder die Treppe herunter. Er hatte sich rasiert und sein Haar zurückgegelt, und er hatte eine makellose Militär-Ausgehuniform mit einer Reihe Abzeichen auf der Brust angezogen. Am Fuß der Treppe blieb er stehen und wies auf die Uniform.

†œIch habe momentan nicht allzu viele saubere Sachen, die vorzeigbar sind. Und das hier schien mir angemessen. Ihr wisst schon, falls sie Fotos machen möchte.†

Er und Dad saßen vorn und ich auf dem Rücksitz hinter ihm. Aus der Nähe roch er ein wenig nach Bier, als ob es durch seine Poren käme.

Als wir in Barbara Stratfords Einfahrt bogen, war es bereits Mitternacht. Sie lebte außerhalb der Stadt, unten in Mountain View, und während wir über die 101 sausten, sprach keiner von uns ein Wort. Die Hightech-Gebäude längs des Highways flitzten an uns vorbei.

Das war eine ganz andere Bay Area als die, in der ich lebte, eher wie das kleinstädtische Amerika, das ich manchmal im Fernsehen sah. Jede Menge Autobahnen und segmentierte Ansammlungen identischer Häuser; Städte, in denen kein einziger Obdachloser seinen Einkaufswagen den Bürgersteig entlang schob †“ hier gab es nicht einmal Bürgersteige!

Mom hatte Barbara Stratford angerufen, während wir darauf warteten, dass Mr. Glover wieder runterkam. Die Journalistin hatte schon geschlafen, aber Mom war so erregt gewesen, dass sie völlig vergessen hatte, sich britisch zu benehmen und peinlich berührt zu sein, sie geweckt zu haben; stattdessen hatte sie ihr nachdrücklich erzählt, dass sie etwas zu besprechen habe und dass es persönlich sein müsse.

Als wir zu Barbara Stratfords Haus hochrollten, war meine erste Assoziation Brady Bunch †“ ein geducktes Ranch-Haus mit Ziegelverblendung und ordentlichem, vollkommen quadratischem Rasen. Die Verblendung hatte ein abstraktes Kachelmuster, und dahinter ragte eine altmodische UHF-TV-Antenne hervor. Wir gingen ums Haus herum zum Eingang und sahen, dass drinnen bereits Licht brannte.

Die Schreiberin öffnete die Tür, bevor wir auch nur eine Chance hatten, den Klingelknopf zu drücken. Sie war etwa so alt wie meine Eltern, mit scharf profilierter Nase und klugen Augen mit vielen Lachfältchen. Sie trug Jeans, die hip genug waren, um auch in einer der Boutiquen auf Valencia Street durchzugehen, und eine weite indische Baumwollbluse, die ihr bis über die Oberschenkel hing.

Seite 143

Ihre kleinen runden Brillengläser blitzten im Licht ihres Korridors.

Sie schenkte uns die Andeutung eines Lächelns.

†œWie ich sehe, seid ihr mit der ganzen Sippe angereist.†

Mom nickte. †œDu wirst gleich verstehen, warum†, sagte sie.

Mr. Glover trat hinter Dad hervor.

†œUnd die Navy habt ihr auch angefordert?†

†œAlles zu seiner Zeit.†

Wir wurden ihr vorgestellt. Sie hatte einen festen Händedruck und langgliedrige Finger.

Ihr Heim war japanisch-minimalistisch eingerichtet mit nur wenigen wohlproportionierten, niedrigen Möbelstücken, großen Tongefäßen mit Bambus, dessen Wedel bis zur Decke ragten, und etwas, das aussah wie großes, verrostetes Bauteil eines Dieselaggregats auf einem polierten Marmorsockel. Ich entschied mich dafür, es zu mögen. Die Fußböden waren altes Holz, gesandet und gebeizt, aber nicht versiegelt, so dass man Risse und Vertiefungen unter dem Firnis sehen konnte. Das mochte ich wirklich sehr, insbesondere, als ich auf Socken darüberlief.

†œIch habe Kaffee aufgesetzt†, sagte sie. †œWer möchte welchen?† Wir hoben alle die Hände. Ich blickte meine Eltern herausfordernd an.

†œOkay†, sagte sie.

Sie verschwand in einem anderen Raum und kam kurz darauf mit einem groben Bambustablett zurück, auf dem eine Zwei-Liter-Thermoskanne und sechs Tassen in sehr präziser Formgebung, aber grobschlächtiger Dekoration standen. Die mochte ich auch.

†œNun denn†, sagte sie, nachdem sie eingeschenkt und verteilt hatte. †œEs ist sehr schön, euch alle mal wieder zu sehen. Marcus, als ich dich letztes Mal gesehen habe, warst du ungefähr sieben Jahre alt. Und wenn ich mich recht erinnere, warst du damals sehr begeistert von deinen neuen Videospielen, die du mir gezeigt hast.†

Ich erinnerte mich daran überhaupt nicht, aber es klang genau nach dem, wofür ich mich mit sieben begeistert hatte. Musste wohl meine Sega Dreamcast gewesen sein.

Sie holte ein Tonbandgerät, einen gelben Block und einen Kugelschreiber und drehte den Stift auf. †œIch bin bereit, anzuhören, was immer ihr mir zu erzählen habt, und ich kann euch versprechen, dass ich alles, was ich höre, vertraulich behandeln werde. Aber ich kann nicht versprechen, dass ich das, was ich höre, irgendwie verwenden werde oder dass es veröffentlicht werden wird.† Die Art, wie sie das sagte, machte mir klar, dass diese Lady meiner Mom, die sie aus dem Bett geklingelt hatte, einen sehr großen Dienst erwies, Freundinnen hin oder her. Berühmte investigative Reporterin musste manchmal ein ganz schöner Scheißjob sein. Wahrscheinlich waren eine Million Leute heiß drauf, dass sie sich ihrer Fälle annahm.

Mom nickte mir zu. Obwohl ich die Story in dieser Nacht schon drei Mal erzählt hatte, ging sie mir dieses Mal nicht so leicht über die Lippen. Das hier war was anderes, als es meinen Eltern zu erzählen. Es war auch was anderes, als es Darryls Vater zu erzählen. Das hier, das würde dem Spiel eine völlig neue Wendung geben.

Ich fing langsam an und beobachtete Barbara dabei, wie sie sich Notizen machte. Ich trank eine ganze Tasse Kaffee nur während der Erklärung, was ARG war und wie ich zum Spielen aus der Schule rauskam. Mom, Dad und Mr. Glover hörten dabei besonders aufmerksam zu. Ich schenkte mir eine zweite Tasse ein und trank sie über dem Bericht unserer Festnahme aus. Als ich mit der kompletten Geschichte durch war, hatte ich die Kanne leer gemacht und hatte Druck auf der Blase wie ein Rennpferd.

Ihr Badezimmer war genauso puristisch wie das Wohnzimmer, und es gab braune Öko-Seife, die wie reiner Schlamm roch.

Seite 144

Ich kam wieder zurück und sah die Augen aller Erwachsenen auf mir ruhen.

Dann erzählte Mr. Glover seine Geschichte. Er konnte nichts darüber berichten, was passiert war, aber er erzählte, dass er ein Veteran sei und sein Sohn ein guter Junge. Er sprach darüber, wie er sich gefühlt hatte, als er annehmen musste, dass sein Sohn tot war, und wie seine Ex-Frau einen Zusammenbruch erlitten hatte und in die Klinik kam. Er weinte ein wenig und schämte sich nicht dafür, wie die Tränen über sein zerfurchtes Gesicht liefen und den Kragen seiner Ausgehuniform benetzten.

Als alles gesagt war, verschwand Barbara in einem anderen Zimmer und kam mit einer Flasche irischem Whiskey zurück. †œEin 15-jähriger Bushmills, im Rum-Fass gelagert†, sagte sie, während sie vier kleine Gläser hinstellte. Keins für mich. †œDieser hier wird seit zehn Jahren nicht mehr verkauft. Ich glaube, dies ist wohl ein angemessener Moment, ihn anzubrechen.†

Sie goss allen ein kleines Gläschen ein, hob ihres, nippte daran und leerte es zur Hälfte. Die anderen taten es ihr nach. Sie tranken nochmals und leerten die Gläser. Sie goss ihnen neu ein.

†œAlso†, begann sie. †œIm Moment kann ich euch folgendes sagen: Ich glaube euch. Nicht nur, weil ich dich kenne, Lillian. Die Story klingt schlüssig und fügt sich in einige andere Gerüchte ein, die mir zugetragen wurden. Aber es wird nicht reichen, mich allein auf euer Wort zu verlassen. Ich werde jeden einzelnen Aspekt dieser Sache recherchieren müssen und jedes kleine Teilchen eures Lebens und eurer Geschichte. Ich muss wissen, ob es irgendetwas gibt, das ihr mir noch nicht erzählt habt und das dazu dienen könnte, euch zu diskreditieren, nachdem diese Sache ans Licht kommt. Ich brauche alles. Es könnte Wochen dauern, bevor ich etwas veröffentlichen kann.

Ihr müsst auch an eure Sicherheit denken und an die Sicherheit dieses Darryl. Wenn er wirklich eine ,Unperson†™ ist, dann könnte jeder Druck, den wir auf das DHS ausüben, dazu führen, dass sie ihn sehr weit weg bringen, zum Beispiel nach Syrien. Sie könnten auch etwas noch viel Schlimmeres tun.† Sie ließ das so in der Luft hängen. Ich wusste, dass sie meinte, sie könnten ihn töten.

†œIch werde jetzt diese Nachricht einscannen. Und ich brauche Fotos von euch beiden, jetzt gleich und später. Wir können noch einen Fotografen rumschicken, aber ich will alles heute Nacht schon möglichst sorgfältig dokumentieren.†

Ich ging mit in ihr Büro, um zu scannen. Ich hatte einen schicken Kleincomputer erwartet, der zur Einrichtung passte, aber tatsächlich war ihr kombiniertes Schlaf- und Arbeitszimmer gerammelt voll mit High-End-Rechnern, großen Flachbildschirmen und einem Monster-Scanner, mit dem man eine ganze Zeitungsseite auf einmal einlesen konnte. Und mit all dem ging sie sehr souverän um. Mit einiger Befriedigung registrierte ich, dass sie mit Paranoid-Linux arbeitete. Diese Lady nahm ihren Job ernst.

Die Computerlüfter sorgten schon für sehr effektive Geräuschunterdrückung, dennoch schloss ich die Tür und trat nah an sie heran.

†œBarbara?†

Ja?†

†œWas Sie vorhin gesagt haben, über Dinge, die geeignet wären, mich zu diskreditieren…†

Ja?†

†œWas ich Ihnen erzähle: Man kann Sie doch nicht zwingen, das jemandem weiterzuerzählen?†

†œTheoretisch schon. Aber sagen wir so: Ich bin schon zwei Mal ins Gefängnis gegangen, statt einen Informanten preiszugeben.†

†œOkay, okay. Gut. Wow. Knast. Wow. Okay.† Ich atmete tief ein. †œSie haben doch schon vom Xnet und von M1k3y gehört?†

Seite 145

Ja, und?†

†œIch bin M1k3y.†

†œOh†, sagte sie. Sie hantierte am Scanner und drehte den Zettel um, um auch die Rückseite einzulesen. Sie scannte mit irgendeiner unglaublich hohen Auflösung, 10.000 dpi oder noch mehr, und am Schirm sah der Scan aus wie der Ausdruck eines Rastertunnelmikroskops.

†œNun, das wirft ein anderes Licht auf die Sache.†

†œJa†, sagte ich. †œSo siehts wohl aus.†

†œUnd deine Eltern wissen nichts davon.†

†œNichts. Und ich bin nicht sicher, ob sies wissen sollten.†

†œDas ist etwas, das du selbst entscheiden musst. Ich muss drüber nachdenken. Kannst du mich im Büro besuchen? Ich würde gern mit dir darüber sprechen, was genau das alles bedeutet.†

†œHaben Sie eine Xbox Universal? Ich würde einen Installer mitbringen.†

†œJa, ich bin sicher, das lässt sich arrangieren. Wenn du kommst, dann sag am Empfang, dass du Mr. Brown bist und mich sprechen möchtest. Dort wissen sie, was das bedeutet. Deine Ankunft wird nirgends registriert, und die Aufzeichnungen dieses Tages aus den Überwachungskameras werden automatisch gelöscht und die Kameras ausgeschaltet, bis du wieder gehst.†

†œWow†, sagte ich. †œSie denken wie ich.†

Sie lächelte und knuffte mich in die Schulter. †œMein Junge, ich bin schon verdammt lange in diesem Spiel. Und bislang habe ich es geschafft, mehr Zeit in Freiheit als hinter Gittern zu verbringen. Paranoia ist meine Freundin.†

Am nächsten Tag hing ich wie ein Zombie in der Schule rum. Ich hatte nur noch drei Stunden Schlaf bekommen, und nicht mal drei Tassen Koffeinschlamm beim Türken hatten mein Gehirn auf Touren bringen können. Das Problem mit Koffein ist, dass man sich zu leicht dran gewöhnt und dann immer höhere Dosen braucht, nur um sein Level zu halten.

Ich hatte in der Nacht darüber gegrübelt, was ich zu tun hatte. Und es war so, wie durch ein Labyrinth mit lauter verzweigten kleinen Gängen zu rennen, die alle gleich aussahen und alle in der gleichen Sackgasse endeten. Wenn ich zu Barbara ging, war es aus für mich. Darauflief es hinaus, ich konnte es drehen und wenden, wie ich wollte.

Als der Schultag vorbei war, wollte ich bloß noch heim und ins Bett kriechen. Aber ich hatte eine Verabredung beim †œBay Guardian† unten am Wasser. Ich hielt meinen Blick auf meine Füße gerichtet, als ich aus dem Tor rauswankte, und als ich in die 24. Straße abbog, lief plötzlich ein zweites Paar Füße neben meinen her. Ich erkannte die Schuhe und blieb stehen.

†œAnge?†

Sie sah so aus, wie ich mich fühlte. Übernächtigt, mit Waschbäraugen und einem traurigen Zug um die Mundwinkel.

†œHi du†, sagte sie. †œÜberraschung. Ich hab mir selbst schulfrei gegeben. Konnte mich sowieso nicht mehr konzentrieren.†

†œÄh.†

†œHalt den Mund und umarm mich, du Idiot.†

Tat ich sofort. Mann, war das gut. Besser als gut. Ich fühlte mich, als hätte ich einen Teil meiner selbst amputiert, und jetzt hätte man ihn wieder angeflickt.

†œIch liebe dich, Marcus Yallow.†

Seite 146

†œIch liebe dich, Angela Carvelli.†

†œOkay†, unterbrach sie. †œIch mochte deinen Blogeintrag darüber, warum du nicht mehr jammst. Kann ich respektieren. Und wie weit bist du mit deiner Suche nach einer Methode, sie zu jammen, ohne dich erwischen zu lassen?†

†œIch gehe grade zu einer Verabredung mit einer investigativen Journalistin, die eine Story darüber drucken will, wie ich in den Knast gekommen bin, wie ich das Xnet ins Leben gerufen habe und wie Darryl vom DHS wider- rechtlich in einem Geheimknast auf Treasure Island gefangen gehalten wird.†

†œOh.† Sie blickte sich kurz um. †œHättest du dir nicht auch was… Ehrgeiziges ausdenken können?†

†œKommst du mit?†

†œIch komm mit, ja. Und wenns dir nichts ausmacht, könntest du mir auf dem Weg dahin auch schon mal alles im Detail erklären.†

Nach all den wiederholten Erzählungen fiel mir diese am leichtesten; während wir zur Potrero Avenue und runter zur 15. Straße liefen, hielt sie meine Hand und drückte sie häufig.

Wir nahmen zu den Büroräumen des †œBay Guardian† hoch immer zwei Treppenstufen auf einmal. Mein Herz wummerte. Ich kam am Empfangstresen an und sagte dem gelangweilten Mädchen dahinter: †œIch bin hier mit Barbara Stratford verabredet. Mein Name ist Mr. Green.†

†œIch nehme an, Sie meinen Mr. Brown?†

†œJa.† Ich errötete. †œMr Brown.†

Sie machte irgendwas an ihrem Computer und sagte dann: †œNehmen Sie Platz. Barbara wird in einer Minute bei Ihnen sein. Kann ich Ihnen irgendetwas anbieten?†

†œKaffee†, sagten wir wie aus einem Mund. Noch ein Grund, Ange zu lieben: Wir waren von derselben Droge abhängig.

Die Rezeptionistin †“ eine hübsche Latina, kaum älter als wir, in Gap-Klamotten so alt, dass sie schon wieder retroschick waren †“ nickte, ging hinaus und kam mit zwei Bechern zurück, die mit dem Logo der Zeitung bedruckt waren.

Wir schlürften still vor uns hin und beobachteten das Kommen und Gehen von Besuchern und Reportern. Endlich kam Barbara auf uns zu. Sie trug ziemlich genau das Gleiche wie in der Nacht zuvor. Stand ihr gut. Sie hob eine Augenbraue, als sie sah, dass ich jemanden mitgebracht hatte.

†œHallo†, sagte ich. †œÄh, das ist…†

†œMs. Brown†, warf Ange ein und streckte ihr die Hand entgegen. Ach klar, unsere Identitäten sollten ja geheim bleiben. †œIch arbeite mit Mr. Green zusammen.† Sie stupste mich mit dem Ellenbogen an.

†œGehen wir also†, sagte Barbara und führte uns in einen Konferenzraum mit langen Glaswänden, deren Jalousien geschlossen waren. Sie legte ein Tablett voller Whole-Foods-Biokekse, einen Digitalrecorder und wieder einen gelben Block auf den Tisch.

†œMöchtest du, dass ich das hier auch aufzeichne?†, fragte sie.

Hatte mir darüber echt noch keine Gedanken gemacht. Mir war klar, dass es nützlich sein könnte, wenn ich nachträglich dementieren wollte, was Barbara gedruckt haben würde. Trotzdem: Wenn ich mich nicht drauf verlassen konnte, dass sie meine Aussagen korrekt behandelte, dann war ich sowieso geliefert.

