Little Brother von Cory Doctorow: Kapitel 22

Little Brother

Kapitel 22

Epilog

Dieses Kapitel ist Hudson Booksellers gewidmet, den Buchhändlern, die man in praktisch jedem Flughafen der USA findet. Die meisten Hudson-Filialen haben nur wenige Titel (wobei diese oft erstaunlich vielfältig sind), aber die größeren, etwa die im AA-Terminal in Chicagos O†™Hare, sind ebenso gut wie eine Buchhandlung in einem Wohngebiet. Man muss schon was Besonderes bieten, um in einem Flughafen eine persönliche Note zu setzen, und Hudson†™s hat mir bei mehr als einem langen Chicago-Zwischenstopp mein geistiges Wohlbefinden gerettet.

Hudson Booksellers:

http://www.hudsongroup.com/HudsonBooksellers_s.html

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Barbara rief mich am Wochenende des 4. Juli im Büro an. Ich war nicht der Einzige, der am Feiertagswochenende zur Arbeit gekommen war, aber ich war der Einzige, der es tat, weil meine Freigangsregelung mir nicht erlaubte, die Stadt zu verlassen.

Sie hatten mich schließlich für schuldig befunden, Mashas Handy gestohlen zu haben. Ist das zu glauben? Die Staatsanwaltschaft hatte mit meiner Anwältin den Deal gemacht, dass man alle Anklagepunkte zu †œelektronischem Terrorismus† und †œAufrührertum† fallen lassen würde, wenn ich mich im Gegenzug des minderschweren Diebstahls schuldig bekannte. Sie brummten mir drei Monate mit Freigang in einem Rehabilitationszentrum für jugendliche Straftäter in der Mission auf. Ich schlief im Wohnheim, in einem Gemeinschaftsschlafraum zusammen mit echten Kriminellen, Gang-Kids und Drogen-Kids, ein paar echten Bekloppten. Tagsüber war ich †œfrei†, rauszugehen und in meinem †œJob† zu arbeiten.

†œMarcus, sie lassen sie raus†, sagte sie.

†œWen?†

†œJohnstone, Carrie Johnstone. Das nichtöffentliche Militärtribunal hat sie von aller Schuld freigesprochen. Die Akte ist geschlossen, und sie kehrt in den aktiven Dienst zurück. Sie schicken sie in den Irak.†

Carrie Johnstone war der Name von Frau Strenger Haarschnitt. Das kam bei den vorläufigen Anhörungen am Kalifornischen Kammergericht heraus, aber das war auch schon so ziemlich das Einzige, was herauskam. Sie verweigerte jede Aussage darüber, von wem sie ihre Anweisungen erhalten hatte, was sie getan hatte, wer inhaftiert worden war und warum. Sie saß vor Gericht Tag für Tag einfach nur da, vollkommen schweigsam.

Die Bundesbehörden hatten sich mittlerweile aufgeplustert und über die †œeinseitige, illegale† Schließung der Treasure-Island-Anlage seitens des Gouverneurs sowie über die Ausweisung der Bundespolizei aus San Francisco durch den Bürgermeister beschwert. Eine Menge dieser Bullen waren in kalifornischen Gefängnissen gelandet, ebenso wie die Wachen aus Gitmo-an-der-Bay.

Dann kam einen Tag lang überhaupt keine Stellungnahme aus dem Weißen Haus und keine aus dem Staatskapitol. Und am nächsten Tag fand eine trockene, angespannte gemeinsame Pressekonferenz auf den Stufen des Gouverneurssitzes statt, bei der der Chef des DHS und der Gouverneur ihr †œÜbereinkommen† verkündeten.

Das DHS würde ein nichtöffentliches Militärtribunal einberufen, um †œmögliche Irrtümer in der Beurteilung† nach dem Anschlag auf die Bay Bridge aufzuklären. Das Tribunal würde jedes verfügbare Mittel einsetzen, um zu gewährleisten, dass kriminelle Handlungen angemessen bestraft würden. Im Gegenzug würde die Kontrolle über DHS-Operationen in Kalifornien an den Staatssenat übergehen, der die Macht haben würde, sämtliche Heimatschutzmaßnahmen im Bundesstaat zu beenden, zu untersuchen und neu zu bewerten.

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Der Aufschrei der Reporter war ohrenbetäubend gewesen, und Barbara hatte die erste Frage gestellt. †œMr. Gouverneur, bei allem gebotenen Respekt: Wir haben unwiderlegbare Videobeweise, dass Marcus Yallow, ein Bürger dieses Staates von Geburt an, einer simulierten Exekution ausgesetzt war, und zwar durch DHS-Beamte, die offenkundig auf Anweisung des Weißen Hauses handelten. Ist der Staat wirklich gewillt, jeden Anschein von Gerechtigkeit für seine Bürger im Angesicht illegaler, barbarischer Folter aufzugeben?† Ihre Stimme zitterte, aber sie brach nicht.

Der Gouverneur breitete die Arme aus. †œDie Militärtribunale werden der Gerechtigkeit Genüge tun. Wenn Mr. Yallow †“ oder irgendeine andere Person, die der Heimatschutzbehörde etwas vorzuwerfen hat †“ darüber hinaus Gerechtigkeit verlangt, so steht es ihm selbstverständlich frei, Wiedergutmachung einzuklagen, soweit sie ihm von seiten der Bundesregierung zusteht.†

Das tat ich auch. In der Woche nach der Ankündigung des Gouverneurs wurden mehr als zwanzigtausend Zivilklagen gegen das DHS erhoben. Meine wurde durch die ACLU vertreten, und man hatte bereits beantragt, Einsicht in die Ergebnisse der nichtöffentlichen Militärtribunale zu erhalten. Bislang standen die Gerichte diesem Ansinnen sehr wohlwollend gegenüber.

Aber damit hatte ich nicht gerechnet.

†œSie ist völlig ungeschoren rausgekommen?†

†œDie Pressemitteilung gibt nicht viel her. ,Nach gründlicher Untersuchung der Ereignisse in San Francisco und im Antiterror-Sonderlager auf Treasure Island ist dieses Tribunal zu dem Ergebnis gelangt, dass die Handlungen von Ms. Johnstone keine weiteren Disziplinarmaßnahmen rechtfertigen.†™ Da steht das Wort ,weiteren†™ †“ als ob man sie bereits bestraft hat.†

Ich schnaubte. Von Carrie Johnstone hatte ich seit meiner Freilassung aus Gitmo-an-der-Bay fast jede Nacht geträumt. Ich hatte ihr Gesicht drohend über mir schweben gesehen, dieses kleine dreckige Grinsen, als sie den Mann anwies, mir †œwas zu trinken† zu geben.

†œMarcus…†, begann Barbara, aber ich unterbrach sie.

†œIst okay. Es ist alles okay. Ich werde darüber ein Video machen. Und übers Wochenende stelle ich es online. Montage sind gute Tage für virale Clips. Jeder kommt aus dem Feiertagswochenende zurück und guckt, was es so Lustiges gibt zum Weiterleiten in der Schule oder im Büro.†

Ein Teil meines Deals mit dem Wohnheim war, dass ich zwei Mal pro Woche einen Psychoklempner besuchte. Seit ich darüber weg war, das als Bestrafung zu empfinden, war das eine echt gute Sache. Er half mir, mich auf konstruktive Dinge zu konzentrieren, wenn ich mich aufregte, statt mich von meinem Ärger auffressen zu lassen. Die Videos halfen dabei.

†œIch muss jetzt los†, sagte ich und schluckte dabei, um die Emotionen aus meiner Stimme rauszuhalten.

†œPass auf dich auf, Marcus†, sagte Barbara.

Als ich das Telefon weglegte, umarmte mich Ange von hinten. †œIch hab grade online davon gelesen†, sagte sie. Sie las eine Million Nachrichtenfeeds †“ mit einem Feedreader, der die Storys sofort saugte, sobald sie über den Ticker liefen. Sie war unsere offizielle Bloggerin, und sie machte den Job gut †“ sie schnitt die Nachrichten aus und stellte sie online wie ein Koch im Schnellrestaurant, der Frühstücksbestellungen umschlägt.

Ich drehte mich in ihren Armen um, um sie von vorn zu umarmen. Um bei der Wahrheit zu bleiben: Allzu viel Arbeit hatten wir heute noch nicht erledigt. Es war mir nicht erlaubt, das Wohnheim nach dem Abendessen noch mal zu verlassen, und sie durfte mich dort nicht besuchen. Also sahen wir uns im Büro, aber da waren meistens viele andere Leute, was unserer Fummelei ein bisschen abträglich war. Einen ganzen Tag mit ihr allein im Büro zu sein war eine zu starke Versuchung. Außerdem war es heiß und schwül, so dass wir beide Tanktops und Shorts trugen und beim Arbeiten nebeneinander eine Menge Hautkontakt hatten.

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†œIch mache ein Video†, sagte ich. †œIch will es heute noch veröffentlichen.†

†œGut†, sagte sie. †œPacken wirs an.†

Ange las die Pressemitteilung. Ich nahm einen kleinen Monolog auf und legte den Ton über die berühmten Bilder von mir auf dem Waterboard †“ wilder Augenausdruck im harten Scheinwerferlicht, strähniges Haar, tränen- und rotzüberströmt.

†œDas bin ich. Ich liege auf einem Waterboard. Ich werde mit einer simulierten Hinrichtung gefoltert. Die Folter wird von einer Frau namens Carrie Johnstone beaufsichtigt. Sie arbeitet für die Regierung. Ihr könntet sie noch von diesem Video kennen.†

Ich blendete über zu dem Film mit Johnstone und Kurt Rooney. †œHier sind Johnstone und Minister Kurt Rooney, der Chefstratege des Präsidenten.†

†œDie Nation liebt diese Stadt nicht. Aus ihrer Sicht ist es ein Sodom und Gomorra aus Schwuchteln und Atheisten, die es verdient haben, in der Hölle zu schmoren. Der einzige Grund dafür, dass sich das Land dafür interessiert, was man in San Francisco denkt, ist der glückliche Umstand, dass sie da von irgendwelchen islamischen Terroristen zur Hölle gebombt worden sind.†

†œEr redet über die Stadt, in der ich lebe. Nach letzten Zählungen wurden 4215 meiner Nachbarn an dem Tag getötet, von dem er redet. Aber einige von ihnen sind vielleicht nicht tot. Einige von ihnen sind in demselben Gefängnis verschwunden, in dem ich gefoltert wurde. Einige Mütter und Väter, Kinder und Geliebte, Brüder und Schwestern werden ihre Liebsten nie wiedersehen †“ weil sie insgeheim in einem illegalen Gefängnis mitten in der San Francisco Bay gefangen gehalten wurden. Es wurde dort sehr penibel Buch geführt, aber Carrie Johnstone hat die Chiffrierschlüssel dafür.† Ich schnitt wieder zu Carrie Johnstone, wie sie mit Rooney am Besprechungstisch saß und lachte.

Dann blendete ich die Bilder von Johnstones Verhaftung ein. †œAls man sie verhaftete, glaubte ich, wir würden Gerechtigkeit erfahren. All die Menschen, die sie brach und die verschwunden sind. Aber der Präsident…† †“ Schnitt zu einem Foto, das ihn während eines seiner vielen Urlaube lachend beim Golfspielen zeigte †“ †œ… und sein Chefstratege…† †“ jetzt ein Bild von Rooney beim Händeschütteln mit einem berüchtigten Terroristenführer, der mal auf †œunserer† Seite war †“ †œ… haben interveniert. Sie schickten sie vor ein geheimes Militärtribunal, das sie nun freigesprochen hat. Irgendwie sah man dort wohl nichts Falsches an all dem.†

Ich schnitt eine Fotomontage aus den Hunderten von Porträts von Gefangenen in ihren Zellen dazu, die Barbara am Tag unserer Freilassung auf der Website des Bay Guardian veröffentlicht hatte. †œWir haben diese Menschen gewählt. Wir bezahlen ihre Gehälter. Sie sollten auf unserer Seite sein. Sie sollten unsere Freiheiten verteidigen. Aber diese Menschen…† †“ eine Reihe von Bildern von Johnstone und den Anderen, die vor das Tribunal gesandt worden waren †“ †œhaben unser Vertrauen verraten. Bis zur Wahl sind es noch vier Monate. Das ist eine lange Zeit. Genug für euch, loszugehen und fünf von euren Nachbarn zu finden †“ fünf Leute, die das Wählen aufgegeben haben, weil ihre Wahl lautet,keiner der Obengenannten†™.