†œNein, ist schon okay†, sagte ich.

†œNun gut, dann los. Junge Dame, mein Name ist Barbara Stratford, und ich bin eine investigative Reporterin. Ich vermute, dass Sie wissen, warum ich hier bin, und es würde mich interessieren zu erfahren, warum Sie hier sind.†

Seite 147

†œIch arbeite mit Marcus im Xnet. Müssen Sie meinen Namen wissen?†

†œJetzt noch nicht unbedingt†, sagte Barbara. †œSie können anonym bleiben, wenn Sie möchten. Marcus, ich hatte dich gebeten, mir diesen Teil der Geschichte zu erzählen, weil ich wissen muss, wie sie mit der Geschichte über deinen Freund Darryl und den Zettel, den du mir gezeigt hast, zusammenpasst. Ich könnte mir vorstellen, dass sie eine gute Dreingabe wäre: Ich könnte sie als den Ursprung des Xnet darstellen. ,Sie machten sich einen Feind, den sie nie vergessen werden†™, etwas in dieser Art. Aber ehrlich gesagt würde ich diese Story lieber nicht erzählen, wenn es sich irgendwie vermeiden lässt.

Ich hätte viel lieber eine hübsche, saubere Geschichte über das Geheimgefängnis vor unserer Haustür, ohne darauf eingehen zu müssen, inwiefern die Gefangenen dort die Sorte Leute sind, die, kaum draußen, sofort eine Untergrundbewegung ins Leben rufen, um die Regierung zu destabilisieren. Ich bin sicher, das wirst du verstehen.†

Allerdings. Wenn das Xnet ein Teil der Story war, würden manche Leute sagen, seht ihr, solche Typen muss man wegsperren, sonst starten sie einen Aufruhr.

†œEs ist Ihre Show†, sagte ich. †œIch denke, Sie müssen der Welt von Darryl erzählen. Und wenn Sie das tun, dann wird es dem DHS zeigen, dass ich an die Öffentlichkeit gegangen bin, und dann sind sie wieder hinter mir her. Vielleicht finden sie dann auch raus, dass ich mit dem Xnet zu tun habe, und stellen eine Verbindung zu M1k3y her. Schätze mal, was ich damit sagen will, ist, sobald Sie über Darryl schreiben, ist es für mich so oder so vorbei. Damit hab ich meinen Frieden gemacht.†

†œOb du nun als Schaf oder als Lamm gehängt wirst…†, sagte sie. †œGut, das wäre geklärt. Ich möchte, dass ihr beide mir möglichst alles über die Entstehung und den Betrieb des Xnet erzählt, und dann möchte ich eine Vorführung. Wofür benutzt ihr es? Wer benutzt es sonst noch? Wie hat es sich verbreitet? Wer hat die Software geschrieben? Alles.†

†œDas wird ne Weile dauern†, sagte Ange.

†œIch habe eine Weile Zeit†, entgegnete Barbara. Sie trank einen Schluck Kaffee und aß einen Keks. †œDies könnte sich zur wichtigsten Geschichte über den Krieg gegen den Terror entwickeln. Es könnte die Geschichte werden, die die Regierung stürzt. Und so eine Story hat alle denkbare Sorgfalt verdient.† – Fortsetzung Kapitel 17

______________________________________________________________________________________

Hintergründe, Handlung und weitere Informationen zu Little Brother findet ihr unter: Jugendthriller: Little Brother von Cory Doctorow komplett im Netz

Hier handelt es sich um die deutsche Übersetzung von Christian Wöhrl

Little Brother ist unter einem Creative Commons Namensnennung-Keine kommerzielle Nutzung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenzvertrag lizenziert.

Das Original wurde unter: http://craphound.com/littlebrother veröffentlicht.

Little Brother von Cory Doctorow: Kapitel 15

Little Brother

Kapitel 15

Dieses Kapitel ist Chapters/Indigo gewidmet, der nationalen kanadischen Mega-Kette. Ich arbeitete zu der Zeit bei Bakka, der unabhängigen Science-Fiction-Buchhandlung, als Chapters seine erste Filiale in Toronto eröffnete; und es war mir schnell klar, dass da was Großes am Werden war, weil zwei unserer klügsten und bestinformierten Kunden bei uns reinschneiten, um mir zu berichten, dass sie für die Leitung der dortigen Science-Fiction-Abteilung angestellt worden seien. Von Beginn an legte Chapters die Messlatte für eine große Buchhandels-Filiale hoch †“ mit erweiterten Öffnungszeiten, einem freundlichen Café mit vielen Sitzplätzen, Selbstbedienungs-Terminals und einem erstaunlich vielfältigen Sortiment.

Chapters/Indigo:

http://www.chapters.indigo.ca/books/Little-Brother-Cory-Doctorow/9780765319852-item.html

………………………………………………………………………………………………

Ich bloggte über die Pressekonferenz, noch bevor ich die Einladungen an die Presse rausschickte. Es war klar, dass all diese Schreiberlinge mich zu einem Führer oder General oder obersten Guerilla-Kommandeur hochstilisieren wollten, und der beste Weg, dem zu begegnen, schien mir der, sicherzustellen, dass noch eine Menge anderer Xnetter sich dort herumtrieben und Fragen beantworteten.

Dann mailte ich den Presseleuten. Die Reaktionen rangierten von verwirrt bis enthusiastisch †“ nur die Reporterin von Fox war †œempört†, dass ich es wagte, ihr dieses Spielchen aufzunötigen, um in ihrer TV-Show zu erscheinen. Die anderen schienen das für den Beginn einer ziemlich coolen Story zu halten, allerdings brauchten etliche von ihnen eine ganze Menge Support, um sich bei dem Spiel anzumelden.

Ich entschied mich für acht Uhr abends, nach dem Essen. Mom hatte schon länger nachgebohrt, wo ich mich in letzter Zeit abends rumtrieb, bis ich schließlich mit Ange rausgerückt war; seither sah sie mich ständig mit diesem verträumten Blick an, als ob sie sagen wolle, †œoh, mein Kleiner wird langsam gro߆. Sie wollte Ange treffen, und das benutzte ich als Hebel, indem ich versprach, sie am nächsten Abend einmal mitzubringen, wenn ich mit Ange heute †œins Kino gehen† dürfe.

Anges Mom und ihre Schwester waren schon wieder unterwegs †“ sie waren beide keine Stubenfliegen -, so dass ich mit Ange und unseren beiden Xboxen in ihrem Zimmer allein war. Ich stöpselte einen der Monitore neben ihrem Bett aus und hängte meine Xbox dran, damit wir uns beide zugleich einloggen konnten.

Beide Xboxen waren jetzt in Clockwork Plunder eingeloggt und ansonsten untätig. Ich lief nervös auf und ab.

†œSieht aus, als obs gut für uns läuft†, sagte sie, ohne den Blick vom Monitor abzuwenden. †œAuf dem Markt von Patcheye Pete hats jetzt 600 Spieler!† Patcheye Pete hatten wir uns ausgeguckt, weil es vom Dorfplatz aus, wo neue Spieler †œausschlüpften†, der nächstgelegene Markt war. Sofern die Reporter nicht schon Clockwork Plunder spielten (haha), würden sie dort automatisch auftauchen. Deshalb hatte ich in meinem Blogeintrag darum gebeten, dass sich ein paar Leute an der Strecke zwischen Patcheye Pete und dem Ankunftstor aufhalten mögen, um jeden, der wie ein orientierungsloser Reporter aussah, zu Pete weiterzulotsen.

†œWas zum Teufel soll ich denen denn erzählen?†

†œDu beantwortest einfach nur ihre Fragen. Und wenn dir eine Frage nicht passt, ignorier sie. Wird sich schon jemand finden, der sie beantwortet. Alles wird gut.†

†œDas ist Wahnsinn.†

†œDas ist perfekt, Marcus. Wenn du das DHS wirklich drankriegen willst, dann musst du sie piesacken. Wenn du es auf ein direktes Duell ankommen lässt, hast du keine Chance. Deine einzige Waffe ist deine Fähigkeit, sie als Idioten dastehen zu lassen.†

Seite 128

Ich ließ mich aufs Bett fallen, und sie zog meinen Kopf in ihren Schoß und strich mir übers Haar. Vor den Anschlägen hatte ich mit diversen Schnitten experimentiert und meine Haare in den lustigsten Farben getönt, aber seit ich aus dem Knast raus war, war mir das alles unwichtig geworden. Mein Haar war lang und zottelig geworden, und dann war ich ins Bad gegangen, hatte mir die Schere geschnappt und alles rundum auf gut einen Zentimeter Länge getrimmt; das war völlig pflegeleicht, und außerdem war es hilfreich, beim Jammen und RFID-Klonen unauffällig auszusehen.

Ich öffnete die Augen und blickte in ihre großen, braunen Augen hinter der Brille. Sie waren rund, feucht und sehr ausdrucksstark. Sie konnte sie hervorpoppen lassen, um mich zum Lachen zu bringen, sie konnte sie weich und traurig wirken lassen, aber auch träge und schläfrig auf eine Weise, die mich vor Geilheit fast zerfließen ließ.

Und genau das tat sie gerade jetzt.

Ich setzte mich langsam auf und umarmte sie. Sie erwiderte die Umarmung. Wir küssten uns. Sie küsste unglaublich. Ich weiß, ich sagte es schon, aber das kann man nicht oft genug wiederholen. Wir küssten uns ziemlich oft, aber irgendwie hörten wir immer auf, bevor es zu heftig zur Sache ging.

Jetzt wollte ich einen Schritt weiter gehen. Ich fand den Saum ihres T-Shirts und zog. Sie hob ihre Hände übern Kopf und rutschte ein kleines Stück zurück. Ich hatte gewusst, dass sie das tun würde; ich hatte es seit der Nacht im Park gewusst. Vielleicht waren wir deshalb nie weiter gegangen. Ich wusste, ich konnte mich nicht darauf verlassen, dass sie rechtzeitig die Notbremse zog, und das machte mir ein wenig Angst.

Aber dieses Mal hatte ich keine Angst. Die bevorstehende Pressekonferenz, die Querelen mit meinen Eltern, die internationale Aufmerksamkeit, dieses Gefühl, dass es da eine Bewegung gab, die sich über die Stadt ausbreitete wie eine wildgewordene Flipperkugel †“ das alles prickelte auf meiner Haut und ließ mein Herz singen.

Und sie war wunderschön, klug und lustig, und ich verliebte mich mehr und mehr in sie.

Ihr Shirt rutschte heraus, mit einer Biegung ihres Rückens half sie mir, es über ihre Schultern zu ziehen. Dann griff sie hinter sich, hantierte etwas, und ihr BH fiel aufs Bett. Ich konnte sie nur sprachlos, bewegungslos anstarren, und dann griff sie nach meinem Shirt, zerrte es mir über den Kopf und zog mich an sich heran, Brust an nackte Brust.

Wir wälzten uns übers Bett, berührten einander, vernestelten unsere Körper ineinander und stöhnten. Sie bedeckte meine Brust mit Küssen, und ich ihre ebenso. Ich konnte nicht atmen, nicht denken; ich konnte mich nur bewegen und küssen und lecken und berühren.

Dann trauten wir uns noch einen Schritt weiter. Ich knöpfte ihre Jeans auf, sie öffnete meine. Ich zog ihren Reißverschluss auf, sie meinen, dann zog sie mir die Jeans aus und ich ihre. Einen Augenblick später waren wir beide nackt, mit Ausnahme meiner Socken, die ich mit den Zehen abstreifte.

Und genau in diesem Moment erhaschte ich einen Blick auf ihren Wecker, der schon vor langer Zeit auf den Boden gerollt war und uns von dort unten entgegenleuchtete.

†œVerdammt!†, schrie ich. †œEs geht in zwei Minuten los!† Ich konnte es selbst nicht fassen, dass ich im Begriff war, damit aufzuhören, wo ich doch gerade erst damit aufgehört hatte, vorher aufzuhören. Ich mein, hätte man mich gefragt, †œMarcus, du wirst gleich zum allerersten Mal in deinem Leben mit einem Mädchen ins Bett gehen; würde es dich stören, wenn ich im gleichen Raum diese Atombombe zündete?†, dann wäre meine Antwort ein beherztes, eindeutiges †œNEIN† gewesen.

Und doch: Dafür hörten wir auf.

Seite 129

Sie zog mich zu sich heran, mein Gesicht eng an das ihre, und küsste mich, bis ich dachte, gleich ohnmächtig werden zu müssen; dann schnappten wir uns unsere Klamotten, hockten uns mehr oder weniger angezogen hinter unsere Tastaturen und Mäuse und machten uns auf den Weg zu Patcheye Pete.

Die Presseleute konnte man leicht erkennen. Das waren die Anfänger, die ihre Charaktere wie stolpernde Besoffskis spielten, hin- und her-, rauf- und runterwankend versuchten, sich irgendwie zurechtzufinden, und gelegentlich die falsche Taste drückten, was dann dazu führte, dass sie Fremden ihre Ausrüstung ganz oder teilweise zum Tausch anboten oder sie versehentlich umarmten oder traten.

Auch die Xnetter waren leicht zu erkennen. Wir spielten alle Clockwork Plunder, sooft wir etwas Freizeit hatten (oder keine Lust auf Hausaufgaben), und wir hatten ziemlich ausgefuchste Charaktere mit coolen Waffen und Sprengsätzen an den Schlüsseln hinten am Rücken, die jedem eine Ladung verpassen würden, der versuchte, uns die Schlüssel zu mopsen und uns leerlaufen zu lassen.

Als ich auftauchte, erschien eine Systemstatusmeldung M1K3Y HAT PATCHEYE PETE†™S BETRETEN †“ WILLKOMMEN, SWABBIE, HIER GIBT ES GUTE WARE FÜR FETTE BEUTE. Alle Spieler auf dem Monitor erstarrten, dann scharten sie sich um mich. Der Chat explodierte. Ich dachte kurz daran, auf Sprachsteuerung umzuschalten und mir ein Headset zu nehmen, aber angesichts dessen, wie viele Leute hier gleichzeitig zu reden versuchten, wurde mir klar, wie verwirrend das sein würde. Texte waren viel leichter zu erfassen, und dann konnten sie mich auch nicht falsch zitieren (hehe).

Ich hatte die Örtlichkeiten vorher mit Ange ausgekundschaftet †“ es war super, mit ihr zusammen im Spiel loszuziehen, weil wir unsere Figuren gegenseitig aufziehen konnten. Es gab da einen erhöhten Punkt auf einem Stapel von Packungen mit Salzrationen; wenn ich mich dort raufstellte, konnte ich aus jedem Winkel des Marktes gesehen werden.

> Guten Abend und herzlichen Dank Ihnen allen fürs Erscheinen. Mein Name ist M1k3y, und ich bin nicht der Anführer von was-auch-immer. Überall um Sie herum sind andere Xnetter, die ebenso viel wie ich darüber zu sagen haben, warum wir hier sind. Ich benutze das Xnet, weil ich an die Freiheit glaube und an die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika. Ich benutze das Xnet, weil das DHS meine Stadt in einen Polizeistaat verwandelt hat, in dem wir alle terrorismusverdächtig sind. Ich benutze das Xnet, weil ich denke, dass man die Freiheit nicht verteidigen kann, indem man die Bill of Rights zerreißt. Was ich über die Verfassung weiß, habe ich an einer Schule in Kalifornien gelernt, und ich bin aufgewachsen in einem Land, das ich um seiner Freiheit willen liebe.

Wenn ich eine Philosophie habe, dann diese:

> daß, um diese Rechte zu sichern, Regierungen eingesetzt sein müssen, deren volle Gewalten von der Zustimmung der Regierten herkommen; daß zu jeder Zeit, wenn irgend eine Regierungsform zerstörend auf diese Endzwecke einwirkt, das Volk das Recht hat, jene zu ändern oder abzuschaffen, eine neue Regierung einzusetzen, und diese auf solche Grundsätze zu gründen, und deren Gewalten in solcher Form zu ordnen, wie es ihm zu seiner Sicherheit und seinem Glücke am zweckmäßigsten erscheint.

> Ich habe das nicht geschrieben, aber ich glaube daran. Das DHS regiert nicht mit meiner Zustimmung.

> Vielen Dank.

Ich hatte das am Tag zuvor geschrieben und immer wieder Entwürfe mit Ange ausgetauscht. Den Text einzufügen dauerte bloß eine Sekunde, aber jeder im Spiel brauchte einen Moment, um ihn zu lesen. Eine Menge Xnetter jubelten, wilde exaltierte Piraten-Hurras mit emporgereckten Säbeln und Papageien, die ihnen krächzend um die Köpfe flatterten.

Seite 130

Nach und nach verdauten auch die Journalisten das Gelesene. Der Chat raste nur so an uns vorbei, so schnell, dass es kaum zu lesen war; etliche Xnetter schrieben Sachen wie †œAuf gehts†, †œAmerika: Wenn du es nicht liebst, dann verschwinde†, †œWeg mit dem DHS† und †œAmerika raus aus San Francisco†, alles Slogans, die in der Xnet-Blogosphäre angesagt waren.

> M1 k3y, ich bin Priya Rajneesh von der BBC. Sie sagen, sie sind nicht der Führer einer Bewegung, aber würden Sie sagen, dass es eine Bewegung gibt? Nennt sie sich Xnet?

Jede Menge Antworten. Manche Leute sagten nein, es gebe keine Bewegung, andere sagten ja, es gebe eine, und viele Leute kamen mit Vorschlägen dafür, wie sie sich nannte: Xnetter, Kleine Brüder, Kleine Schwestern, und mein persönlicher Favorit, Vereinigte Staaten von Amerika.

Sie liefen zu großer Form auf. Ich kümmerte mich erst mal nicht weiter, sondern überlegte mir eine eigene Antwort. Dann tippte ich

> Ich schätze, das beantwortet Ihre Frage, nicht wahr? Möglicherweise gibt eine oder auch mehrere Bewegungen, und möglicherweise heißen sie Xnet oder auch nicht.

> M1 k3y, ich bin Doug Christensen von der Washington Internet Daily. Was sollte das DHS Ihrer Meinung nach tun, um einen weiteren Anschlag auf San Francisco zu verhindern, wenn das, was sie jetzt tun, nicht erfolgreich ist?

Weiteres Geschnatter. Viele Leute sagten, die Terroristen und die Regierung seien dasselbe †“ entweder wörtlich oder in dem Sinne, dass sie gleichermaßen böse seien. Andere behaupteten, die Regierung wisse, wie man Terroristen fange, bevorzuge aber, es nicht zu tun, weil †œKriegspräsidenten† wiedergewählt würden.

> Ich weiß es nicht

tippte ich schließlich.

> Ich weiß es wirklich nicht. Und ich stelle mir diese Frage wirklich oft, denn ich möchte nicht hochgejagt werden, und ich möchte auch nicht, dass meine Stadt hochgejagt wird. Aber was ich weiß, ist dies: Wenn es der Job des DHS ist, unsere Sicherheit zu gewährleisten, dann versagt es kläglich. All der Budenzauber, den sie hier veranstaltet haben †“ nichts davon würde einen Terroristen davon abhalten, die Brücke ein zweites Mal zu sprengen. Unsere Spuren durch die ganze Stadt verfolgen? Unsere Freiheit beschneiden? Uns dazu bringen, uns gegenseitig zu verdächtigen, und uns gegeneinander ausspielen? Andersdenkende als Verräter beschimpfen? Das Ziel von Terrorismus ist es, uns in Angst zu versetzen. Das DHS versetzt mich in Angst.

> Ich habe keinen Einfluss darauf, was die Terroristen mir antun, aber wenn dies ein freies Land ist, dann sollte ich zumindest ein Mitspracherecht darüber haben, was meine eigenen Polizisten mir antun dürfen. Ich sollte in der Lage sein, sie davon abzuhalten, mich zu terrorisieren.

> Ich weiß, dass das keine gute Antwort ist. Tut mir Leid.

> Was meinen Sie damit, wenn Sie sagen, dass das DHS Terroristen nicht aufhalten könnte? Woher wollen Sie das wissen?

> Wer sind Sie?

> Ich arbeite für den Sydney Morning Herald.

> Ich bin 17 Jahre alt. Und ich bin bestimmt kein Einserschüler oder so was. Und trotzdem habe ich es fertiggebracht, ein Internet aufzubauen, das sie nicht anzapfen können. Ich habe Methoden ausgetüftelt, ihre Personenverfolgungs-Techniken zu manipulieren. Ich kann unschuldige Menschen zu Verdächtigen und schuldige Menschen in ihren Augen zu Unschuldigen machen. Ich könnte Metall in ein Flugzeug schmuggeln oder eine Flugverbots-Liste umgehen. Das alles habe ich herausgefunden, indem ich ins Internet geschaut und darüber nachgedacht habe. Wenn ich das kann, können Terroristen es auch. Man hat uns gesagt, dass man uns unsere Freiheit nimmt, um uns mehr Sicherheit zu geben. Fühlen Sie sich sicher?

Seite 131

> In Australien? Oh, ja doch.

Alle Piraten lachten.

Weitere Journalisten stellten Fragen. Einige waren freundlich, andere feindselig. Wenn ich müde wurde, reichte ich meine Tastatur an Ange weiter und ließ sie für eine Weile M1k3y sein. Ich hatte sowieso nicht mehr das Gefühl, dass M1k3y und ich dieselbe Person waren. M1k3y war ein Jugendlicher, der mit internationalen Journalisten sprach und eine Bewegung inspirierte. Marcus wurde zeitweise der Schule verwiesen, stritt sich mit seinem Dad und fragte sich, ob er gut genug sei für seine rattenscharfe Freundin.

Gegen elf Uhr hatte ich genug. Außerdem würden meine Eltern mich bald daheim erwarten. Ich loggte mich aus dem Spiel aus, Ange ebenso, und dann lagen wir für einen Moment bloß da. Ich nahm ihre Hand in meine, und sie drückte sie fest. Wir umarmten uns.

Sie küsste meinen Nacken und murmelte etwas.

†œWas?†

†œIch sagte, ich liebe dich†, sagte sie. †œSoll ichs dir auch noch mal als Telegramm schicken?†

†œWow.†

†œÜberrascht dich das so sehr?†

†œNein. Hm. Es ist bloß… Ich wollte grade dasselbe sagen.†

†œNa klar†, sagte sie und biss mir in die Nasenspitze.

†œIch hab das bloß noch nie gesagt. Und solche Dinge brauchen etwas Vorlauf.†

†œDu hast es aber immer noch nicht gesagt. Glaub nicht, ich hätte das nicht gemerkt. Wir Mädchen nehmen es mit solchen Dingen sehr genau.†

†œIch liebe dich, Ange Carvelli†, sagte ich.

†œIch liebe dich auch, Marcus Yallow.†

Wir küssten und streichelten einander, mein Atem wurde heftiger und ihrer auch. Da klopfte ihre Mutter an die Tür.

†œAngela, ich denke, es ist an der Zeit, dass dein Freund sich auf den Weg macht, meinst du nicht auch?†

†œJa, Mutter†, sagte sie und schwang eine imaginäre Axt. Während ich meine Socken und Schuhe anzog, murmelte sie: †œSie werden sagen, diese Angela, sie war so ein gutes Mädchen, wer hätte das gedacht, immer war sie hinten im Garten und half ihrer Mutter, indem sie diese Axt schärfte.†

Ich lachte. †œDu glaubst gar nicht, wie gut du es hast. Es ist undenkbar, dass meine Leute uns in meinem Zimmer bis elf Uhr nachts allein lassen würden.†

†œViertel vor zwölf†, sagte sie mit Blick auf die Uhr.

†œMist!†, schrie ich und schnürte meine Schuhe.

†œGeh†, sagte sie, †œrenn und sei frei! Schau in beide Richtungen, bevor du über die Straße gehst! Schreib, wenn du Arbeit findest! Halt bloß nicht noch mal für eine Umarmung an! Wenn du nicht bei zehn draußen bist, dann gibt†™s Ärger, mein Herr. Eins. Zwei. Drei.†

Ich brachte sie zum Schweigen, indem ich aufs Bett hüpfte, auf ihr landete und sie küsste, bis sie mit Zählen aufhörte. Zufrieden mit meinem Sieg stapfte ich mit der Xbox unterm Arm die Treppe runter.

Ihre Mom stand unten an der Treppe. Wir waren uns erst ein paar Mal begegnet. Sie sah wie eine ältere, größere Variante von Ange aus †“ laut Ange war ihr Vater der Kleinere †“ und trug Kontaktlinsen statt Brille.

Seite 132

Sie schien mich vorläufig als einen netten Jungen eingestuft zu haben, und ich wusste das zu schätzen.

†œGute Nacht, Mrs. Carvelli.†

†œGute Nacht, Mr. Yallow.† Das war eins unserer kleinen Rituale, seit ich sie bei unserer ersten Begegnung als Mrs. Carvelli angesprochen hatte.

Ich blieb ein wenig unbeholfen an der Tür stehen.

†œJa?†, fragte sie.

†œÄh, danke, dass ich hier sein darf.†

†œIn unserem Haus sind Sie stets willkommen, junger Mann†, sagte sie.

†œUnd danke für Ange†, sagte ich dann noch und hasste es, wie platt das klang. Aber sie lächelte breit und umarmte mich kurz.

†œSehr gern geschehen†, sagte sie.

Während der ganzen Busfahrt heim dachte ich an die Pressekonferenz, an Ange, die sich nackt mit mir auf ihrem Bett wälzte, und an Anges Mutter, wie sie mich lächelnd nach draußen brachte.

Meine Mom war wach geblieben, um auf mich zu warten. Sie fragte mich nach dem Film, und ich erzählte ihr, was ich mir vorab aus der Besprechung im †œBay Guardian† zurechtgelegt hatte.

Beim Einschlafen dachte ich nochmals an die Pressekonferenz. Ich war wirklich stolz darauf, wie es gelaufen war. Es war sehr cool gewesen, wie all diese Superjournalisten im Spiel aufgetaucht waren, wie sie mir zuhörten und all den Leuten, die an dasselbe glaubten wie ich. Mit einem Lächeln auf den Lippen schlief ich ein.

Ich hätte es besser wissen müssen.

XNET-ANFÜHRER: ICH KÖNNTE METALL IN EIN FLUGZEUG SCHMUGGELN

DAS DHS REGIERT NICHT MIT MEINER ZUSTIMMUNG

XNET-KIDS: USA RAUS AUS SAN FRANCISCO

Und das waren noch die guten Schlagzeilen. Jeder sandte mir Artikel zum Bloggen, aber das war das Letzte, was ich jetzt tun wollte.

Irgendwie hatte ich es vergeigt. Die Presse war zu meiner Pressekonferenz gekommen und hatte den Eindruck gewonnen, dass wir Terroristen oder Terroristennachbildungen seien. Am schlimmsten war die Reporterin von Fox News, die offensichtlich doch noch aufgetaucht war und die uns einen zehnminütigen Kommentar widmete, in dem sie über unseren †œverbrecherischen Verrat† sprach. Ihr Kommentar gipfelte in diesem Abschnitt, der in jedem Nachrichtenkanal, den ich fand, wiederholt wurde:

†œSie sagen, sie haben keinen Namen. Ich habe einen für sie. Nennen wir diese verdorbenen Kinder Kal-Kaida. Sie erledigen die Arbeit der Terroristen an der Heimatfront. Wenn †“ nicht falls, sondern wenn †“ Kalifornien noch einmal angegriffen wird, dann werden diese Kröten ebenso viel Schuld daran haben wie das Haus Saud.†

Führer der Antikriegsbewegung taten uns als Randerscheinung ab. Einer sagte sogar im Fernsehen, er glaube, dass wir eine Erfindung des DHS seien, um die Bewegung in Misskredit zu bringen.

Das DHS hielt eine eigene Pressekonferenz ab, bei der angekündigt wurde, die Sicherheitsmaßnahmen in San Francisco zu verdoppeln. Sie zeigten einen RFID-Kloner und demonstrierten den Einsatz, wobei sie so taten, als ginge es dabei um einen Autodiebstahl, und warnten eindringlich vor jungen Menschen, die sich verdächtig verhielten, insbesondere, wenn man ihre Hände nicht sehen könne.

Seite 133

Sie meinten es ernst. Ich beendete meinen Kerouac-Aufsatz und fing einen Text über den Sommer der Liebe an, den Sommer 1967, als die Antikriegsbewegung und die Hippies in San Francisco zusammenkamen. Die Gründer von Ben and Jerry†™s, selbst alte Hippies, hatten ein Hippie-Museum im Haight gegründet, und es gab noch mehr Archive und Ausstellungen überall in der Stadt.

Aber dorthin zu kommen war nicht einfach. Am Ende der Woche wurde ich bereits durchschnittlich vier Mal täglich gefilzt. Bullen checkten meinen Ausweis und fragten mich, was ich auf der Straße zu tun hätte, wobei sie dem Brief von Chavez über meine Suspendierung immer besondere Aufmerksamkeit schenkten.

Ich hatte Glück. Niemand verhaftete mich. Aber die anderen im Xnet hatten nicht so viel Glück. Jeden Abend verkündete das DHS neue Verhaftungen; †œRädelsführer† und †œMitläufer† des Xnet, Leute, von denen ich noch nie gehört hatte, wurden im Fernsehen vorgeführt, zusammen mit ihren RFID-Sensoren und anderen Gerätschaften, die man bei ihnen gefunden hatte. Das DHS behauptete, diese Leute würden †œNamen nennen† und das Xnet †œbloßstellen†; man erwarte in Kürze weitere Verhaftungen. Der Name †œM1k3y† fiel häufig.

Dad fand das alles toll. Er und ich sahen zusammen die Nachrichten, er mit diebischer Freude, ich im inneren Rückzug, insgeheim halb wahnsinnig werdend. †œDu müsstest mal das Zeug sehen, das sie gegen diese Kids einsetzen werden†, sagte Dad. †œIch habe es schon in Aktion gesehen. Wenn sie eine Handvoll dieser Kids haben, dann gehen sie ihre Buddy-Listen im Messenger und die Kurzwahlen in den Handys durch und suchen nach Namen, die immer wieder mal auftauchen, nach Mustern, und so erwischen sie immer mehr von ihnen. Sie werden das Xnet auseinanderdröseln wie einen alten Pullover.†

Ich sagte Anges Abendessen bei uns ab und verbrachte stattdessen noch mehr Zeit bei ihr. Anges kleine Schwester Tina fing an, mich den †œHausgast† zu nennen, und sagte Sachen wie †œIsst der Hausgast heute mit mir zu Abend?† Ich mochte Tina. Sie interessierte sich eigentlich nur fürs Ausgehen, Feiern und Jungstreffen, aber sie war witzig und völlig vernarrt in Ange. Als wir einmal abends das Geschirr abräumten, trocknete sie ihre Hände ab und sagte beiläufig: †œWeißt du, Marcus, du scheinst ja ein netter Typ zu sein. Meine Schwester ist total in dich verknallt, und ich mag dich auch ganz gern. Aber ich muss dir eins sagen: Wenn du ihr das Herz brichst, dann erwisch ich dich und stülp dir deinen eigenen Hodensack über den Kopf. Und das sieht nicht schön aus.†

Ich versicherte ihr, eher würde ich mir selbst meine Hoden übern Kopf ziehen, als Anges Herz zu brechen, und sie nickte. †œSo lange das mal klar ist.†

†œDeine Schwester ist ein bisschen bekloppt†, sagte ich, als wir wieder auf Anges Bett lagen und Xnet-Blogs lasen.

Viel was sonst machten wir nicht †“ rumgammeln und Xnet lesen.

†œOh, hat sie die Sack-Nummer gebracht? Ich hasse es, wenn sie das macht. Weißt du, sie findet das Wort †œHodensack† einfach klasse. Nimms nicht persönlich.†

Ich küsste sie, und wir lasen weiter.

†œHör mal†, sagte sie. †œDie Polizei rechnet für dieses Wochenende mit vier- bis sechshundert Verhaftungen im Rahmen des, wie sie sagen, bislang größten abgestimmten Einsatzes gegen Xnet-Dissidenten.†

Mir kam das Essen hoch.

†œWir müssen das abbrechen†, sagte ich. †œWeißt du, dass es sogar Leute gibt, die jetzt noch mehr jammen, bloß um zu zeigen, dass sie sich nicht einschüchtern lassen? Ist das nicht völlig bescheuert?†

†œIch find, es ist mutig. Wir können es doch nicht zulassen, dass die uns einschüchtern bis zur Unterwerfung.†

Seite 134

†œWie bitte? Nein, Ange, nein. Wir können nicht zulassen, dass Hunderte von Leuten im Knast enden. Du warst nicht da. Ich schon. Und es ist schlimmer, als du denkst: Es ist sogar schlimmer, als du es dir vorstellen kannst.†

†œAch, ich habe eine ziemlich lebhafte Fantasie.†

†œHör auf damit, ja? Sei doch mal einen Moment ernsthaft. Ich mach das nicht. Ich schicke keine Leute ins Gefängnis. Wenn ich das tue, dann bin ich genau der Typ, für den Van mich hält.†

†œMarcus, ich meine das ernst. Denkst du etwa, diese Jungs wissen nicht, dass sie möglicherweise ins Gefängnis kommen? Hey, die glauben an die Sache. Du glaubst doch auch dran. Du kannst ihnen ruhig zugestehen, dass sie wissen, was sie da tun. Die brauchen dich nicht, um zu entscheiden, welches Risiko sie eingehen können und welches nicht.†

†œEs ist aber meine Verantwortung, weil sie damit aufhören, wenn ich es ihnen sage.†

†œIch dachte, du bist nicht der Anführer?†

†œBin ich auch nicht; natürlich nicht. Aber ich kann nichts dafür, dass sie sich zur Orientierung an mich halten. Und so lange sie das tun, so lange habe ich die Verantwortung, ihnen dabei zu helfen, in Sicherheit zu sein. Das verstehst du doch, oder?†

†œIch verstehe nur, dass du bereit bist, beim ersten Anzeichen von Ärger die Kurve zu kratzen. Und ich glaube, du hast Angst, dass sie dahinterkommen, wer du bist. Ich glaube, du hast um dich selbst Angst.†

†œDas ist nicht fair†, sagte ich, setze mich auf und rückte ein Stück ab von ihr.

†œAch nein? Wer hatte denn fast einen Herzinfarkt, als er glaubte, seine geheime Identität sei enttarnt?†

†œDas war was anderes. Jetzt gehts nicht um mich. Und das weißt du auch. Warum also benimmst du dich so?†

†œWarum benimmst DU dich so? Warum bist DU nicht mehr bereit, der Typ zu sein, der mutig genug war, dies alles anzufangen?†

†œDas hier ist nicht mutig, sondern selbstmörderisch.†

†œBilliges Schülertheater, M1k3y.†

†œNenn mich nicht so!†

†œWas, M1k3y? Warum nicht, M1k3y?†

Ich zog meine Schuhe an, schnappte meine Tasche und ging zu Fuß nach Hause.

> Warum ich nicht mehr jamme

> Ich werde keinem von euch erzählen, was er tun soll, weil ich nicht euer Anführer bin, egal, was die Fox-News glauben.

> Aber ich werde euch erzählen, was ich vorhabe. Wenn ihr denkt, dass es das Richtige ist, dann macht ihr es ja vielleicht auch so.

> Ich jamme nicht. Diese Woche nicht. Vielleicht auch nicht nächste Woche. Nicht, weil ich Angst habe. Sondern weil ich klug genug bin zu wissen, dass ich in Freiheit mehr tun kann als im Knast. Die haben rausgefunden, wie sie unsere Taktik durchkreuzen können, also müssen wir uns eine neue Taktik ausdenken. Es ist mir im Grunde egal, welche Taktik das ist, Hauptsache, sie funktioniert. Es ist dumm, sich schnappen zu lassen. Es ist nur Jamming, wenn ihr damit durchkommt.