Redet mit euren Nachbarn. Lasst euch versprechen, dass sie zur Wahl gehen, lasst sie versprechen, dass sie sich das Land von den Folterknechten und Verbrechern zurückholen. Von den Leuten, die über meine Freunde lachten, als diese in ihrem nassen Grab am Grunde des Hafens lagen. Und lasst euch versprechen, dass sie ebenfalls mit ihren Nachbarn sprechen.

Die meisten von uns wählen ,keiner der Obengenannten†™. Aber das funktioniert nicht. Ihr müsst wählen †“ die Freiheit wählen.

Mein Name ist Marcus Yallow. Ich bin von meinem Land gefoltert worden, aber ich bin immer noch sehr gern hier. Ich bin siebzehn Jahre alt. Ich möchte in einem freien Land aufwachsen. Ich möchte in einem freien Land leben.†

Ich blendete zum Logo unserer Website aus. Die hatte Ange mit Jolus Hilfe aufgebaut, der uns bei Pigspleen so viel freien Speicherplatz besorgte, wie wir nur wollten.

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Das Büro war ein interessanter Ort. Offiziell hießen wir Wählerkoalition für ein freies Amerika, aber alle Welt nannte uns die Xnetter. Die Organisation, ein gemeinnütziges Non-Profit-Unternehmen, war von Barbara und einigen befreundeten Anwälten gleich nach der Befreiung von Treasure Island gegründet worden. Die Anschubfinanzierung hatten ein paar Technologie-Milliardäre übernommen, die es unglaublich fanden, dass eine Horde HackerKids das DHS in den Arsch getreten hatten. Manchmal baten sie uns, die Peninsula runter nach Sand Hill Road zu kommen, wo all die Risikokapitalgeber saßen, um eine kleine Präsentation der Xnet-Technik zu halten. Es gab ungefähr eine Zillion Start-Ups, die aus dem Xnet Kapital schlagen wollten.

Wie auch immer †“ ich musste mich um all das nicht kümmern, und ich hatte einen Schreibtisch und ein Büro mit einer Ladenfront mitten auf Valencia Street, wo wir ParanoidXBox-CDs unter die Leute brachten und Workshops zum Bau besserer WLAN-Antennen veranstalteten. Eine erstaunliche Zahl gewöhnlicher Leute schaute bei uns vorbei, um Spenden zu bringen, sowohl Hardware (ParanoidLinux läuft auf so ziemlich allem, nicht bloß auf der Xbox Universal) als auch Bargeld.

Unser Masterplan war, im September, rechtzeitig vor der Wahl, unser eigenes ARG zu starten und das Spiel möglichst eng daran zu binden, dass sich Leute in die Wählerverzeichnisse eintragen ließen und zur Wahl gingen. Nur 42 Prozent der Amerikaner waren bei der vorigen Wahl an den Urnen erschienen †“ Nichtwähler waren in der großen Mehrheit. Ich hatte Darryl und Van schon mehrfach zu unseren Planungssitzungen eingeladen, aber sie hatten immer wieder abgesagt. Sie verbrachten eine Menge Zeit miteinander, und Van bestand darauf, dass es nichts Romantisches war. Darryl wollte überhaupt nicht viel mit mir reden, aber er schickte mir lange E-Mails über so ziemlich alles, das nichts mit Van, Terrorismus oder dem Knast zu tun hatte.

Ange drückte meine Hand. †œGott, wie ich diese Frau hasse†, sagte sie.

Ich nickte. †œBloß eine weitere Fuhre Mist, die dieses Land über dem Irak auskippt†, sagte ich. †œIch glaube, wenn sie die in meine Stadt schicken würden, ich würde ein Terrorist werden.†

†œDu bist ein Terrorist geworden, als sie sie in deine Stadt geschickt haben.†

†œDas stimmt†, sagte ich.

†œGehst du am Montag zur Anhörung von Ms. Galvez?†

†œUnbedingt.†

Ich hatte Ange vor einigen Wochen Ms. Galvez vorgestellt, als meine ehemalige Lehrerin mich zum Abendessen eingeladen hatte. Die Lehrergewerkschaft hatte eine Anhörung vor der Schulbehörde organisiert, um zu erreichen, dass sie ihren alten Job zurückbekäme. Man sagte, dass Fred Benson aus dem Vorruhestand wiederkommen wolle, um gegen sie auszusagen. Ich freute mich drauf, sie wiederzusehen.

†œWollen wir uns einen Burrito holen?†

†œUnbedingt.†

†œIch hol nur schnell meine scharfe Sauce†, sagte sie.

Derweil rief ich noch mal meine E-Mail ab †“ meine Piratenpartei-Mail, wo immer noch ein paar Nachrichten von alten Xnettern aufliefen, die meine Adresse bei der Wählerkoalition noch nicht hatten.

Die letzte Nachricht kam von einer Wegwerf-Mailadresse von einem der neuen brasilianischen Anonymisierungsdienste.

> Hab sie gefunden, danke. Du hast mir gar nicht erzählt, dass sie so h31ß ist.

†œVon wem ist das denn?†

Ich lachte. †œZeb. Erinnerst du dich an Zeb? Ich hab ihm Mashas E-Mail-Adresse gegeben.

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Dachte mir, wenn sie schon beide im Untergrund sind, dann könnte ich sie auch gleich miteinander bekannt machen.†

†œEr findet Masha süß?†

†œDas musst du ihm nachsehen, sein Geist ist offensichtlich von den Umständen benebelt.†

†œUnd du?†

†œIch?†

†œJa, du †“ ist dein Geist auch von den Umständen benebelt?†

Ich hielt Ange auf Armabstand und betrachtete sie von oben bis unten, von oben bis unten. Ich berührte ihre Wangen und schaute durch ihre dickrandige Brille in ihre großen, kecken schrägen Augen. Ich ließ meine Finger durch ihr Haar gleiten.

†œAnge, in meinem ganzen Leben habe ich noch niemals klarer gedacht.†

Dann küsste sie mich, und ich küsste sie, und es dauerte noch eine ganze Weile, bis wir uns den Burrito holten. – Fortsetzung Kapitel 23

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Hintergründe, Handlung und weitere Informationen zu Little Brother findet ihr unter: Jugendthriller: Little Brother von Cory Doctorow komplett im Netz

Hier handelt es sich um die deutsche Übersetzung von Christian Wöhrl

Little Brother ist unter einem Creative Commons Namensnennung-Keine kommerzielle Nutzung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenzvertrag lizenziert.

Das Original wurde unter: http://craphound.com/littlebrother veröffentlicht.

Little Brother von Cory Doctorow: Kapitel 21

Little Brother

Kapitel 21

Dieses Kapitel ist Pages Books in Toronto, Kanada gewidmet. Pages gehört schon seit ewig zum Inventar auf der mega-angesagten Queen Street West; er liegt gegenüber von CityTV und nur ein paar Türen entfernt vom alten Bakka, wo ich arbeitete. Wir bei Bakka fanden es großartig, Pages in derselben Straße zu haben †“ was wir für Science Fiction waren, waren sie dort für alles andere: handverlesenes Material, Sachen, die du sonst niemals finden würdest; Sachen, von denen du gar nicht wusstest, dass du sie suchst, bis du sie dort siehst. Pages hat außerdem eine der besten Zeitschriften-Abteilungen, die ich je gesehen habe, reihenweise unglaubliche Magazine aus der ganzen Welt.

Pages Books:

http://pagesbooks.ca/

256 Queen St W, Toronto, ON M5V 1Z8 Canada +1 416 598 1447

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Dann ließen sie mich und Barbara im Zimmer allein, und ich benutzte den funktionierenden Duschkopf, um mich abzubrausen †“ jetzt plötzlich war es mir peinlich, bepisst und bespuckt dazustehen. Als ich fertig war, weinte Barbara.

†œDeine Eltern…†, fing sie an.

Ich dachte, ich müsse gleich wieder spucken. Oh Gott, meine arme Familie. Was mussten die bloß durchgemacht haben.

†œSind sie hier?†

†œNein†, sagte sie. †œDas ist kompliziert.†

†œWas?†

†œDu bist immer noch in Haft, Marcus. Jeder hier ist noch in Haft. Sie können hier nicht einfach reinsausen und alle Türen aufreißen. Jeder hier muss durch die reguläre Strafgerichtsbarkeit geschleust werden. Und das könnte, also, es könnte Monate dauern.†

†œIch soll noch monatelang hier bleiben?†

Sie fasste mich bei den Händen. †œNein, ich denke, wir werden das anfechten und dich ziemlich schnell auf Kaution rausbekommen. Aber ,ziemlich schnell†™ ist relativ. Ich würde nicht damit rechnen, dass heute noch was passiert. Und es wird nicht mehr so sein wie bei diesen Leuten. Es wird human sein. Es wird richtiges Essen geben. Keine Befragungen. Besuche von deiner Familie.

Nur weil das DHS raus ist, kannst du noch lange nicht einfach so von hier verschwinden. Was gerade passiert ist, das ist, dass wir die Bizarro-Version ihres Justizsystems gekippt haben und wieder das alte System einführen. Das System mit Richtern, öffentlichen Verhandlungen und Anwälten.

Wir könnten also versuchen, dich in eine Jugendstrafanstalt auf dem Festland zu verlegen, aber Marcus, diese Orte können wirklich heftig sein. Sehr, sehr hart. Dies hier könnte für dich der beste Platz sein, bis wir dich auf Kaution freibekommen.†

Auf Kaution freibekommen. Na klar. Ich war ein Krimineller †“ ich war noch nicht angeklagt, aber das mussten wohl Dutzende von Anklagepunkten sein, die sie gegen mich auffahren konnten. Es war ja praktisch illegal, auch nur unreine Gedanken über die Regierung zu denken.

Sie drückte wieder meine Hände. †œEs ist Mist, aber so muss es nun mal laufen. Hauptsache, es ist vorbei. Der Gouverneur hat das DHS rausgeworfen und alle Checkpoints abgebaut. Der Staatsanwalt hat Haftbefehle gegen alle Vollstreckungsbeamten erlassen, die in ,Stressbefragungen†™ und Geheimgefängnisse involviert waren. Die werden alle in den Knast wandern, und zwar wegen allem, was du getan hast, Marcus.†

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Ich war wie betäubt. Ich hörte die Worte, aber ich begriff ihren Sinn nicht. Irgendwie war es vorbei, aber auch wieder nicht.

†œHör mal†, sagte sie. †œWir haben vielleicht noch eine oder zwei Stunden, bevor sich das hier alles wieder beruhigt und sie kommen, um dich wieder einzusperren. Was willst du machen? Am Strand spazierengehen? Etwas essen? Diese Leute hier hatten ein unglaubliches Stabskasino †“ das haben wir auf dem Weg hier rein geplündert. Essen vom Allerfeinsten.†

Endlich eine Frage, die ich beantworten konnte. †œIch will Ange finden. Und ich will Darryl finden.†

Ich versuchte ihre Zellennummern in einem Computer nachzuschauen, aber der verlangte ein Passwort, und so blieb uns nichts übrig, als die Flure entlangzuwandern und ihre Namen zu rufen. Von hinter den Zellentüren riefen Gefangene uns etwas zurück, weinten oder bettelten uns an, sie gehen zu lassen. Sie begriffen noch nicht, was gerade eben passiert war, sie konnten nicht sehen, wie ihre früheren Bewacher in Plastikhandschellen auf den Docks zusammengetrieben und von kalifornischen SWAT(7)-Teams weggebracht wurden.

(7) Spezialeinheit der US-Polizeibehörde, A.d.Ü

†œAnge!†, brüllte ich über den Lärm hinweg, †œAnge Carvelli! Darryl Glover! Ich bins, Marcus!† Wir hatten den Zellentrakt auf ganzer Länge abgewandert, und sie hatten nicht geantwortet. Mir war nach Heulen zumute. Sie waren also außer Landes gebracht worden †“ nach Syrien oder noch schlimmer. Ich würde sie nie wiedersehen.