> Und es gibt noch einen Grund, nicht zu jammen. Wenn ihr geschnappt werdet, dann könnten sie mit eurer Hilfe eure Freunde schnappen, deren Freunde und die Freunde ihrer Freunde.

Seite 135

Die könnten eure Freunde sogar hopsnehmen, wenn die gar nicht im Xnet sind, weil das DHS sich benimmt wie eine angeschossene Wildsau und es den Typen völlig egal ist, ob sie vielleicht einen Falschen geschnappt haben.

> Ich sage euch nicht, was ihr tun sollt.

> Aber das DHS ist dumm, und wir sind klug. Jammen beweist, dass sie nicht in der Lage sind, Terrorismus zu bekämpfen, weil es beweist, dass sie nicht mal eine Horde Jugendlicher aufhalten können. Wenn ihr geschnappt werdet, dann sieht es so aus, als ob die klüger sind als wir.

> DIE SIND NICHT KLÜGER ALS WIR! Wir sind klüger als die. Lasst uns klug sein. Lasst uns Wege finden, sie zu jammen, egal, wie viele trottelige Schläger sie in unserer Stadt auf Streife schicken.

Ich postete es und ging ins Bett.

Ich vermisste Ange.

Ange und ich sprachen vier Tage lang nicht miteinander, das Wochenende inbegriffen, und dann war es wieder Zeit, in die Schule zu gehen. Eine Million Mal hatte ich sie fast angerufen, eintausend E-Mails und Instant Messages nicht versendet.

Jetzt war ich zurück im Gesellschaftskunde-Kurs, Mrs. Andersen begrüßte mich mit wortreich-sarkastischer Höflichkeit und fragte mich zuckersüß, wie denn mein †œUrlaub† gewesen sei. Ich setzte mich hin und murmelte irgendwas. Dabei konnte ich Charles kichern hören.

In dieser Stunde ging es um Manifest Destiny, den Gedanken, dass Amerikaner dazu auserwählt seien, die ganze Welt zu erobern (zumindest klang es in ihrer Darstellung so), und sie schien mir zu versuchen, mich zu irgendwelchen Reaktionen zu provozieren, um mich wieder rauswerfen zu können.

Ich spürte die Blicke der ganzen Klasse auf mir, und das erinnerte mich an M1k3y und die Leute, die zu ihm aufschauten. Ich hatte es satt, dass man zu mir aufschaute. Ich vermisste Ange.

Ich brachte den Rest des Tages hinter mich, ohne mir irgendwelche Kainszeichen einzuhandeln. Schätzungsweise sagte ich keine acht Worte.

Endlich war es vorbei, und ich sauste zur Tür, zum Tor, raus zur blöden Mission und zu meinem dämlichen Zuhause.

Ich war kaum zum Tor raus, als jemand in mich reinrannte. Es war ein junger Obdachloser, vielleicht mein Alter oder ein bisschen älter. Er trug einen langen, speckigen Mantel, Jeans wie Kartoffelsäcke und verwarzte Turnschuhe, die aussahen wie einmal durch den Häcksler gelaufen. Sein langes Haar hing ihm ins Gesicht, und ein Zottelbart hing ihm bis runter in den Kragen eines völlig verblichenen Strickpullis.

Das alles realisierte ich, während wir nebeneinander auf dem Bürgersteig lagen und die Leute an uns vorbeihasteten und komisch guckten. Sah so aus, als sei er in mich reingerannt, während er Valencia runterhastete, vermutlich von der Last seines Rucksacks gebeugt, der neben ihm auf dem Gehsteig lag, eng bedeckt mit geometrischen Kritzeleien mit Filzstift.

Er setzte sich auf die Knie und wippte vor und zurück, als ob er betrunken war oder seinen Kopf gestoßen hatte.

†œSorry, Kumpel†, sagte er. †œHab dich nicht gesehen. Biste verletzt?† Ich setzte mich ebenfalls auf. Nichts fühlte sich verletzt an.

†œHm, nein, alles okay.†

Er stand auf und lächelte. Seine Zähne waren erschreckend weiß und ebenmäßig, die hätten auch eine Anzeige für eine kieferorthopädische Klinik zieren können.

Seite 136

Er streckte mir seine Hand entgegen, und sein Griff war kräftig und bestimmt.

†œTut mir echt Leid.† Auch seine Stimme war klar und aufgeweckt. Ich hätte erwartet, dass er klang wie einer dieser Besoffenen, die mit sich selbst sprachen, wenn sie nachts durch die Straßen der Mission wankten, aber er klang eher wie ein gut informierter Buchhändler.

†œKein Problem†, sagte ich.

Er streckte nochmals die Hand aus.

†œZeb.†

†œMarcus.†

†œEin Vergnügen, Marcus†, sagte er. †œHoffe, ich renne mal wieder in dich rein!† Lachend schnappte er seinen Rucksack, machte auf dem Absatz kehrt und eilte davon.

Den Rest des Weges nach Hause lief ich wie benebelt vor mich hin. Mom saß am Küchentisch, und wir plauderten über dies und jenes, gerade so, wie wir es immer getan hatten, bevor sich alles änderte.

Ich ging rauf in mein Zimmer und ließ mich in meinen Stuhl fallen. Ausnahmsweise hatte ich keine Lust, mich ins Xnet einzuloggen. Das hatte ich schon heute früh vor der Schule getan und dabei festgestellt, dass mein Blogeintrag eine gigantische Kontroverse ausgelöst hatte zwischen Leuten, die sich meiner Meinung anschlossen, und anderen, die ernsthaft angepisst waren davon, dass ich ihnen sagte, sie sollten ihren Lieblingssport aufgeben.

Hier lagen noch dreitausend Projekte rum aus der Zeit, bevor das alles angefangen hatte. Ich war dabei, eine Lochkamera aus Legos zu bauen, und ich hatte ein bisschen mit Lenkdrachen-Luftbildfotografie rumgespielt, indem ich eine alte Digitalkamera mit einem Auslöser aus Hüpfknete getunt hatte, der sich beim Start des Drachens ausdehnte, langsam zu seiner alten Form zurückfand und dabei die Kamera in gleichmäßigen Abständen auslöste. Außerdem war da noch ein Vakuum-Röhrenverstärker, den ich in eine prähistorische, verrostete und verbeulte Olivenöl-Dose eingebaut hatte †“ sobald das erledigt war, wollte ich eine Docking-Station für mein Handy einbauen und das Ganze um ein Set von 5.1-Surround-Boxen aus Tunfischdosen erweitern.

Ich schaute über meine Arbeitsplatte und griff mir schließlich die Lochkamera. Gewissenhaft Legos ineinanderzustecken war heute genau mein Tempo.

Ich nahm meine Uhr ab, ebenso den klobigen silbernen Zwei-Finger-Ring, der einen Affen und einen Ninja in Zweikampfbereitschaft zeigte, und ließ beides in die kleine Kiste fallen, die ich für das ganze Zeug benutzte, das ich jeden Tag in die Taschen und um den Hals packe, bevor ich das Haus verlasse: Handy, Brieftasche, Schlüssel, WLAN-Finder, Kleingeld, Akkus, aufrollbare Kabel,… ich ließ alles ins Kistchen ploppen und merkte plötzlich, dass ich etwas in der Hand hielt, das ich nicht in meine Tasche gesteckt hatte.

Es war ein Stück Papier, grau und weich wie Flanell, ausgefasert an den Kanten, wo es aus einem größeren Stück Papier herausgerissen worden war. Es war übersät mit der kleinsten, sorgfältigsten Handschrift, die ich je gesehen hatte. Ich faltete es auf und nahm es hoch. Das Geschriebene bedeckte beide Seiten, ohne Unterbrechung von der linken oberen Ecke bis zu einer kaum lesbaren Unterschrift rechts unten auf der anderen Seite.

Die Unterschrift lautete einfach Zeb.
Ich nahm den Zettel und begann zu lesen.

Seite 137

Lieber Marcus

Du kennst mich nicht, aber ich kenne dich. Die letzten drei Monate, seit die Bay Bridge hochgejagt wurde, wurde ich aufTreasure Island gefangen gehalten. Ich war an dem Tag im Hof, an dem du mit dem asiatischen Mädchen sprachst und in die Mangel genommen wurdest. Du warst mutig. Respekt.

Ich hatte am folgenden Tag einen Blinddarmdurchbruch und kam in die Krankenstation. Im nächsten Bett lag ein Typ namens Darryl. Wir waren beide eine ganze Weile in Rekonvaleszenz, und als wir irgendwann wieder gesund waren, wäre es allzu lästig geworden, uns laufen zu lassen.

Also entschieden sie, dass wir wirklich schuldig sein müssten. Sie befragten uns jeden Tag. Du kennst ihre Befragungen, das weiß ich. Stell dir dasselbe monatelang vor. Darryl und ich waren irgendwann Zellengenossen. Wir wussten, dass sie uns verwanzt hatten, also redeten wir nur über belangloses Zeug. Aber nachts auf unseren Pritschen haben wir uns leise Nachrichten mit Morse-Code zugeklopft (ich wusste es immer, dass meine Amateurfunkerei irgendwann mal zu etwas gut ist).

Zuerst waren ihre Fragen an uns derselbe Dreck wie immer †“ wer war es, wie haben sie es getan. Aber ein bisschen später haben sie dann angefangen, uns über das Xnet zu befragen. Natürlich hatten wir davon noch nie was gehört. Aber das hielt sie nicht vom Fragen ab.

Darryl erzählte mir, dass sie ihm RFID-Kloner, Xboxen und alles mögliche Technikzeug brachten und von ihm verlangten, dass er ihnen erzählte, wer das benutzte und wo sie lernen würden, das Zeug zu tunen. Darryl hat mir von euren Spielen erzählt und davon, was ihr dabei alles gelernt habt.

Insbesondere hat das DHS uns über unsere Freunde ausgefragt. Wen kannten wir? Wie waren sie so? Hatten sie politische Ansichten? Hatten sie Ärger in der Schule oder mit dem Gesetz?

Wir nennen den Knast Gitmo-an-der-Bay. Ich bin jetzt seit einer Woche draußen, und ich glaube nicht, dass hier irgendjemand eine Ahnung hat, dass ihre Söhne und Töchter mitten in der Bay gefangen gehalten werden. Nachts konnten wir sogar die Leute auf dem Festland lachen und feiern hören.

Letzte Woche bin ich rausgekommen. Ich erzähl dir nicht, wie, falls das hier in die falschen Hände gerät. Mögen andere meiner Route folgen.

Darryl hat mir erzählt, wie ich dich finde, und ich musste ihm versprechen, dir alles zu berichten, was ich weiß. Jetzt, da ich das getan habe, bin ich nix wie weg hier. Ich werde einen Weg finden, dieses Land zu verlassen. Scheiß auf Amerika.

Bleib stark. Die haben Angst vor dir. Tritt sie von mir. Lass dich nicht erwischen.

Zeb

Als ich mit der Nachricht fertig war, hatte ich Tränen in den Augen. Irgendwo auf meinem Schreibtisch hatte ich ein Einwegfeuerzeug, das ich manchmal benutzte, um die Isolierung von Kabeln abzuschmelzen, und ich kramte es hervor und hielt es an den Zettel. Ich wusste, ich schuldete es Zeb, ihn zu zerstören, um sicherzugehen, dass niemand sonst ihn jemals finden würde, um sie nicht auf seine Spur zu führen, wohin immer er jetzt ging.

Ich hielt die Flamme und den Zettel, aber ich brachte es nicht über mich.

Darryl.

Über all dem Zeugs mit dem Xnet und Ange und dem DHS hatte ich fast vergessen, dass es ihn gab. Er war zu einem Geist geworden, wie ein Jugendfreund, der jetzt weggezogen oder auf einem Austauschprogramm war. Und diese ganze Zeit hatten sie ihn befragt, von ihm verlangt, dass er mich verrate, das Xnet erkläre und die Jammerei. Er war also auf Treasure Island, dem verlassenen Militärstützpunkt eine halbe Länge der zerstörten Bay Bridge entfernt. Er war all die Zeit so nah gewesen, dass ich zu ihm hätte hinschwimmen können.

Ich legte das Feuerzeug wieder weg und las den Zettel nochmals. Bis ich damit durch war, weinte und schluchzte ich hemmungslos.

Seite 138

Es kam alles zurück, die Lady mit dem strengen Haarschnitt, ihre Fragen, der Geruch von Pisse und die Steifigkeit meiner Hose, als der Urin darin langsam trocknete.

†œMarcus?†

Meine Tür stand offen, und darin stand meine Mutter, einen besorgten Ausdruck im Gesicht. Wie lange mochte sie dort schon gestanden haben?

Ich wischte mir die Tränen weg und zog die Nase hoch. †œMom†, sagte ich. †œHi.†

Sie kam zu mir ins Zimmer und nahm mich in den Arm. †œWas ist los? Möchtest du drüber sprechen?†

Die Nachricht lag auf dem Tisch. †œIst das von deiner Freundin? Ist alles in Ordnung?†

Sie hatte mir ein Hintertürchen geöffnet. Ich hätte es einfach alles auf Probleme mit Ange abwälzen können, und sie wäre aus meinem Zimmer verschwunden und hätte mich allein gelassen. Ich öffnete den Mund, um genau das zu sagen, und dann sagte ich stattdessen:

†œIch war im Gefängnis. Als sie die Brücke gesprengt hatten. Ich war die ganze Zeit im Knast.†

Die Schluchzer, die dann kamen, klangen kein Stück wie meine Stimme. Sie klangen wie die Stimme eines Tiers, eines Esels vielleicht oder einer großen Katze in der Nacht. Ich schluchzte, dass meine Kehle brannte und meine Brust bebte.

Mom nahm mich in ihre Arme, genau so, wie sie es früher getan hatte, als ich ein kleiner Junge war; und dann streichelte sie mein Haar, murmelte mir etwas ins Ohr und wiegte mich hin und her, und langsam, ganz langsam, ließ das Schluchzen nach.

Ich holte einmal tief Luft, und Mom holte mir ein Glas Wasser. Ich setzte mich auf meine Bettkante, und sie setzte sich auf meinen Schreibtischstuhl, und dann erzählte ich ihr alles.

Alles.

Naja, fast alles. – Fortsetzung Kapitel 16

______________________________________________________________________________________

Hintergründe, Handlung und weitere Informationen zu Little Brother findet ihr unter: Jugendthriller: Little Brother von Cory Doctorow komplett im Netz

Hier handelt es sich um die deutsche Übersetzung von Christian Wöhrl

Little Brother ist unter einem Creative Commons Namensnennung-Keine kommerzielle Nutzung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenzvertrag lizenziert.

Das Original wurde unter: http://craphound.com/littlebrother veröffentlicht.

Little Brother von Cory Doctorow: Kapitel 14

Little Brother

Kapitel 14

Dieses Kapitel ist der unvergleichlichen Mysterious Galaxy in San Diego, Kalifornien gewidmet. Die Leute von Mysterious Galaxy laden mich jedes Mal zu einer Signierstunde ein, wenn ich zu einer Konferenz oder zum Unterrichten in San Diego bin (an der San Diego State University im nahen La Jolla, CA findet der Clarion Writers†™ Workshop statt), und jedes Mal ist die Bude gerammelt voll. Dieser Laden hat eine treue Kundschaft aus Hardcore-Fans, die sich drauf verlassen können, dort hervorragende Empfehlungen und Ideen zu bekommen. Im Sommer 2007 nahm ich meinen Autoren-Kurs bei Clarion zum mitternächtlichen Erstverkauf des letzten Harry Potter in die Buchhandlung mit, und ich habe niemals sonst eine so ausgelassene, unglaublich lustige Party in einem Geschäft erlebt.

Mysterious Galaxy:

http://mysteriousgalaxy.booksense.com/NASApp/store/Product?s=showproduct&isbn=9780765319852

7051 Clairemont Mesa Blvd., Suite #302 San Diego, CA USA 92111 +1 858 268 4747

………………………………………………………………………………………………

Das Xnet machte tagsüber keinen Spaß, wenn alle regelmäßigen Benutzer in der Schule waren. Ich hatte den Schrieb zusammengefaltet und in die hintere Jeanstasche gesteckt, und als ich heimkam, warf ich ihn auf den Küchentisch. Dann setzte ich mich ins Wohnzimmer und schaltete die Glotze ein. Ich sah nie Fernsehen, aber ich wusste, dass meine Eltern es taten. Fernsehen, Radio und Zeitungen waren es, wo sie ihre Ideen über die Welt her hatten.

Die Nachrichten waren fürchterlich. Es gab so viele Gründe, Angst zu haben. Amerikanische Soldaten starben überall auf der Welt. Und im Übrigen nicht bloß Soldaten. Auch Nationalgardisten, die sich vermutlich gemeldet hatten, um nach Wirbelstürmen Menschenleben zu retten, und die jetzt auf Jahre hinaus für einen endlos langen Krieg in Übersee stationiert waren.

Ich zappte durch die Nachrichtensender, einen nach dem anderen, und sah eine Parade von Würdenträgern, die uns erzählten, warum wir Angst haben sollten, und eine Parade von Fotos von Bomben, die überall auf der Welt hochgingen.

Ich zappte weiter und sah plötzlich ein vertrautes Gesicht. Es war der Typ, der damals in den Truck gekommen war und mit Frau Strenger Haarschnitt gesprochen hatte, während ich hinten angekettet war. Der in der Militäruniform. Die Unterschrift wies ihn aus als Major General Graeme Sutherland, Regional Commander, DHS.

†œHier in meinen Händen halte ich Literatur, die bei dem angeblichen Konzert in Dolores Park am vergangenen Wochenende angeboten wurde.† Er hielt einen Stapel Pamphlete hoch. Ich erinnerte mich, dort viele Leute mit Handzetteln gesehen zu haben. Sobald sich in San Francisco eine Gruppe von Menschen traf, waren auch Handzettel dabei.

†œBitte schauen Sie sich das einen Moment an. Ich lese mal die Titel vor. OHNE ZUSTIMMUNG DER REGIERTEN: EIN BÜRGERLEITFADEN ZUM UMSTURZ DES STAATES. Nehmen wir den hier: SIND DIE ANSCHLÄGE VOM 11. SEPTEMBER WIRKLICH PASSIERT? Und noch einer: WIE MAN IHRE SICHERHEITSMAßNAHMEN GEGEN SIE WENDET. Diese Literatur zeigt uns, wobei es bei der illegalen Zusammenrottung Samstagnacht wirklich ging. Es war nicht bloß eine unsichere Versammlung von Tausenden Leuten ohne entsprechende Vorkehrungen oder auch bloß Toiletten. Es war eine Rekrutierungsveranstaltung für den Feind. Es war der Versuch, Kindern missbräuchlich die Idee einzuimpfen, dass Amerika sich nicht mehr selbst verteidigen sollte.

Nehmen Sie diesen Slogan, TRAU KEINEM ÜBER 25. Wie könnte man besser gewährleisten, dass keine umsichtige, ausgewogene Diskussion erwachsener Menschen deiner Pro-Terroristen-Botschaft in die Quere kommt, als Erwachsene von vornherein auszuschließen und die Gruppe auf leicht beeinflussbare junge Menschen zu begrenzen?

Seite 118

Als die Polizei am Ort des Geschehens erschien, fand sie eine Rekrutierungsveranstaltung für die Feinde Amerikas in vollem Gange. Die Versammlung hatte bereits die Nachtruhe von Hunderten Anwohnern gestört, von denen keiner im Vorfeld in die Planung dieser nächtlichen Rave-Party einbezogen worden war.

Die Polizisten forderten diese Leute auf, sich zu zerstreuen †“ das ist auf allen Videos zu sehen -, und als das Partyvolk sie angriff, von den Musikern auf der Bühne aufgestachelt, setzte die Polizei nicht-tödliche Massenkontroll-Techniken ein, um sie unter Kontrolle zu bringen.

Die Festgenommenen waren Rädelsführer und Provokateure, die Tausende beeinflussbarer junger Menschen dazu brachten, die Polizisten anzugreifen. 827 von ihnen wurden in Gewahrsam genommen. Viele von diesen Leuten waren schon früher straffällig geworden. Gegen mehr als hundert lagen bereits Haftbefehle vor. Sie sind nach wie vor inhaftiert.

Meine Damen und Herren, Amerika führt einen Krieg an vielen Fronten, aber unser Land ist nirgends stärker gefährdet als hier in der Heimat. Sei es, dass wir von Terroristen angegriffen werden oder von jenen, die mit ihnen sympathisieren.†

Ein Reporter hob die Hand und fragte: †œGeneral Sutherland, sie wollen doch sicherlich nicht behaupten, dass diese Kinder, bloß weil sie eine Party im Park besucht haben, Terror-Sympathisanten sind?†

†œNatürlich nicht. Aber wenn junge Menschen unter den Einfluss der Feinde unseres Landes geraten, wächst ihnen so eine Sache schnell über den Kopf. Terroristen würden liebend gern eine fünfte Kolonne rekrutieren, die für sie den Krieg an der Heimatfront führt. Wären dies meine Kinder, ich würde mir ernsthaft Sorgen machen.†

Ein anderer Reporter griff den Faden auf. †œAber wir reden hier lediglich von einem Open-Air-Konzert, General. Es fand wohl kaum Drill mit Gewehren statt.†

Der General holte einen Stoß Fotos hervor und begann sie emporzuhalten. †œDies sind Fotos, die Beamte mit Infrarot-Kameras aufgenommen haben, bevor sie dort vorrückten.† Er hob sie zu seinem Gesicht empor und blätterte eins nach dem anderen auf. Es waren wild tanzende Menschen zu sehen, so wild, dass sie andere umrempelten oder auf sie traten. Dann folgten Sex-Szenen bei den Bäumen, ein Mädchen mit drei Typen, zwei knutschende Jungs. †œBei diesem Event waren Kinder anwesend, die teilweise nicht älter als zehn Jahre waren. Ein tödlicher Cocktail aus Drogen, Propaganda und Musik hat zu Dutzenden Verletzten geführt. Es grenzt an ein Wunder, dass keine Toten zu beklagen sind.†

Ich schaltete den Fernseher aus. Sie stellten es dar, als wäre es ein Aufstand gewesen. Wenn meine Eltern ahnten, dass ich auch dort war, würden sie mich einen Monat lang ans Bett binden und mich hinterher nur noch mit einem Funkhalsband wieder rauslassen.

A propos: sie würden ziemlich angepisst sein, wenn sie rausfanden, dass ich freigestellt war.

Sie nahmen es jedenfalls nicht gut auf. Dad wollte mich zur Schnecke machen, aber Mom und ich konnten es ihm noch ausreden.

†œDu weißt genau, dass dieser Konrektor es schon seit Jahren auf Marcus abgesehen hat†, sagte Mom. †œAls wir ihn das letzte Mal sprachen, hast du hinterher eine Stunde lang über ihn geflucht. Ich erinnere mich, dass mehrfach das Wort ,Arschloch†™ gefallen ist.†

Dad schüttelte den Kopf. †œDen Unterricht zu unterbrechen, um gegen die Heimatschutzbehörde zu wettern…†

†œEs ist ein Gesellschaftskunde-Kurs, Dad.† Mir war mittlerweile alles egal, aber ich fand, wenn mir Mom schon in die Bresche sprang, dann sollte ich sie nicht hängen lassen. †œWir haben über das DHS gesprochen. Ist Diskutieren denn nichts Gutes mehr?†

†œHör mal, Sohn†, sagte er. In letzter Zeit sagte er viel zu oft †œSohn† zu mir.

Seite 119

Fühlte sich an, als ob er aufgehört hätte, mich als Person zu betrachten, und mich stattdessen als so ne Art halbfertige Larve sah, die Führung und Anleitung beim Entpuppen brauchte. Ich hasste das. †œDu wirst dich endlich an die Tatsache gewöhnen müssen, dass wir heute in einer veränderten Welt leben. Du hast selbstverständlich immer noch das Recht, deine Meinung zu äußern, aber du musst bereit sein, die Konsequenzen daraus zu tragen. Du musst endlich begreifen, dass es da draußen Leute gibt, die leiden und die nicht gewillt sind, die Feinheiten des Verfassungsrechts zu diskutieren, während ihr Leben bedroht ist. Wir sitzen jetzt im Rettungsboot, und wenn man im Rettungsboot sitzt, will niemand was darüber hören, wie gemein der Käptn ist.†

Viel fehlte nicht, und ich hätte mit den Augen gerollt.

†œNa, jedenfalls habe ich die Aufgabe, zwei Wochen lang unabhängig Studien zu treiben und in jedem Fach einen Aufsatz zu schreiben, der die Stadt als Hintergrund hat †“ einen Aufsatz in Geschichte, einen in Gesellschaftskunde, einen in Englisch und einen in Physik. Ist allemal besser, als tagsüber vor der Glotze zu hängen.†

Dad sah mich prüfend an, als erwarte er, dass ich auf irgendwas hinauswolle, dann nickte er. Ich sagte ihnen Gute Nacht und verzog mich in mein Zimmer. Dort warf ich die Xbox an, startete eine Textverarbeitung und fing an, Ideen für meine Aufsätze zu sammeln. Warum auch nicht? Das war wirklich besser, als bloß daheim herumzusitzen.

Letztlich chattete ich dann die halbe Nacht mit Ange. Sie war voll auf meiner Seite und sagte, sie würde mir bei den Aufsätzen helfen, wenn ich sie nach der Schule am nächsten Abend sehen wolle. Ihre Schule kannte ich †“ es war dieselbe, auf die Van ging -, sie war ganz drüben in der East Bay, wo ich seit den Bombenanschlägen nicht mehr gewesen war.

Der Gedanke, sie wiederzusehen, machte mich ziemlich hibbelig. Seit der Party hatte ich jede Nacht beim Einschlafen an zweierlei gedacht: an den Anblick der Masse, wie sie auf die Polizei zustürmte, und an das Gefühl, dort an dem Pfeiler ihre Brüste unter dem T-Shirt zu spüren. Sie war einfach umwerfend. Ich war noch nie mit einem so… aggressiven Mädchen zusammengewesen. Bisher war immer ich es gewesen, der die Initiative ergriff, um dann zurückgewiesen zu werden. Ich hatte das Gefühl, dass Ange genauso scharf drauf war wie ich, und das war ein quälender Gedanke.

In dieser Nacht schlief ich tief und fest und träumte wildes Zeug von Ange und mir und was wir wohl anstellen würden, wenn wir uns nur an einem abgeschiedenen Fleck fänden.

Am nächsten Tag fing ich mit meinen Aufsätzen an. Über San Francisco kann man phantastisch schreiben. Geschichte? Jede Menge, vom Goldrausch zu den Schiffsdocks im Zweiten Weltkrieg, den Internierungslagern für die japanischstämmige Bevölkerung und der Erfindung des PCs. Physik? Das Exploratorium hat die coolste Austellung von allen Museen, in denen ich je war. Ich empfand eine perverse Befriedigung bei der Darstellung der Verflüssigung des Erdreichs während großer Beben. Englisch? Jack London, die Beat-Poeten, Science-Fiction-Autoren wie Pat Murphy und Rudy Rucker. Gesellschaftskunde? Die Bewegung für Meinungsfreiheit, Cesar Chavez, Schwulenrechte, Feminismus, die Antikriegsbewegung…

Ich fand es schon immer toll, Sachen einfach um ihrer selbst willen zu lernen, mehr zu wissen über die Welt um mich herum. Und dazu genügte es schon, einfach nur in der Stadt herumzulaufen. Ich entschied mich dafür, mit einem Englisch-Aufsatz über die Beatniks zu beginnen. City Lights Books hatte eine großartige Bibliothek in einem Zimmer im Obergeschoss, wo Allen Ginsberg und seine Kumpel ihre radikale Drogenpoesie verfasst hatten. Das eine Gedicht, das wir im Englisch-Kurs gelesen hatten, war Howl (Geheul); und seine ersten Zeilen würde ich niemals vergessen, solche Gänsehaut verursachten sie mir:

Seite 120

/ saw the best minds ofmy generation destroyed by madness, starving hysterical naked,
(Ich sah die besten Köpfe meiner Generation zerstört vom Wahnsinn, ausgezehrt hysterisch nackt,

dragging themselves through the negro streets at dawn lookingfor an angry fix,
wie sie sich durch die Negerstraßen schleppten bei Tagesanbruch auf der Suche nach einer zornigen Spritze,

angelheaded hipsters burningfor the ancient heavenly connection to the starry dynamo in the machinery of night…
engelsköpfige Hipster, sich verzehrend nach jener uralten himmlischen Verbindung zum Sternendynamo in der Maschinerie der Nacht…)

Ich liebte es, wie diese Wörter ineinanderflössen, †œausgezehrt hysterisch nackt†. Ich kannte dieses Gefühl. Und †œdie besten Köpfe meiner Generation† gab mir auch schwer zu denken. Es erinnerte mich an den Park und an die Polizei und daran, wie das Gas fiel. Man klagte Ginsberg für Howl wegen Obszönität an †“ wegen einer Zeile über Homo-Sex, deretwegen heute niemand mehr mit der Wimper zucken würde. Irgendwie stimmte es mich fröhlich zu wissen, dass wir doch irgendwelche Fortschritte gemacht hatten, dass frühere Zeiten noch viel restriktiver gewesen waren als diese.

In der Bibliothek vergaß ich alles um mich herum, während ich die wunderschönen alten Ausgaben dieser Bücher las. Ich verlor mich in Jack Kerouacs †œOn the Road†, einen Roman, den ich schon lange lesen wollte, und ein Angestellter, der nachschauen kam, was ich da trieb, nickte zustimmend und fand eine billige Ausgabe für mich, die er mir für sechs Dollar verkaufte.

Dann ging ich nach Chinatown weiter und aß Dim Sum Buns und Nudeln mit scharfer Sauce, die ich früher als ziemlich scharf bezeichnet hätte, die mir aber mit der Erfahrung eines Ange-Special mittlerweile eher mild vorkam.

Als es auf Nachmittag zuging, stieg ich in die BART und dann in einen Shuttlebus über San Mateo Bridge, der mich zur East Bay brachte. Ich las mein Exemplar von †œOn the Road† und genoß die vorbeiflitzende Landschaft. †œOn the Road† ist ein halb autobiografischer Roman über Jack Kerouac, einen drogen- und alkoholabhängigen Schriftsteller, der per Anhalter durch Amerika reist, Billigjobs annimmt, bei Nacht durch die Straßen geistert, Leuten begegnet und wieder seiner Wege zieht. Hipster, traurige Hobos, Betrüger, Straßenräuber, Penner und Engel.

Das Buch hat keine eigentliche Handlung †“ Kerouac soll es, zugedröhnt bis zur Kante, innerhalb von drei Wochen auf eine lange Rolle Papier geschrieben haben -, es beschreibt bloß eine Reihe erstaunlicher Dinge, ein Ereignis nach dem anderen. Er freundet sich mit selbstzerstörerischen Leuten wie Dean Moriarty an, die ihn in merkwürdige Pläne verwickeln, aus denen nie irgendwas wird, und doch wird was draus, wenn ihr wisst, was ich meine.

Diese Worte hatten einen ganz eigenen Rhythmus, sie waren üppig, ich konnte sie laut in meinem Kopf hören. Sie weckten in mir das Verlangen, mich auf der Ladefläche eines Pickups schlafen zu legen und in einer staubigen Kleinstadt im Central Valley auf halber Strecke nach L.A. wieder aufzuwachen, in einem dieser Orte mit einer Tankstelle und einem Diner, und dann einfach nur auf die Felder hinauszulaufen und Leute zu treffen, Dinge zu sehen und Dinge zu tun.

Es war eine lange Busfahrt, und ich musste ein bisschen eingenickt sein †“ mit Ange bis werweißwann zu chatten war schlecht für meinen Schlafrhythmus, denn Mom erwartete mich nach wie vor zum Frühstück. Ich wachte auf, wechselte den Bus, und kurz daraufwar ich bei Anges Schule.

Sie kam mir hüpfend entgegen in ihrer Uniform †“ ich hatte sie noch nie darin gesehen, sie sah auf eine merkwürdige Art süß aus und erinnerte mich an Van in ihrer Uniform. Sie umarmte mich lange und gab mir einen harten Kuss auf die Wange.

†œHallo, du!†, sagte sie.

†œHi!†

†œWas liestn da?†

Daraufhatte ich gewartet. Ich hatte die Stelle mit einem Finger markiert. †œHör mal:

Seite 121

,Sie tanzten die Straßen hinab wie Dingledodies (6), und ich schlurfte hinterher, wie ich es mein Leben lang mit Leuten getan habe, die mich interessieren, weil die einzigen Leute, die für mich zählen, die Verrückten sind †“ die verrückt sind nach Leben, verrückt nach Reden, verrückt nach Erlösung, begierig nach allem zugleich; die niemals gähnen oder Gemeinplätze plappern, sondern brennen, brennen, brennen wie sagenhafte gelbe römische Kerzen, explodieren wie Spinnen über all die Sterne hinaus, und in der Mitte siehst du das blaue Zentrum der Flamme verpuffen und alles sagt †œOohhh!††˜†

(6) Pardon, das wundervolle Wort †œdingledodies† kann in der Übersetzung nur verlieren. Am ehesten bedeutet es wohl †œwilde Verrückte†, A.d.Ü

Sie nahm das Buch und las die Passage noch einmal. †œWow, Dingledodies! Ich liebe so was! Ist das alles so?†

Ich erzählte ihr von dem, was ich schon gelesen hatte, während wir langsam den Bürgersteig runter zur Bushaltestelle schlenderten. Als wir um die Ecke gebogen waren, schlang sie ihren Arm um meine Hüfte, und ich legte meinen über ihre Schulter. Die Straße runterzugehen mit einem Mädchen im Arm †“ meiner Freundin? Klar, wieso nicht? †“ und über dieses coole Buch zu reden, das war einfach himmlisch. Es ließ mich meine Sorgen für einen Moment vergessen.

†œMarcus?†

Ich drehte mich um. Es war Van. Im Unterbewusstsein hatte ich damit gerechnet. Ich wusste es, weil mein Bewusstsein nicht im Mindesten überrascht war. Es war keine große Schule, und sie hatten alle zur selben Zeit Schluss. Ich hatte seit Wochen nicht mit Van geredet, und diese Wochen fühlten sich wie Monate an. Früher hatten wir jeden Tag miteinander geredet.

†œHi, Van†, sagte ich. Ich unterdrückte den Reflex, meinen Arm von Anges Schulter zu nehmen. Van schien überrascht zu sein, aber nicht so sehr wütend als vielmehr bleich und erschüttert. Sie beobachtete uns beide scharf.

†œAngela?†

†œHi, Vanessa†, sagte Ange.

†œWas machst du denn hier?†

†œIch bin hier rausgekommen, um Ange abzuholen†, sagte ich in bemüht neutralem Tonfall. Plötzlich fühlte ich mich unwohl dabei, mit einem anderen Mädchen gesehen zu werden.

†œOh. Na dann, war nett, dich gesehen zu haben.†

†œJa, war nett, dich gesehen zu haben, Vanessa†, sagte Ange, zog mich herum und weiter Richtung Bushaltestelle.

†œDu kennst sie?†

†œJa, schon ewig.†

†œWart ihr zusammen?†

†œWas? Nein! Überhaupt nicht! Wir waren bloß Freunde.†

†œIhr wart Freunde?†

Ich hatte das Gefühl, als würde Van direkt hinter uns herlaufen und zuhören, obwohl sie bei dem Tempo, das wir eingeschlagen hatten, hätte joggen müssen, um an uns dranzubleiben. Ich widerstand der Versuchung, über die Schulter zu blicken, so lange wie nur möglich, aber schließlich tat ich es doch. Hinter uns waren massenhaft Mädchen aus der Schule, aber keine Van.