Ich hockte mich hin, lehnte mich an die Flurwand und verbarg mein Gesicht in den Händen. Ich sah das Gesicht von Frau Strenger Haarschnitt, sah ihr Grinsen, als sie nach meinem Login fragte. Sie hatte das getan. Sie würde dafür ins Gefängnis gehen, aber das reichte mir nicht. Ich dachte, wenn ich sie wiedersähe, würde ich sie töten. Sie hätte es verdient.

†œKomm schon†, sagte Barbara, †œkomm weiter, Marcus. Gib nicht auf. Hier gehts noch weiter, komm schon.†

Sie hatte Recht. Alle Türen, an denen wir in dem Zellentrakt vorbeigekommen waren, waren alte, verrostete Dinger aus der Entstehungszeit dieser Basis. Aber ganz am Ende des Flurs war eine neue Hochsicherheitstür angelehnt, dick wie ein Wörterbuch. Wir zogen sie auf und wagten uns in den dunklen Flur dahinter.

Hier gab es noch vier Zellentüren ohne Strichcodes. Auf jeder war eine kleine Zifferntastatur montiert.

†œDarryl?†, sagte ich. †œAnge?†

†œMarcus?†

Es war Ange, die mir aus der hintersten Tür zurief. Ange, meine Ange, mein Engel.

†œAnge!†, rief ich. †œIch bins, ich bins!†

†œOh Gott, Marcus†, presste sie noch hervor, der Rest ging in ihrem Schluchzen unter.

Ich hämmerte an die anderen Türen. †œDarryl! Darryl, bist du hier?†

†œIch bin hier.† Die Stimme war sehr dünn und sehr heiser. †œIch bin hier. Es tut mir so, so Leid. Bitte. Es tut mir so Leid.†

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Er klang… gebrochen. Zerstört.

†œIch bins, D†, sagte ich, mein Gesicht dicht an die Tür gepresst. †œIch bins, Marcus. Es ist vorbei †“ sie haben die Wachen verhaftet. Sie haben die Heimatschutzbehörde rausgekickt. Wir kriegen Verhandlungen, öffentliche Verhandlungen. Und wir werden gegen sie aussagen.†

†œEs tut mir Leid†, sagte er nur. †œBitte, es tut mir so Leid.†

In diesem Moment erschienen die kalifornischen Polizisten in der Tür. Ihre Kamera lief immer noch. †œMs. Stratford?†, sagte einer. Er hatte sein Visier oben und sah aus wie jeder andere Polizist, nicht wie mein Retter. Wie jemand, der gekommen war, um mich wegzusperren.

†œCaptain Sanchez†, sagte sie, †œwir haben hier zwei der wichtigeren Gefangenen gefunden. Ich möchte Zugang zu ihnen erhalten und sie selbst in Augenschein nehmen.†

†œMa†™am, für diese Türen haben wir noch keine Zugangscodes.†

Sie hob die Hand. †œDas war nicht so abgemacht. Ich sollte unbegrenzten Zugang zu allen Bereichen dieser Anlage erhalten. Das kam direkt vom Gouverneur, Sir. Wir werden uns hier nicht rühren, bevor Sie diese Zellen geöffnet haben.†

Ihr Gesicht war vollkommen unbewegt, sie zeigte kein Anzeichen von Nachgiebigkeit. Sie meinte das so.

Der Captain sah aus, als brauche er Schlaf. Er zog eine Grimasse. †œIch werde sehen, was ich tun kann†, sagte er.

Eine halbe Stunde später hatten sie es geschafft, die Türen zu öffnen. Sie brauchten drei Versuche, aber schließlich gaben sie die richtigen Codes ein, nachdem sie sie mit den RFIDs in den Identifikationsmarken abgeglichen hatten, die sie den festgenommenen Wachen abgenommen hatten.

Sie betraten Anges Zelle zuerst. Sie war in einen Krankenhauskittel gehüllt, der hinten offen war, und ihre Zelle war sogar noch karger als meine †“ nur Polsterung rundum, kein Waschbecken, kein Bett, kein Licht. Sie trat blinzelnd in den Flur hinaus, und die Polizeikamera hielt auf sie drauf, das grelle Licht frontal in ihr Gesicht. Barbara trat schützend zwischen uns und die Kamera. Ange kam zögernd und leicht schwankend heraus. Mit ihren Augen und ihrem Gesicht stimmte etwas nicht. Sie weinte, aber das wars nicht.

†œDie haben mir Medikamente gegeben†, sagte sie. †œAls ich nicht aufgehört habe, nach einem Anwalt zu schreien.†

Ich zog sie in meine Arme. Sie ließ sich fallen, aber sie erwiderte die Umarmung. Sie roch miefig und verschwitzt, und ich roch nicht besser. Ich wollte sie nie wieder loslassen.

Und dann öffneten sie Darryls Zelle.

Er hatte seinen papiernen Krankenhauskittel zerrissen. Nackt lag er zusammengerollt in der hintersten Ecke der Zelle und versuchte sich vor der Kamera und unseren Blicken zu verbergen. Ich rannte zu ihm.

†œD†, flüsterte ich ihm ins Ohr. †œD, ich bins. Marcus. Es ist vorbei. Die Wachen sind verhaftet. Wir kommen auf Kaution raus, wir gehen nach Hause.†

Er zitterte und kniff die Augen zu. †œEs tut mir Leid†, flüsterte er und drehte sein Gesicht zur Wand.

Dann brachten sie mich weg, ein Polizist in Panzerweste und Barbara; sie brachten mich zu meiner Zelle und verschlossen die Tür, und dort verbrachte ich die Nacht.

An die Fahrt zum Gerichtsgebäude erinnere ich mich nur vage. Sie hatten mich an fünf andere Gefangene gekettet, die alle schon viel länger eingesessen hatten als ich. Einer sprach nur Arabisch †“ er war ein alter Mann, und er zitterte. Die anderen waren alle jung. Ich war der einzige Weiße. Als wir alle auf dem Deck der Fähre zusammengepfercht waren, sah ich, dass fast jeder auf Treasure Island eine mehr oder weniger braune Hautfarbe hatte.