†œSie war mit mir und Jose-Luis und Darryl unterwegs, als wir verhaftet wurden. Wir haben zusammen ARGs gemacht. Wir vier waren so was wie beste Freunde.†

Seite 122

†œUnd dann?†

Ich dämpfte die Stimme. †œSie mochte die Idee mit dem Xnet nicht. Sie dachte, wir würden Ärger kriegen und ich würde andere Leute in Schwierigkeiten bringen.†

†œUnd deshalb seid ihr jetzt keine Freunde mehr?†

†œWir haben uns bloß sozusagen auseinandergelebt.† Wir gingen ein paar Schritte.

†œIhr wart nicht, du weißt schon, Freund-und-Freundin-Freunde?†

†œNein!†, sagte. Ich. Mein Gesicht glühte. Ich fühlte mich, als würde ich mich wie ein Lügner anhören, obwohl ich ja nun die Wahrheit sagte.

Ange brachte uns beide abrupt zum Stehen und studierte meinen Gesichtsausdruck.

†œOder doch?†

†œNein! Ehrlich nicht! Nur Freunde. Darryl und sie †“ na ja, auch nicht wirklich, aber Darryl war ziemlich in sie verknallt. Überhaupt kein Gedanke daran,…†

†œAber wenn Darryl nicht in sie verknallt gewesen wäre, wärst du, oder was?†

†œNein, Ange. Nein. Bitte glaub mir doch einfach und lass das Thema. Vanessa und ich waren gute Freunde und sind es jetzt nicht mehr, und das macht mir zu schaffen; aber ich war nie hinter ihr her, okay?†

Sie entspannte sich ein bisschen. †œOkay, okay. Tut mir Leid. Ist bloß, dass ich mit ihr nicht klarkomme. Wir sind nie miteinander klargekommen in all den Jahren, die wir uns schon kennen.†

Ach so, dachte ich. Das erklärte, weshalb Jolu Ange schon so lange kannte und ich sie trotzdem noch nie getroffen hatte. Sie hatte ihre Privatfehde mit Van, und deshalb hatte er sie nie mitgebracht.

Wir umarmten uns ausgiebig und küssten uns, und eine Horde Mädels kam an uns vorbei und machte †œhuiuiuiui†; also rissen wir uns zusammen und gingen weiter zur Bushaltestelle. Vor uns lief jetzt Van, die an uns vorbeigekommen sein musste, während wir uns küssten. Ich fühlte mich wie ein kompletter Idiot.

Natürlich war sie auch an der Bushaltestelle und dann im Bus, und wir sprachen kein Wort miteinander, und ich versuchte die ganze Fahrt über ein Gespräch mit Ange zu führen, aber es war sehr verkrampft.

Wir hatten geplant, irgendwo auf einen Kaffee anzuhalten und dann zu Ange weiterzugehen, um zu †œlernen†, also um abwechselnd mit ihrer Xbox im Xnet zu lesen. Anges Mom kam an Dienstagen immer spät nach Hause, weil sie da abends Yogakurs hatte und dann mit ihren Freundinnen essen ging, und Anges Schwester war mit ihrem Freund auf der Piste, also würden wir ganz ungestört sein. Und ich hatte schmutzige Phantasien seit dem Moment, als wir uns für diesen Abend verabredet hatten.

Wir kamen bei ihr an, gingen direkt in ihr Zimmer und machten die Tür hinter uns zu. Ihr Zimmer hatte was von einem Bombenkrater, es wär übersät mit schichtenweise Klamotten, Notizbüchern und PC-Teilen, die sich wie Krähenfüße in die Socken bohren würden. Ihr Schreibtisch war noch schlimmer als der Fußboden, dort stapelten sich die Bücher und Comics; so setzten wir uns schließlich auf ihr Bett, wogegen ich nichts einzuwenden hatte.

Die Verlegenheit seit dem Treffen mit Van hatte sich einigermaßen gelegt, und wir warfen ihre Xbox an. Sie war in ein Nest von Kabeln eingebettet, von denen einige zu einer WLAN-Antenne führten, die sie am Fenster befestigt hatte, um die Funknetze der Nachbarn anzapfen zu können. Andere Kabel führten zu alten Laptop-Monitoren, die sie zu Einzelbildschirmen umgebaut hatte, auf Standfüßen balancierend und voll freiliegender Elektronik. Die Monitore standen auf beiden Nachttischen, ein geniales Arrangement, um im Bett Filme zu sehen oder zu chatten: Wenn sie die Bildschirme zum Bett hin drehte, konnte sie sich auf die Seite drehen und hatte nach links oder rechts immer ein seitenrichtiges Bild.

Seite 123

Nebeneinander an den Nachttisch gelehnt auf ihrem Bett sitzend wussten wir beide, weshalb wir wirklich hier waren. Ich zitterte ein wenig, und die Wärme ihres Beins und ihrer Schulter an mir waren nur zu gegenwärtig; aber ich musste mich zumindest mal ins Xnet einloggen, meine Mails lesen und so.

Eine Mail kam von einem Jungen, der gern lustige Handy-Videos über das Amok laufende DHS verschickte. Das letzte hatte gezeigt, wie sie einen Kinderwagen zerlegten, weil ein Sprengstoffspürhund sich dafür interessiert hatte; sie hatten ihn mitten auf der Straße in der Marina mit Schraubenziehern auseinandergenommen, und man konnte sehen, wie all die reichen Leute da vorbeikamen, sich umdrehten und offensichtlich wunderten, wie bescheuert das war.

Ich hatte zu dem Video verlinkt, und es war wie bescheuert runtergeladen worden. Er hatte es auf den Spiegelserver des †œInternet Archive† in Alexandria, Ägypten hochgeladen, wo sie so ziemlich alles akzeptierten, vorausgesetzt, es stand unter einer remix- und weitergabefähigen Creative-Commons-Lizenz. Das US-†Archive† †“ im Presidio, nur ein paar Minuten von hier †“ war gezwungen worden, all diese Videos im Namen der nationalen Sicherheit vom Netz zu nehmen, aber das †œArchive† in Alexandria hatte sich als eigenständige Organisation abgespalten und hostete jetzt alles, was geeignet war, die Vereinigten Staaten zu verärgern.

Dieser Junge †“ sein Nick war Kameraspie †“ hatte mir diesmal ein noch besseres Video geschickt. Es war im Eingang zur City Hall im Civic Center aufgenommen, dieser riesigen Hochzeitstorte von einem Haus, voll mit Statuen in kleinen Bogengängen, vergoldeten Blättern und Gedöns. Das DHS hatte rund um das Gebäude eine Sicherheitszone eingerichtet, und Kameraspies Video zeigte eine Ansicht ihres Checkpoints, während sich ein Typ in Offiziersuniform näherte, seinen Ausweis zeigte und seine Aktentasche auf das Röntgenband stellte.

Alles war okay, bis einer der DHS-Leute auf dem Röntgenbild etwas sah, das ihm nicht gefiel. Er stellte dem General Fragen, und der rollte mit den Augen und sagte etwas Unhörbares (das Video war von der anderen Straßenseite aufgenommen, offenkundig mit einem getarnten Eigenbau-Zoom, deshalb war die Tonspur voll mit Geräuschen von vorbeieilenden Passanten und dem Straßenverkehr).

Der General und die Leute vom DHS gerieten aneinander, und je länger sie diskutierten, desto mehr DHS-Typen scharten sich dazu. Schließlich schüttelte der General verärgert den Kopf, wies mit dem Finger auf die Brust des einen DHSlers, schnappte sich die Aktentasche und ging davon. Die DHS-Typen riefen ihm nach, aber er wurde nicht langsamer. Seine Körpersprache sagte überdeutlich †œich bin äußerst verärgert†.

Dann geschah es. Die DHS-Typen rannten dem General hinterher. Kameraspie hatte das Video hier verlangsamt, so dass man in extremer Zeitlupe, Bild für Bild, das Gesicht des Generals sehen konnte: Wie er sich halb umdrehte mit diesem Ausdruck im Gesicht, der besagte †œIhr werdet den Teufel tun, mich zu tackeln†, und wie der Ausdruck sich in Entsetzen verwandelte, als sich drei der riesigen DHS-Wachen auf ihn stürzten, ihn zur Seite stießen und dann um die Hüfte fassten, als wäre dies das letzte Football-Tackling in seiner Karriere. Der General †“ schon etwas älter, mit stahlgrauem Haar, zerfurchtem und würdevollem Gesicht †“ ging zu Boden wie ein Sack Kartoffeln, schlug zweimal hart auf, sein Gesicht knallte auf den Bürgersteig, und Blut schoss aus seiner Nase.

Das DHS verschnürte den General, fesselte ihn an Händen und Füßen. Der General brüllte jetzt, und wie er brüllte, sein Gesicht verfärbt von dem Blut, das ihm immer noch aus der Nase strömte. Beine flitzten durchs Bild. In der starken Tele-Einstellung sah man vorbeikommende Fußgänger zuschauen, wie man diesen Typ in Uniform fesselte, und seinem Gesicht war zu entnehmen, dass dies das Schlimmste von allem war †“ dies war rituelle Erniedrigung, der Raub seiner Würde. Hier endete der Clip.

†œAch du mein süßer Buddha†, sagte ich, während der Schirm schwarz wurde und ich das Video nochmals startete.

Seite 124

Ich stupste Ange an und zeigte ihr den Clip. Sie sagte kein Wort und betrachtete den Film mit offenem Mund.

†œLad das ja hoch!†, sagte sie. †œLos, hochladen hochladen hochladen hochladen hochladen!† Ich lud ihn hoch. Ich konnte kaum tippen vor Aufregung, als ich aufschrieb, was ich hier gesehen hatte; und ich fügte eine Notiz an, ob wohl jemand den Offizier im Video identifizieren könne oder etwas über die Sache wisse.

Ich drückte auf †œVeröffentlichen†.

Dann sahen wir uns das Video noch einmal an. Und noch einmal.

Mein E-Mail-Programm meldete sich.

> Ich erkenn den Kerl ganz sicher †“ du findest seine Bio in der Wikipedia. Das ist General Claude Geist. Er war Kommandeur der UN-Friedenstruppen in Haiti.

Ich schlug die Bio nach. Es gab da ein Bild des Generals bei einer Pressekonferenz und Anmerkungen über seine Rolle bei der kniffligen Haiti-Mission. Es war offensichtlich derselbe Typ.

Ich aktualisierte meinen Blogeintrag.

Theoretisch war dies die Chance für Ange und mich, ein bisschen rumzumachen, aber daraus wurde schließlich doch nichts. Wir stöberten durch die Blogs im Xnet und suchten nach weiteren Berichten über Durchsuchungen und Übergriffe durch das DHS. Das war schon ein Routinejob, weil ich dasselbe bereits nach den Ausschreitungen im Park gemacht hatte. In meinem Blog führte ich eine neue Kategorie für diese Sachen ein, MissbrauchVonBefugnissen, und sortierte alles ein. Ange überlegte sich immer noch mehr Suchbegriffe, die wir ausprobieren könnten, und als ihre Mutter heimkam, hatte meine neue Kategorie schon siebzig Einträge, allen voran der Angriff auf General Geist vor City Hall.

Den ganzen nächsten Tag über arbeitete ich daheim an meinem Beatnik-Aufsatz, las Kerouac und surfte im Xnet. Eigentlich hatte ich Ange an der Schule treffen wollten, aber der Gedanke, womöglich wieder Van zu treffen, machte mich furchtbar nervös, also simste ich ihr eine Ausrede, dass ich noch am Aufsatz zu schreiben hätte.

Derweil trudelten alle möglichen tollen Vorschläge für MissbrauchVonBefugnissen ein, Hunderte von kleinen und großen, Bilder und Videos. Das Mem hatte begonnen, sich zu replizieren.

Und es hörte nicht wieder auf. Am nächsten Morgen waren es nochmals mehr geworden. Jemand hatte ein neues Blog namens MissbrauchVonBefugnissen aufgesetzt, das Hunderte weiterer Vorfälle sammelte. Der Stapel wuchs. Wir wetteiferten darum, die saftigsten Storys und die wildesten Bilder aufzutun.

Mit meinen Eltern hatte ich vereinbart, dass ich jeden Morgen mit ihnen zusammen frühstückte und über die Projekte redete, die ich gerade in Arbeit hatte. Es gefiel ihnen, dass ich Kerouac las. Es war für sie beide eines ihrer Lieblingsbücher gewesen, und es stellte sich heraus, dass wir bereits ein Exemplar im Regal in ihrem Schlafzimmer hatten. Mein Dad brachte es runter, und ich blätterte es durch. Da waren Abschnitte mit Kuli angestrichen, es gab Seiten mit Eselsohren und Notizen am Rand. Mein Dad hatte dieses Buch offensichtlich sehr geliebt.

Das erinnerte mich an bessere Zeiten, als mein Dad und ich uns noch fünf Minuten am Stück unterhalten konnten, ohne uns über Terrorismus in die Haare zu kriegen, und wir hatten zum Frühstück ein tolles Gespräch darüber, wie der Roman strukturiert war, und über all die irren Abenteuer.

Aber am nächsten Morgen hingen sie beim Frühstück wieder wie gebannt vorm Radio.

†œMissbrauch von Befugnissen †“ so heißt der neueste Trend in San Franciscos berüchtigtem Xnet, und er hat bereits weltweites Aufsehen erregt.

Seite 125

Die Bewegung, kurz MvB genannt, besteht aus ,Kleinen Brüdern†™, die ihrerseits die Anti-Terrorismus-Maßnahmen der Heimatschutzbehörde überwachen und ihre Pannen und Exzesse dokumentieren. Initialzündung für MvB war ein populäres virales Video, das zeigt, wie General Claude Geist, ein pensionierter Drei-Sterne-General, von DHS-Mitarbeitern auf dem Bürgersteig vor City Hall umgerempelt wird. Geist hat den Vorfall nicht kommentiert, aber es gab zahlreiche wütende Reaktionen junger Zuschauer, die auch über ihre eigene Behandlung entrüstet sind.

Besonders bemerkenswert ist das hohe Maß an Aufmerksamkeit, das dieser Bewegung weltweit zuteil wird. Bilder aus dem Geist-Video wurden bereits auf den Titelseiten von Zeitungen in Korea, Großbritannien, Deutschland, Ägypten und Japan veröffentlicht, und Rundfunkstationen überall auf der Welt zeigten den Clip in ihren Abendnachrichten. Ihren vorläufigen Höhepunkt erlebte die Angelegenheit, als gestern abend National News Evening der British Broadcasting Corporation eine Sondersendung über den Umstand ausstrahlte, dass die Story bislang weder von einem US-Sender oder einer hiesigen Nachrichtenagentur aufgegriffen wurde. Kommentatoren auf der Website der BBC weisen zudem daraufhin, dass sich die Sondersendung auf den Seiten von BBC America ebenfalls nicht finden lässt.†

Es folgte eine Reihe von Interviews: britische Medienbeobachter, ein Bürschchen von der schwedischen Piratenpartei mit spöttischen Bemerkungen über Amerikas korrupte Presse, ein ehemaliger amerikanischer Nachrichtensprecher im Ruhestand in Tokio; dann strahlten sie einen kurzen Spot von Al-Dschassira aus, in dem es um die US-Presse im Vergleich zu den nationalen Nachrichtenmedien in Syrien ging.

Ich meinte die Blicke meiner Eltern auf mir zu spüren, meinte zu ahnen, dass sie wussten, was ich tat. Aber als ich mein Geschirr wegräumte, sah ich, dass sie einander anschauten.

Dad hielt sich mit zitternden Händen am Kaffeebecher fest. Mom blickte zu ihm hin.

†œDie wollen uns schlechtreden†, sagte Dad schließlich. †œDie wollen alle Bemühungen um unsere Sicherheit sabotieren.†

Ich öffnete den Mund, aber dann fing ich den Blick meiner Mutter und ihr Kopfschütteln auf. Also ging ich in mein Zimmer, um weiter an dem Kerouac-Aufsatz zu arbeiten. Sobald ich zum zweiten Mal die Haustür gehört hatte, warf ich meine Xbox an und ging online.

> Hallo M1k3y. Mein Name ist Colin Brown, ich bin Produzent der Nachrichtensendung The National bei der Canadian Broadcasting Corporation. Wir machen eine Geschichte über das Xnet und haben bereits einen Reporter nach San Francisco geschickt, um von dort zu berichten. Wären Sie an einem Interview interessiert, um über Ihre Gruppe und ihre Aktivitäten zu sprechen?

Ich starrte den Monitor an. Oh Gott. Die wollten mich über †œmeine Gruppe† interviewen?

> Oh, nein, danke. Ich achte sehr auf meine Privatsphäre. Außerdem ist es gar nicht †œmeine† Gruppe. Aber danke, dass Sie eine Geschichte drüber machen!

Eine Minute später kam die nächste E-Mail.

> Wir können Sie unkenntlich machen und Ihnen Anonymität zusichern. Es ist Ihnen klar, dass das DHS nur zu gern seinen eigenen Sprecher vorschicken wird. Ich bin aber interessiert an Ihrer Sicht der Dinge.

Ich speicherte die E-Mail ab. Er hatte Recht, aber ich wäre bescheuert, das zu tun. Von meinem Standpunkt aus war er das DHS.

Ich wandte mich wieder Kerouac zu, da kam die nächste E-Mail. Dieselbe Bitte von einer anderen Nachrichtenagentur: KQED wollte mich treffen, um ein Radio-Interview aufzuzeichnen. Ein Sender in Brasilien. Die Australian Broadcasting Corporation. Deutsche Welle. Den ganzen Tag lang trudelten Presse-Anfragen ein. Und den ganzen Tag lang lehnte ich höflich ab.