Ich war nur eine Nacht drin gewesen, aber das war schon zu lange. Ein leichter Nieselregen perlte auf uns herunter, normalerweise die Sorte Wetter, bei dem ich die Schultern einzog und auf den Boden guckte; aber heute reckte ich wie alle anderen meinen Hals nach dem unendlichen grauen Himmel und genoss die stechende Nässe, während wir über die Bay und den Fähranlegern entgegenbrausten.

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Sie fuhren uns in Bussen weiter. Die Fesseln machten das Einsteigen mühselig, und es dauerte eine Ewigkeit, bis alle eingestiegen waren. Niemanden kümmerte es. Wenn wir uns nicht gerade abmühten, das geometrische Problem †œSechs Mann, eine Kette, schmaler Gang† zu lösen, dann betrachteten wir bloß die Stadt um uns herum, die vielen Häuser oben auf dem Hügel.

Alles, woran ich denken konnte, war, Darryl und Ange zu finden, aber keiner von beiden war zu sehen. Es war eine riesige Menge, und es war uns nicht erlaubt, uns frei darin zu bewegen. Die Nationalgardisten, die sich um uns kümmerten, waren einigermaßen freundlich, aber sie waren nichtsdestotrotz groß, gepanzert und bewaffnet. Ich dachte ständig, ich würde Darryl in der Menge sehen, aber es war immer jemand anderer mit demselben geprügelten, gebeugten Ausdruck, den ich an ihm in seiner Zelle gesehen hatte. Er war nicht der einzige Gebrochene hier.

Im Gerichtsgebäude führten sie uns in unseren Fesselgrüppchen in Befragungsräume. Eine ACLU-Anwältin nahm unsere Daten auf, stellte uns einige Fragen †“ als ich an der Reihe war, lächelte sie und begrüßte mich mit Namen †“ und führte uns dann in den Gerichtssaal und vor den Richter. Er trug eine richtige Robe und schien gut gelaunt zu sein.

Es schien vereinbart zu sein, dass jeder, für den ein Familienmitglied Kaution hinterlegen konnte, freigelassen wurde und alle anderen ins Gefängnis kamen. Die ACLU-Anwältin redete auf den Richter ein und bat um einige Stunden Aufschub, während derer die Angehörigen der Gefangenen aufgetrieben und zum Gerichtsgebäude gebracht wurden. Der Richter war ziemlich wohlwollend, aber als mir klar wurde, dass einige von den Leuten hier schon seit dem Tag des Attentats inhaftiert waren, ohne jedes Verfahren, Verhören, Isolation und Folter ausgeliefert, während ihre Familien sie tot glaubten, da hätte ich nur noch die Ketten zerreißen und sie alle einfach freilassen mögen.

Als ich dem Richter vorgeführt wurde, sah er auf mich herunter und nahm seine Brille ab. Er sah müde aus. Die ACLU-Anwältin sah müde aus. Die Gerichtsdiener sahen müde aus. Hinter mir konnte ich ein plötzliches Aufbranden von Gesprächen hören, als ein Gerichtsdiener meinen Namen verlas. Der Richter pochte einmal mit seinem Hammer, ohne den Blick von mir abzuwenden. Er rieb sich über die Augen.

†œMr. Yallow†, sagte er, †œdie Anklage hat Sie als fluchtverdächtig eingestuft. Ich denke, das ist nicht von der Hand zu weisen. Sie haben mehr, sagen wir mal, Geschichte als die anderen Leute hier. Ich bin versucht, Sie bis zum Verfahren festzusetzen, unabhängig davon, wie viel Kaution Ihre Eltern zu hinterlegen bereit sind.†

Meine Anwältin hob an zu sprechen, doch der Richter bedeutete ihr mit einem Blick zu schweigen. Er rieb sich wieder die Augen.

†œHaben Sie etwas dazu zu sagen?†

†œIch hatte Gelegenheit zu fliehen†, sagte ich. †œLetzte Woche. Jemand hatte mir angeboten, mich fortzubringen, weg aus der Stadt, und mir eine neue Identität aufzubauen. Stattdessen habe ich dieser Frau das Telefon gestohlen, bin aus unserem Lastwagen abgehauen und fortgerannt. Ich habe ihr Telefon †“ auf dem sich Beweise über meinen Freund Darryl Glover befanden †“ einer Journalistin übergeben und mich dann hier, in der Stadt, versteckt.†

†œSie haben ein Telefon gestohlen?†

†œIch war zu der Erkenntnis gelangt, dass ich nicht weglaufen durfte. Dass ich mich der Justiz zu stellen hatte †“ dass meine Freiheit nichts wert war, solange ich gesucht wurde oder solange meine Stadt noch dem DHS unterworfen war. Solange meine Freunde immer noch eingesperrt waren. Und dass meine Freiheit nicht so wichtig war wie die Freiheit des Landes.†

†œAber Sie haben ein Telefon gestohlen.†

Ich nickte. †œJa, das habe ich. Ich beabsichtige es zurückzugeben, sobald ich die fragliche junge Frau finde.†

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†œNun, ich danke Ihnen für diese Rede, Mr. Yallow. Sie sind ein sehr eloquenter junger Mann.† Er fixierte den Staatsanwalt. †œMancher würde sagen, auch ein sehr mutiger Mann. Heute früh lief in den Nachrichten ein gewisses Video, das die Annahme rechtfertigt, dass Sie gute Gründe hatten, den Strafverfolgungsbehörden aus dem Weg zu gehen. Vor diesem Hintergrund und eingedenk Ihrer kleinen Rede hier werde ich Kaution gewähren, aber ich werde veranlassen, dass die Anklage gegen Sie um den Punkt minderschweren Diebstahls im Hinblick auf das Telefon ergänzt wird. Diesbezüglich setze ich zusätzlich 50.000 Dollar Kaution fest.†

Er pochte wieder mit dem Hammer, und meine Anwältin drückte mir die Hand.

Er schaute wieder herunter zu mir und rückte seine Brille zurecht. Er hatte Schuppen auf den Schultern seiner Robe. Als die Brille sein drahtiges, lockiges Haar berührte, rieselten noch einige mehr herab.

†œSie können jetzt gehen, junger Mann. Halten Sie sich von Ärger fern.†

Ich wandte mich zum Gehen, als mich jemand tackelte. Es war Dad. Er riss mich wortwörtlich von den Füßen und umarmte mich so stürmisch, dass meine Rippen knirschten. Er drückte mich genau so, wie ich das von früher in Erinnerung hatte, als ich ein kleiner Junge war: als er mich in großartigen, schwindelerregenden Flugzeugspielen um sich herumschleuderte, mich in die Luft warf, auffing und dann eben drückte, so fest, dass es beinahe wehtat.

Ein Paar weicherer Hände entzog mich sanft seinen Armen. Mom. Sie hielt mich einen Moment lang auf Armlänge, suchte irgendetwas in meinem Gesicht und sprach kein Wort, während ihr die Tränen übers Gesicht rannen. Sie lächelte, aus dem Lächeln wurde wieder ein Schluchzen, und dann hielt sie mich fest, während Dads Arm uns beide umfasste.

Als sie mich losließen, gelang es mir endlich, etwas zu sagen. †œDarryl?†

†œSein Vater hat mich anderswo getroffen. Er ist im Krankenhaus.†

†œWann kann ich ihn sehen?†

†œDas ist unsere nächste Station†, sagte Dad mit finsterer Miene. †œEr ist nicht…† Er brach ab. Dann: †œSie sagen, er wird sich berappeln.† Seine Stimme klang erstickt.

†œUnd was ist mit Ange?†

†œIhre Mutter hat sie nach Hause gebracht. Sie wollte hier auf dich warten, aber…†

Ich verstand. Ich war jetzt voller Verständnis für all die Familien all der Leute, die sie weggesperrt hatten. Überall im Gerichtssaal wurde geweint und umarmt, nicht einmal die Gerichtsdiener konnten sich mehr zurückhalten.

†œLasst uns zu Darryl gehen†, sagte ich. †œUnd darf ich euer Handy leihen?†

Ich rief Ange auf dem Weg zum Krankenhaus an, in das sie Darryl gebracht hatten †“ San Francisco General, von uns aus bloß die Straße runter -, um mich mit ihr für nach dem Essen zu verabreden. Sie sprach in gehetztem Flüsterton. Ihre Mutter war noch unschlüssig, ob sie sie nun bestrafen sollte oder nicht, und Ange wollte das Schicksal nicht herausfordern.

Auf dem Flur, auf dem Darryl untergebracht war, standen zwei Nationalgardisten. Sie wehrten einen Pulk von Reportern ab, die auf Zehenspitzen standen, um einen Blick und ein Foto zu erhaschen. Die Blitze explodierten wie Stroboskope in unseren Agen, und ich schüttelte den Kopf, um den Blick wieder klar zu bekommen. Meine Eltern hatten mir saubere Klamotten mitgebracht, die ich auf dem Rücksitz angezogen hatte, aber ich fühlte mich immer noch ekelhaft, obwohl ich mich im Waschraum des Gerichts abgeschrubbt hatte.

Einige der Reporter riefen meinen Namen. Ach ja, ich war jetzt berühmt. Auch die Nationalgardisten warfen mir Blicke zu †“ entweder sie erkannten mein Gesicht oder meinen Namen, den die Reporter riefen.

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Darryls Vater traf uns an der Tür zu seinem Krankenzimmer; er sprach im Flüsterton, so dass die Reporter nichts aufschnappen konnten. Er war in Zivil, in Jeans und Pulli, wie ich ihn kannte, aber er hatte sich die Dienstabzeichen an die Brust geheftet.

†œEr schläft†, sagte er. †œVor einer Weile ist er aufgewacht und hat geweint. Er hat überhaupt nicht mehr aufgehört. Dann haben sie ihm etwas gegeben, um ihm beim Einschlafen zu helfen.†

Er führte uns hinein, und da lag Darryl, das Haar gewaschen und gekämmt, und schlief mit offenem Mund. In seinen Mundwinkeln war irgendwas Weißes zu sehen. Er hatte ein halbprivates Zimmer, und im anderen Bett lag ein älterer arabisch aussehender Typ in den Vierzigern. Ich erkannte ihn als denjenigen, mit dem ich auf dem Rückweg von Treasure Island zusammengekettet gewesen war. Wir winkten uns verlegen zu.

Dann wandte ich mich wieder Darryl zu. Ich nahm seine Hand. Seine Nägel waren bis aufs Fleisch abgekaut. Als Kind war er ein Nägelkauer gewesen, aber an der Highschool hatte er sichs abgewöhnt. Ich glaube, Van hatte es ihm ausgeredet, indem sie ihm erklärte, wie eklig es war, dass er ständig die Finger im Mund hatte.

Ich hörte, wie meine Eltern und Darryls Dad einen Schritt zurücktraten und die Gardinen um uns zuzogen. Ich legte meinen Kopf aufs Kissen neben seinen. Er hatte einen strähnigen, unregelmäßigen Bart, der mich an Zeb erinnerte.

†œHey, D†, sagte ich. †œDu hast es geschafft. Du kommst wieder auf die Beine.† Er schnarchte ein wenig. Fast hätte ich †œIch liebe dich† gesagt, ein Satz, den ich erst zu einem einzigen Menschen außerhalb der Familie gesagt hatte und der sich merkwürdig anhörte, wenn man ihn zu einem anderen Typen sagte.

Schließlich drückte ich bloß noch einmal seine Hand. Armer Darryl. – Fortsetzung Kapitel 22

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Hintergründe, Handlung und weitere Informationen zu Little Brother findet ihr unter: Jugendthriller: Little Brother von Cory Doctorow komplett im Netz

Hier handelt es sich um die deutsche Übersetzung von Christian Wöhrl

Little Brother ist unter einem Creative Commons Namensnennung-Keine kommerzielle Nutzung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenzvertrag lizenziert.

Das Original wurde unter: http://craphound.com/littlebrother veröffentlicht.