Seite 126

Viel Kerouac las ich an diesem Tag nicht.

†œDu musst eine Pressekonferenz abhalten†, sagte Ange, als wir am selben Abend in dem Café bei ihr um die Ecke saßen. Ich war nicht mehr allzu scharf drauf, sie in der Schule abzuholen und womöglich wieder mit Van im selben Bus zu sitzen.

†œHä? Bist du wahnsinnig?†

†œMach es in Clockwork Plunder. Such dir einfach einen Handelsstützpunkt, wo kein PvP erlaubt ist, und leg eine Uhrzeit fest. Du kannst dich von hier einloggen.†

PvP, Player-versus-Player, ist ein Kampf-Modus Spieler gegen Spieler. Einige Bereiche von Clockwork Plunder waren als neutrales Territorium definiert, und dort konnten wir theoretisch eine Tonne Reporter anschleppen, die keine Ahnung vom Spiel hatten, ohne zu riskieren, dass andere Spieler sie während der Pressekonferenz einfach umlegten.

†œIch kenn mich mit Pressekonferenzen null aus.†

†œMusst du halt googeln. Ganz sicher hat schon mal jemand einen Ratgeber geschrieben, wie man eine erfolgreiche Pressekonferenz abhält. Ich mein, wenn der Präsident das kann, kannst du das auch. Der sieht nicht so aus, als ob er sich schon allein die Schuhe zubinden kann.†

Wir bestellten noch Kaffee.

†œDu bist eine sehr kluge Frau†, sagte ich.

†œUnd ich bin schön.†

†œDas auch.† – Fortsetzung Kapitel 15

______________________________________________________________________________________

Hintergründe, Handlung und weitere Informationen zu Little Brother findet ihr unter: Jugendthriller: Little Brother von Cory Doctorow komplett im Netz

Hier handelt es sich um die deutsche Übersetzung von Christian Wöhrl

Little Brother ist unter einem Creative Commons Namensnennung-Keine kommerzielle Nutzung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenzvertrag lizenziert.

Das Original wurde unter: http://craphound.com/littlebrother veröffentlicht.

Little Brother von Cory Doctorow: Kapitel 13

Little Brother

Kapitel 13

Dieses Kapitel ist Books-A-Million gewidmet, einer Kette riesiger Buchläden überall in den USA. Mit Books-A-Million bin ich zum ersten Mal in Berührung gekommen, als ich in einem Hotel in Terre Haute, Indiana wohnte (an diesem Tag sollte ich eine Rede im Rose Hulman Institute of Technology halten). Der Laden war ganz in der Nähe des Hotels, und ich brauchte dringend was zu lesen †“ Ich war schon einen ganzen Monat auf Achse gewesen, hatte alle Bücher in meinem Koffer durch und noch fünf weitere Städte auf dem Reiseplan, bevor ich wieder nach Hause konnte. Und während ich eifrig durch die Regale schaute, fragte mich eine Angestellte, ob ich Hilfe benötige.

Ich habe selbst schon in Buchläden gearbeitet, und Buchhändler mit Erfahrung sind ihr Gewicht in Gold wert; also sagte ich ja und fing an, meinen Geschmack und meine Lieblingsautoren zu beschreiben. Die Angestellte lächelte und sagte, †œda habe ich genau das richtige Buch für Sie†, und dann brachte sie mir meinen ersten Roman, †œDown and Out in the Magic Kingdom†. Ich brach in Gelächter aus, stellte mich vor, und wir hatten eine ganz wunderbare Plauderei über Science Fiction, die mich fast davon abhielt, rechtzeitig zu meiner Rede zu kommen!

Books-A-Million:

http://www.booksamillion.com/ncom/books?&isbn=0765319853

………………………………………………………………………………………………

Die sind ja absolute Huren†, sagte Ange, wobei sie das Wort geradezu ausspuckte. †œNein, das wär ja eine Beleidigung aller hart arbeitenden Huren. Die †“ die sind Profiteure†

Wir blätterten einen Stapel Zeitungen durch, die wir ins Café mitgebracht hatten. Sie hatten alle †œBerichterstattung† über die Party in Dolores Park, und ausnahmslos stellten sies so dar, als sei es eine Orgie betrunkener, bekiffter Kiddies gewesen, die die Polizei angegriffen hatten. USA Today schrieb über die Kosten der †œAusschreitungen† und vergaß dabei nicht aufzurechnen, was es kosten würde, die Rückstände des Pfefferspray-Bombardements zu beseitigen, was der Anstieg an Asthma-Attacken, die die städtischen Notaufnahmen verstopft hatten, und was die Behandlung der achthundert festgenommenen †œRandalierer†.

Niemand erzählte es aus unserer Sicht.

†œNa ja, zumindest im Xnet steht es richtig†, sagte ich. Ich hatte einige Blogeinträge, Videos und Fotostreams auf meinem Handy gespeichert und zeigte sie ihr. Darunter waren Erfahrungsberichte von Leuten, die vom Gas erwischt worden waren, und von solchen, die man verprügelt hatte. Auf dem Video sah man uns alle tanzen und Spaß haben, man sah die friedlichen politischen Ansprachen und den Chorus von †œHolt es euch zurück†, man sah Trudy Doo darüber sprechen, dass wir die einzige Generation sei, die noch daran glauben könne, für unsere Freiheiten zu kämpfen.

†œWir müssen das den Menschen zeigen†, sagte sie.

†œJa†, sagte ich finster. †œHübsche Theorie.†

†œWarum meinst du denn, dass die Presse unseren Standpunkt nicht veröffentlichen würde?†

†œDu hast doch selbst gesagt, es sind Huren.†

†œJa, aber Huren machens für Geld. Wenn sie eine richtige Kontroverse hätten, könnten sie mehr Zeitungen und mehr Anzeigen verkaufen. Was sie bis jetzt haben, ist bloß ein Verbrechen; eine Kontroverse ist das viel größere Thema.†

†œOkay, so weit, so gut. Aber warum machen sies dann nicht? Na ja, Reporter finden sich ja schon kaum in normalen Blogs zurecht, wie sollen die dann auch noch das Xnet finden? Ist ja auch nicht wirklich ein erwachsenenfreundlicher Ort.†

†œStimmt. Aber das lässt sich doch ändern, oder?†

†œAch ja?†

†œSchreib es alles auf. Tu es alles auf eine Seite, mit allen Links.

Seite 110

Eine einzige Site, extra für die Presse, wo sie sich ein vollständiges Bild machen kann. Verlink die noch mit den How-Tos für das Xnet. Normale Internet-Surfer kommen ja auch ins Xnet, solange es ihnen egal ist, dass das DHS mitbekommt, was sie da besuchen.†

†œUnd du meinst, das kann klappen?†

†œUnd wenn nicht, dann haben wir es zumindest versucht.†

†œWarum sollten sie uns schon zuhören?†

†œWer würde denn M1k3y nicht zuhören?†

Ich stellte meinen Kaffee ab. Ich nahm mein Handy und steckte es in die Tasche. Ich stand auf, drehte mich auf dem Absatz um und verließ das Café. Ich suchte mir keine bestimmte Richtung aus und ging einfach nur los. Mein Gesicht fühlte sich wie erstarrt an, und mein Magen rebellierte.

Die wissen, wer du bist, dachte ich. Die wissen, wer M1k3y ist. Die Sache war gelaufen. Wenn Ange es rausgefunden hatte, dann das DHS ja wohl erst recht. Ich war geliefert. Ich hatte es von dem Moment an gewusst, in dem ich aus dem DHS-Truck aussteigen durfte: Eines Tages würden sie kommen, um mich zu holen und mich für immer verschwinden zu lassen, dort, wo sie auch Darryl hatten verschwinden lassen.

Alles war aus.

Auf Höhe Market Street rannte sie mich fast um. Sie war außer Atem und sah ziemlich wütend aus.

†œWas zum Teufel ist Ihr Problem, mein Herr?†

Ich schüttelte sie ab und ging weiter. Alles war aus.

Sie packte mich wieder. †œHör auf damit, Marcus, du machst mir Angst. Komm schon, sprich mit mir.†

Ich hielt an und schaute sie an. Sie verschwamm vor meinen Augen. Ich sah alles nur unscharf. Und ich hatte diesen wahnsinnigen Drang, mich einfach vor die Straßenbahn zu werfen, die grade an uns vorbeiratterte, hier, mitten auf der Straße. Lieber sterben als noch mal dorthin zurück.

†œMarcus!† Sie tat etwas, was ich bisher nur aus Filmen kannte: Sie haute mir eine runter, und zwar hart ins Gesicht.

†œSprich mit mir, verdammtnochmal!†

Ich sah sie an und befühlte mein Gesicht, das brannte wie Hölle.

†œNiemand darf wissen, wer ich bin†, sagte ich. †œIch kanns nicht anders sagen. Wenn du es weißt, dann ist es vorbei. Sobald andere Leute es wissen, ist es gelaufen.†

†œOh Gott, es tut mir Leid. Hey, ich weiß das bloß, weil, also, ich hab Jolu erpresst. Nach der Party hab ich dir ein bisschen hinterhergeschnüffelt, um rauszukriegen, ob du wirklich so nett bist, wie du wirkst, oder vielleicht doch ein heimlicher Serienkiller. Jolu kenn ich schon ewig, und als ich ihn über dich ausgefragt habe, da hat er von dir geschwärmt, als wärst du der nächste Messias oder so; aber ich hab gemerkt, dass da immer noch was war, womit er nicht rausrücken wollte. Ich kenn ihn also schon ewig; und er war mal im Computer-Camp hinter meiner älteren Schwester her, als er nochn Kind war. Ich weiß ein paar ziemlich schmutzige Sachen über ihn. Und ich hab ihm gesagt, ich würde die in der Welt rumposaunen, wenn er mir nicht alles erzählt.†

†œUnd dann hat ers dir erzählt.†

†œNein†, sagte sie. †œEr meinte, ich könne mich mal gehackt legen. Dann hab ich ihm also was über mich erzählt. Etwas, was ich überhaupt noch niemandem erzählt habe.†

†œWas denn?†

Sie schaute mich an. Blickte sich um, blickte wieder zu mir.

Seite 111

†œOkay, ich lass dich jetzt nicht Verschwiegenheit schwören; was solls? Entweder ich kann dir trauen oder nicht.

Letztes Jahr hab…† Sie stockte. †œLetztes Jahr hab ich die standardisierten Tests geklaut und im Internet veröffentlicht. War eigentlich nur zum Spaß. Ich kam zufällig am Büro des Schulleiters vorbei und sah sie im Safe, und die Tür war offen. Ich bin also reingehuscht †“ da waren sechs Exemplare, und ich hab mir eins davon in die Tasche gesteckt und bin wieder raus. Daheim hab ich sie gescannt und auf einem Piratenpartei-Server in Dänemark veröffentlicht.†

†œDu warst das?†

Sie errötete. †œHm, ja.†

†œHeilige Scheiße!† Das war wirklich ne dolle Sache gewesen. Das Erziehungsministerium sagte damals, dass es etliche Millionen Dollar gekostet habe, ihre †œKein Kind wird zurückgelassen†-Tests produzieren zu lassen, und dass sie jetzt nach dem Leck gleich noch mal dieselbe Summe ausgeben müssten. Sie sprachen von †œBildungsterrorismus†, und in den Nachrichten wurde spekuliert ohne Ende über die politischen Motive des Täters; man fragte sich, ob es ein Lehrerprotest war, ein Schüler, ein Dieb oder ein unzufriedener Behördenmitarbeiter.

†œDU warst das?†

†œIch war das.†

†œUnd du hast es Jolu erzählt…†

†œWeil ich ihm zeigen wollte, dass er sich drauf verlassen kann, dass ich das Geheimnis für mich behalte. Wenn er mein Geheimnis kennt, dann hat er was gegen mich in der Hand, das mich ins Gefängnis bringen würde, falls ich meine Falle öffne. Bisschen geben, bisschen nehmen. Quid pro quo, wie in Schweigen der Lämmer.†

†œUnd dann hat er es dir erzählt.†

†œNein, hat er nicht.†

†œAber…†

†œDann hab ich ihm erzählt, wie total verknallt ich in dich bin und dass ich bereit wär, mich völlig zum Depp zu machen, nur um dich zu kriegen. Dann hat er es mir erzählt.†

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und guckte meine Zehen an. Sie nahm meine Hände und drückte sie.

†œEs tut mir Leid, dass ich es aus ihm rausgepresst habe. Es wäre deine Entscheidung gewesen, es mir zu erzählen oder eben nicht. Es stand mir nicht zu…†

†œNein†, sagte ich. Jetzt, da ich wusste, wie sies erfahren hatte, beruhigte ich mich langsam wieder. †œNein, es ist gut, dass du es weißt. Du.†

†œIch†, sagte sie. †œIch dummes kleines Ding.†

†œOkay, ich kann damit leben. Aber da ist noch eine Sache.†

†œWas?†

†œKeine Ahnung, wie ich es sagen soll, ohne wie ein kompletter Idiot zu klingen, aber… egal. Also: Wenn Leute zusammen sind, oder wie immer man das nennen soll mit uns, dann trennen sie sich manchmal. Und wenn sie sich trennen, dann sind sie böse aufeinander. Manchmal hassen sie sich sogar. Eigentlich zu finster, auch nur drüber nachzudenken bei dir und mir, aber weißt du, wir müssen drüber nachdenken.†

†œIch verspreche hoch und heilig, dass nichts, was du jemals tun könntest, mich dazu bringen könnte, dein Geheimnis zu verraten. Nichts. Vögel ein Dutzend Cheerleader in meinem Bett, während meine Mutter zuschaut. Zwing mich, Britney Spears zu hören. Zerleg meinen Laptop, hau ihn mit Hämmern zu Brei und weich ihn in Meerwasser ein. Ich verspreche es dir. Nichts, niemals.†

Seite 112

Ich atmete sehr tief aus.

†œHm.†

†œJetzt wäre ein guter Moment, mich zu küssen†, sagte sie und wandte mir ihr Gesicht entgegen.

M1k3ys nächstes großes Xnet-Projekt war die ultimative Zusammenstellung von Berichten über die Trau-Keinem-Party in Dolores Park. Ich machte daraus die größte und rattenschärfste Website, die mir nur möglich war, die gesamte Action aufgeschlüsselt nach Orten, nach Zeit, nach Kategorien †“ Polizeigewalt, Tanzen, Nachwirkungen, Gesang. Dazu lud ich das komplette Konzert hoch.

Das war so ziemlich alles, was ich den Rest der Nacht machte. Und die nächste Nacht. Und die übernächste.

Meine Mailbox quoll über mit Anregungen von Anderen, die mir Aufzeichnungen aus ihren Handys und ihren Kompaktkameras zusandten. Dann bekam ich eine E-Mail von jemandem, dessen Namen ich kannte †“ Dr. Eeevil (mit drei †œE†), einem der führenden Köpfe hinter ParanoidLinux.

> M1k3y

> Ich habe dein Xnet-Experiment sehr interessiert verfolgt. Hier in Deutschland haben wir eine Menge Erfahrung damit, was passiert, wenn Regierungen außer Kontrolle geraten.

> Eine Sache solltest du wissen: Jede Kamera hat eine einzigartige †œRausch-Signatur†, die man später dazu verwenden kann, ein Bild einer bestimmten Kamera zuzuordnen. Das bedeutet, dass Fotos, die du auf deiner Site veröffentlichst, möglicherweise dazu benutzt werden können, ihre Fotografen zu identifizieren, falls sie später mal wegen was anderem hochgenommen werden.

> Es ist zum Glück nicht schwer, die Signaturen zu entfernen, wenn du dir die Mühe machen willst. In der ParanoidLinux-Distro, die du benutzt, gibt es dafür ein Tool. Es heißt photonomous, und es steckt in /usr/bin. Lies einfach die Hilfeseiten als Anleitung. Ist aber eigentlich simpel.

> Viel Glück bei dem, was du da tust. Lass dich nicht schnappen. Bleib frei. Bleib paranoid.

> Dr Eeevil

Ich beseitigte die Signaturen von allen Fotos, die ich gepostet hatte, und lud sie dann wieder hoch, zusammen mit einem Bericht darüber, was Dr. Eeevil mir erzählt hatte, und der dringenden Bitte an alle anderen, es genauso zu machen, um all unsere Fotos zu anonymisieren. Mit den Fotos, die schon runtergeladen und gespeichert waren, konnten wir nichts mehr machen, aber von jetzt an würden wir schlauer sein.

Weiter dachte ich in dieser Nacht nicht über die Sache nach, bis ich am nächsten Morgen zum Frühstück runterkam und Mom das Radio anhatte, wo die NPR-Morgennachrichten liefen.

†œDie arabische Nachrichtenagentur Al-Dschassira verbreitet Fotos, Videos und Augenzeugenberichte vom Jugendaufstand am vorigen Wochenende in Mission Dolores Park†, sagte der Sprecher, während ich grade ein Glas Orangensaft trank. Irgendwie schaffte ich es, ihn nicht über den ganzen Raum zu versprühen, aber ein bisschen verschluckte ich mich dann doch.

†œAl-Dschassira-Reporter geben an, dass diese Berichte im so genannten ,Xnet†™ veröffentlicht wurden, einem Untergrund-Netzwerk von Studenten und Al-Kaida-Sympathisanten in der Bay Area. Über die Existenz dieses Netzwerks wurde schon lange spekuliert, doch der heutige Tag markiert seine erstmalige Erwähnung in Massenmedien.†

Mom schüttelte den Kopf. †œDas fehlte uns noch. Als ob die Polizei nicht schon schlimm genug wäre. Kids, die rumrennen und glauben, eine Guerilla-Armee zu sein, geben denen doch bloß einen Vorwand, noch härter zuzuschlagen.†

Seite 113

†œDie Weblogs im Xnet sind voll mit Hunderten von Berichten und Multimedia-Dateien junger Menschen, die bei dem Aufruhr dabeiwaren und behaupten, es sei eine friedfertige Versammlung gewesen, bis die Polizei sie angegriffen habe. Hier ist einer dieser Berichte:

,Alles, was wir machten, war tanzen. Ich hatte meinen kleinen Bruder mitgebracht. Bands spielten, und wir redeten über Freiheit und darüber, dass wir auf dem besten Weg sind, sie an diese Idioten zu verlieren, die behaupten, Terroristen zu hassen, aber uns dann angreifen, als ob wir Terroristen sind und nicht Amerikaner. Ich glaube, die hassen die Freiheit, nicht uns.

Wir haben getanzt, und die Bands spielten, und alles war lustig und einfach toll, und dann brüllten die Polizisten uns an, wir sollten auseinandergehen. Wir schrien alle, holt es euch zurück!, und damit meinten wir, holt euch Amerika zurück. Die Polizei hat uns mit Pfefferspray angegriffen. Mein kleiner Bruder ist zwölf, der konnte drei Tage lang nicht in die Schule gehen.

Meine dämlichen Eltern behaupten, das sei meine Schuld. Und was ist mit der Polizei? Wir bezahlen die dafür, uns zu beschützen,aber die haben uns ohne Grund mit Pfefferspray begast, als ob wir feindliche Soldaten seien.†™

Ähnliche Berichte, einschließlich Video und Audio, können Sie auf Al-Dschassiras Website und im Xnet finden. Wie Sie dieses Xnet erreichen, erfahren Sie auf der Homepage von NPR.†

Dad kam runter.

†œBenutzt du das Xnet?†, wollte er wissen. Er blickte mir eindringlich ins Gesicht. Mir wurde übel.

†œDas ist für Computerspiele†, sagte ich. †œJedenfalls benutzen die meisten Leute es dafür. Es ist bloß ein drahtloses Netzwerk. Das hat jeder mal ausprobiert, als sie letztes Jahr diese Xboxen verschenkt haben.†

Er sah mich finster an. †œSpiele? Marcus, du scheinst nicht zu begreifen, dass du damit Leuten eine Tarnung verschaffst, die dieses Land angreifen und zerstören wollen. Ich möchte nicht, dass du dieses Xnet noch ein Mal benutzt. Nie wieder. Haben wir uns verstanden?†

Ich wollte diskutieren. Ach verdammt, ich wollte ihn an den Schultern packen und schütteln. Aber ich ließ es sein.

Ich sagte †œNa klar, Dad† und verschwand in die Schule.

[x]

Zuerst war ich erleichtert, als ich merkte, dass Fred Benson nicht dauerhaft für meinen Gesellschaftskunde-Kurs zuständig war. Aber die Frau, die ihn ersetzen sollte, war mein schlimmster Alptraum.

Sie war jung, vielleicht 28 oder 29, und auf so eine gesunde Weise hübsch. Sie war blond und ließ einen leichten Südstaaten-Akzent durchschimmern, als sie sich bei uns als Mrs. Andersen vorstellte. Das ließ bei mir sofort die Alarmglocken klingeln: Ich kannte keine Frau unter sechzig, die sich selbst †œMrs.† nannte.

Aber darüber wollte ich hinwegsehen. Sie war jung, hübsch und klang nett. Sie würde schon okay sein.

Sie war nicht okay.

†œUnter welchen Umständen sollte die Regierung bereit sein, die Bill of Rights außer Kraft zu setzen?†, fragte sie und drehte sich dabei an die Tafel, um die Zahlen von eins bis zehn untereinanderzuschreiben.

†œGar nicht†, sagte ich, ohne abzuwarten, dass sie mich aufrief. Das war ja wohl leicht. †œVerfassungsrechte sind absolut.†

†œDas ist keine sonderlich fortschrittliche Ansicht.† Sie schaute auf ihren Sitzplan. †œMarcus. Nimm zum Beispiel einen Polizisten, der eine unzulässige Durchsuchung durchführt und dabei seine Befugnisse überschreitet.

Seite 114

Dabei stößt er auf erdrückende Beweise, dass ein Krimineller deinen Vater getötet hat. Diese Beweise sind die einzigen, die existieren. Sollte der Kriminelle ungeschoren davonkommen?†

Ich wusste, wie die Antwort lauten musste, aber ich konnte es nicht recht erklären. †œJa†, sagte ich schließlich. †œAber die Polizei sollte keine unzulässigen Durchsuchungen durchführen…†

†œFalsch. Die richtige Reaktion auf polizeiliches Fehlverhalten sind Disziplinarmaßnahmen, aber es wäre falsch, die ganze Gesellschaft für das Fehlverhalten eines einzelnen Polizisten zu bestrafen.† Sie schrieb †œVerbrecherische Schuld† unter Punkt eins an die Tafel.

†œAndere Anlässe, bei denen die Bill of Rights ersetzt werden kann?†

Charles hob die Hand. †œIn einem überfüllten Theater Feuer schreien?†

†œSehr gut,…† †“ sie konsultierte den Sitzplan †“ †œCharles. Es gibt viele Umstände, unter denen das First Amendment keine absolute Gültigkeit hat. Lasst uns noch ein paar davon zusammentragen.†

Charles hob die Hand noch mal. †œEinen Exekutivbeamten in Gefahr bringen.†

†œJa, die Identität eines verdeckten Ermittlers oder Geheimdienstlers offenlegen. Sehr gut.† Sie schrieb es auf. †œNoch etwas?†

†œNationale Sicherheit†, sagte Charles, ohne nochmals aufs Aufrufen zu warten. †œVerleumdung. Obszönität. Missbrauch Minderjähriger. Kinderpornografie. Bombenbauanleitungen.†

Mrs. Andersen schrieb zügig mit, hielt aber bei Kinderpornografie inne. †œKinderpornografie ist nur eine Unterart von Obszönität.†

Mir wurde langsam schlecht. Das war nicht das, was ich über mein Land gelernt hatte oder woran ich glaubte. Ich hob die Hand.

†œJa, Marcus?†

†œIch verstehe das nicht. Wie Sie es sagen, klingt das, als ob die Bill of Rights optional wäre. Aber es ist die Verfassung. Und der sollen wir uneingeschränkt Folge leisten.†

†œDas ist eine verbreitete Übervereinfachung†, sagte sie mit aufgesetztem Lächeln. †œTatsache ist, dass die Gestalter der Verfassung sie als ein lebendiges Dokument verstanden, das durchaus im Lauf der Zeit revidiert werden sollte. Ihnen war klar, dass die Republik keinen dauerhaften Bestand haben konnte, wenn die jeweilige Regierung nicht den jeweiligen Bedürfnissen entsprechend regieren konnte. Sie hatten nicht vorgesehen, dass man an die Verfassung glauben solle wie an eine religiöse Doktrin. Immerhin waren sie auf der Flucht vor religiöser Doktrin hierher gekommen.†

Ich schüttelte den Kopf. †œWas? Nein. Sie waren Kaufleute und Handwerker, und sie waren dem König so lange loyal verbunden, bis er Gesetze erließ, die ihren Interessen zuwiederliefen, und sie mit Gewalt durchzusetzen versuchte. Die religiösen Flüchtlinge waren schon viel früher.†

†œEinige der Farmer (5) stammten von religiösen Flüchtlingen ab†, sagte sie.

(5) Autoren der Verfassung von 1787, als solche sozusagen die zweite Welle der Gründerväter, siehe auch
http://en.wiki pedia.org/wi ki/Founding_Fathers_of_the_United_States, A.d.Ü

†œUnd die Bill of Rights ist doch nicht etwas, aus dem man sich nach Belieben rauspicken kann, was man möchte. Die Framer hassten Tyrannei. Und genau das soll die Bill of Rights verhindern. Sie waren eine Revolutionsarmee, und sie wollten ein Regelwerk, dem jeder zustimmen konnte. Leben, Freiheit und das Streben nach Glück. Das Recht des Volkes, seine Unterdrücker zu beseitigen.†

†œJa, ja†, sagte sie gestikulierend. †œSie glaubten an das Recht des Volkes, seine Könige zu beseitigen, aber…† Charles grinste, und als sie das sagte, grinste er noch viel breiter.

Seite 115

†œSie erarbeiteten die Bill of Rights, weil sie dachten, es sei besser, absolute Rechte zu haben, als zu riskieren, dass irgendjemand sie ihnen wegnimmt. Wie beim First Amendment: Das ist dazu gedacht, uns zu beschützen, indem es der Regierung untersagt, zwei Sorten von Meinungsäußerung zu unterscheiden, die erlaubte und die kriminelle.

†œSie wollten nicht das Risiko eingehen, dass irgendein Idiot auf die Idee käme, die Dinge, die ihm nicht passten, als illegal zu deklarieren.†

Sie drehte sich um und schrieb †œLeben, Freiheit und das Streben nach Glück† an die Tafel.

†œWir sind dem Lehrplan schon ein bisschen voraus, aber ihr scheint eine fortgeschrittene Gruppe zu sein.† Die anderen lachten nervös.

†œDie Aufgabe der Regierung ist es, die Rechte der Bürger auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück zu gewährleisten. In dieser Reihenfolge. Das ist wie ein Filter. Wenn die Regierung etwas unternehmen möchte, das uns ein wenig unzufriedener macht oder unsere Freiheit teilweise einschränkt, dann ist das okay, vorausgesetzt, es dient dazu, unser Leben zu schützen. Deshalb dürfen Polizisten euch einsperren, wenn sie glauben, dass ihr eine Gefahr für euch oder andere darstellt. Ihr verliert eure Freiheit und eure Freude, um Leben zu schützen. Wenn ihr Leben habt, dann bekommt ihr vielleicht später noch Freiheit und Freude dazu.†

Ein paar von den anderen hatten die Hände oben. †œAber bedeutet das nicht, dass sie tun können, was immer sie wollen, solange sie behaupten, dass es jemanden davon abhält, uns irgendwann in der Zukunft zu verletzen?†

†œGenau†, meinte ein anderer. †œEs klingt, als ob Sie sagen, dass nationale Sicherheit wichtiger ist als die Verfassung.†

In diesem Moment war ich so was von stolz auf meine Mitschüler. Ich sagte: †œWie können Sie denn Freiheit schützen, indem Sie die Bill of Rights außer Kraft setzen?†

Sie schüttelte den Kopf, als ob wir unglaublich dumm seien. †œDie †œrevolutionären† Gründerväter haben Verräter und Spione erschossen. An absolute Freiheit haben sie nicht geglaubt, nicht wenn sie die Republik bedrohte. Nehmt zum Beispiel diese Xnet-Leute…†

Es fiel mir schwer, nicht zu erstarren.

†œ… diese so genannten Jammer, die heute früh in den Nachrichten waren. Nachdem diese Stadt von Leuten angegriffen worden war, die diesem Land den Krieg erklärt haben, machten die Xnetter sich daran, die Sicherheitsmaßnahmen zu sabotieren, die dazu dienten, Bösewichter zu fangen und sie von Wiederholungstaten abzuhalten. Das taten sie, indem sie ihre Mitbürger gefährdeten und ihnen Ärger bereiteten…†

†œDas taten sie, um zu zeigen, dass unsere Rechte geraubt wurden unter dem Vorwand, sie zu schützen!†, sagte ich. Okay, ich schrie es. Oh Gott, hatte die mich in Fahrt gebracht. †œSie haben es getan, weil die Regierung jeden wie einen Terrorverdächtigen behandelt hat.†

†œAch, und um zu beweisen, dass man sie nicht wie Terroristen behandeln sollte†, brüllte Charles zurück, †œhaben sie sich wie Terroristen benommen? Deshalb haben sie ihren Terror ausgeübt?†

Ich kochte.

†œJetzt komm mal runter. Terror ausgeübt? Sie haben bloß gezeigt, dass allgegenwärtige Überwachung gefährlicher ist als Terrorismus. Denk mal an den Park letztes Wochenende. Die Leute da haben getanzt und Musik gehört. Was ist denn daran Terrorismus?†

Die Lehrerin kam durch den Raum auf mich zu und postierte sich über mir, bis ich still war. †œMarcus, du scheinst noch zu glauben, dass sich in diesem Land nichts geändert hat. Aber du hast zu begreifen, dass die Sprengung der Bay Bridge alles geändert hat. Tausende unserer Freunde und Verwandten liegen tot da unten in der Bay. Dies ist die Zeit für nationale Einheit angesichts dieser Gewalt, die unser Land erleiden musste…†

Seite 116

Ich stand auf. Dieses †œAlles hat sich geändert†-Geseiher ging mir bis hier. †œNationale Einheit? Was Amerika ganz wesentlich ausmacht, ist doch wohl, dass wir ein Land sind, in dem Dissens willkommen ist. Wir sind ein Land von Dissidenten und Kämpfern und Uniabbrechern und Aktivisten für Meinungsfreiheit.†

Dann dachte ich an Ms. Galvez†™ letzte Stunde und an die Tausende von Berkeley-Studenten, die den Polizeiwagen eingekesselt hatten, als dieser eine Typ für das Verteilen von Bürgerrechts-Literatur abtransportiert werden sollte. Niemand hatte versucht, die Trucks aufzuhalten, die mit all den Tänzern aus dem Park davonfuhren. Ich hatte es nicht versucht. Ich war weggelaufen.

Vielleicht hatte sich ja wirklich alles geändert.

†œIch glaube, du weißt, wo Mr. Bensons Büro ist†, sagte sie zu mir. †œDu wirst dich unverzüglich dort melden. Ich werde es nicht dulden, dass mein Unterricht von respektlosem Verhalten gestört wird. Für jemanden, der behauptet, die Meinungsfreiheit zu lieben, wirst du ziemlich laut, sobald irgendjemand nicht deiner Meinung ist.†

Ich schnappte mein SchulBook und meine Tasche und stürmte raus. Die Tür hatte eine Gasfeder, deshalb konnte ich sie nicht hinter mir zuknallen; ich hätte sie gern zugeknallt.

Ich ging zügig zu Mr. Bensons Büro. Kameras filmten mich auf dem Weg dorthin. Mein Gang wurde aufgezeichnet. Die RFIDs in meinem Schülerausweis funkten meine Identität an die Sensoren im Flur. Es war hier wie im Knast.

†œSchließ die Tür, Marcus†, sagte Mr. Benson. Dann drehte er seinen Monitor herum, so dass ich den Videostream aus der Gesellschaftskunde-Klasse sehen konnte. Er hatte zugeschaut.

†œWas hast du zu deiner Entschuldigung vorzubringen?†

†œDas war kein Unterricht, das war Propaganda. Sie hat uns gesagt, dass die Verfassung belanglos ist.†

†œNein. Sie hat gesagt, dass sie keine religiöse Doktrin ist. Und du hast sie angegangen wie irgendein Fundamentalist und damit genau ihren Standpunkt bewiesen. Marcus, du solltest als allererster wissen, dass sich alles geändert hat, seit die Brücke gesprengt wurde. Dein Freund Darryl…†

†œWagen Sie es nicht, auch nur ein verdammtes Wort über ihn zu sagen†, sagte ich schäumend vor Ärger. †œEs steht Ihnen nicht zu, ihn auch nur zu erwähnen. Ja, ich habe verstanden, dass sich alles geändert hat. Wir waren mal ein freies Land. Jetzt nicht mehr.†

†œMarcus, weißt du, was Null-Toleranz bedeutet?†

Ich zuckte zusammen. Er konnte mich wegen †œbedrohenden Verhaltens† rauswerfen. Eigentlich war die Regel als Maßnahme gegen Gang-Kids gedacht, die ihre Lehrer einzuschüchtern versuchten. Aber natürlich würde er keinerlei Hemmungen haben, sie auch gegen mich einzusetzen.

†œJa, ich weiß, was das bedeutet.†

†œIch glaube, du schuldest mir eine Entschuldigung.†

Ich sah ihn an. Er unterdrückte sein sadistisches Lächeln nur unzureichend. Ein Teil von mir wollte kuschen. Dieser Teil wollte, Scham hin oder her, um seine Verzeihung winseln. Aber ich unterdrückte diesen Teil von mir und beschloss, dass ich mich lieber rauswerfen lassen würde, als um Verzeihung zu bitten.

†œdaß, um diese Rechte zu sichern, Regierungen eingesetzt sein müssen, deren volle Gewalten von der Zustimmung der Regierten herkommen; daß zu jeder Zeit, wenn irgend eine Regierungsform zerstörend auf diese Endzwecke einwirkt, das Volk das Recht hat, jene zu ändern oder abzuschaffen, eine neue Regierung einzusetzen, und diese auf solche Grundsätze zu gründen, und deren Gewalten in solcher Form zu ordnen, wie es ihm zu seiner Sicherheit und seinem Glücke am zweckmäßigsten erscheint.† Ich erinnerte mich Wort für Wort daran.

Seite 117

Er schüttelte den Kopf. †œEtwas auswendig zu wissen ist nicht dasselbe wie es zu begreifen, Kleiner.† Er bückte sich über den Computer und klickte ein paar Mal. Der Drucker surrte. Dann reichte er mir ein noch warmes Blatt mit dem Behörden-Briefkopf, auf dem stand, dass ich für zwei Wochen vom Unterricht ausgeschlossen war.

†œIch schicke jetzt deinen Eltern eine E-Mail. Wenn du in einer halben Stunde noch auf dem Schulgelände bist, wirst du wegen Hausfriedensbruchs verhaftet.†

Ich blickte ihn an.

†œDu willst nicht wirklich in meiner eigenen Schule Krieg gegen mich erklären. Diesen Krieg kannst du nicht gewinnen. RAUS!†

Ich ging. – Fortsetzung Kapitel 14

______________________________________________________________________________________

Hintergründe, Handlung und weitere Informationen zu Little Brother findet ihr unter: Jugendthriller: Little Brother von Cory Doctorow komplett im Netz

Hier handelt es sich um die deutsche Übersetzung von Christian Wöhrl

Little Brother ist unter einem Creative Commons Namensnennung-Keine kommerzielle Nutzung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenzvertrag lizenziert.

Das Original wurde unter: http://craphound.com/littlebrother veröffentlicht.