Little Brother von Cory Doctorow: Kapitel 20

Little Brother

Kapitel 20

Dieses Kapitel ist The Tattered Cover gewidmet, Denvers legendärer unabhängiger Buchhandlung. Auf The Tattered Cover bin ich eher zufällig gestoßen: Alice und ich waren gerade aus London kommend in Denver gelandet, es war früh am Morgen, es war kalt, und wir brauchten Kaffee. Wir fuhren im Mietwagen ziellos im Kreis, und da sah ich es, das Tattered-Cover-Schild. Irgendein Glöckchen klingelte bei mir- ich wusste, davon hatte ich schon mal was gehört. Wir parkten, tranken einen Kaffee und betraten den Laden †“ ein Wunderland aus dunklem Holz, lauschigen Lesenischen und meilenweise Bücherregalen.

The Tattered Cover

http://www.tatteredcover.com/NASApp/store/Product?s=showproduct&isbn=9780765319852

1628 16th St., Denver, CO USA 80202+1 303 436 1070

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Keiner der drei Jungs war momentan zu sehen, und ich ging los. Mein Kopf schmerzte so sehr, dass ich glaubte, er müsse bluten, aber meine prüfenden Hände blieben trocken. Mein lädierter Knöchel war im Truck steifgefroren, deshalb lief ich wie eine kaputte Marionette, doch ich hielt nur ein einziges Mal an, um den Löschvorgang auf Mashas Handy abzubrechen. Den Funk schaltete ich aus, um den Akku zu schonen und damit man mich nicht darüber orten konnte, und ich stellte es so ein, dass es erst nach zwei Stunden auf Standby ging †“ das war die längste einstellbare Zeit.

Ich versuchte die Passwortabfrage beim Starten aus Standby auszuschalten, aber diese Einstellung erforderte selbst wieder ein Passwort. Also musste ich zumindest ein Mal alle zwei Stunden irgendwas tippen, bis ich eine Möglichkeit bekam, das Bild aus dem Handy zu überspielen. Und ich musste ein Ladegerät besorgen.

Ich hatte keinen Plan. Ich brauchte aber einen. Ich musste mich mal irgendwo hinsetzen, online gehen †“ einfach mal austüfteln, was ich als Nächstes tun sollte. Ich hatte es so satt, andere Leute meine Pläne machen zu lassen. Ich wollte nicht mehr handeln, weil Masha irgendwas getan hatte, oder wegen des DHS oder wegen meines Vaters. Oder wegen Ange? Na, vielleicht würde ich Ange zuliebe handeln. Doch, das wäre wohl das Richtige.

Ich war einfach nur talwärts gestromert, so oft wie möglich auf Nebenstraßen, und war jetzt ein Teil der Menge im Tenderloin. Ich hatte kein bestimmtes Ziel. Alle paar Minuten steckte ich die Hand in die Tasche, um eine der Tasten auf Mashas Handy zu drücken, damit es nicht auf Standby ging. Aufgeklappt machte es eine scheußliche Ausbuchtung in meiner Tasche.

Ich blieb stehen und lehnte mich an ein Gebäude. Mein Knöchel brachte mich bald um. Und überhaupt: Wo war ich?

O†™Farrell Ecke Hyde Street. Vor einem dubiosen †œAsiatischen Massagesalon†. Meine heimtückischen Füße hatten mich bis ganz an den Anfang zurückgebracht †“ dorthin, wo das Foto auf Mashas Handy aufgenommen worden war, unmittelbar bevor die Bay Bridge hochging, bevor mein Leben sich für immer änderte.

Mir war danach, mich auf den Bürgersteig zu setzen und zu heulen, aber das würde meine Probleme nicht lösen.

Ich musste Barbara Stratford anrufen und ihr erzählen, was geschehen war. Musste ihr das Foto von Darryl zeigen.

Ach, was dachte ich denn? Ich musste ihr das Video zeigen, das eine, das Masha mir geschickt hatte †“ das, in dem der Stabschef des Präsidenten sich an den Anschlägen auf San Francisco geweidet hatte, in dem er zugegeben hatte, dass er wusste, wann und wo die nächsten Anschläge stattfinden würden, und dass er sie nicht zu stoppen gedenke, weil sie seinem Chef die Wiederwahl sichern würden.

Na, das war doch mal ein Plan: mit Barbara in Kontakt treten, ihr die Dokumente geben und sie in Druck bringen.

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Der VampMob musste die Leute wirklich ziemlich verstört haben, so dass sie jetzt dachten, dass wir wirklich ne Horde Terroristen waren.Als ich es geplant hatte, hatte ich natürlich nur dran gedacht, was für eine tolle Ablenkung es sein würde, und nicht, wie es auf irgendeinen NASCAR-Dad in Nebraska wirken würde.

Ich würde also Barbara anrufen, und ich würde clever sein dabei: aus einem Münztelefon, Kapuze auf, so dass die unvermeidliche Überwachungskamera kein Foto von mir bekäme. Ich grub einen Quarter aus meiner Tasche und polierte ihn am T-Shirt-Saum, um meine Fingerabdrücke abzuwischen.

Ich ging immer weiter runter in Richtung der BART-Station mit ihren Münztelefonen. Ich schaffte es bis zur Straßenbahnhaltestelle, als ich die Titelseite des aktuellen †œBay Guardian† sah, auf einem hohen Stapel neben einem farbigen Obdachlosen, der mich angrinste. †œNa los, lies die Schlagzeilen, ist gratis. Reingucken kostet dich aber 50 Cent.†

Der Aufmacher war in der größten Typo gesetzt, die ich seit dem 11. September gesehen hatte:

IN GUANTANAMO-AN-DER-BAY

Darunter, in kaum kleinerer Schrift:

†œWie das DHS unsere Kinder und Freunde in Geheimgefängnissen vor unserer Haustür gefangen hält.

Von Barbara Stratford, exklusiv im Bay Guardian†

Der Zeitungsverkäufer schüttelte den Kopf. †œKannste das glauben?†, sagte er. †œHier mitten in San Francisco. Mann, die Regierung ist scheiße.†

Theoretisch war der †œGuardian† gratis, aber dieser Typ schien alle Exemplare in der Gegend abgegriffen zu haben. Ich hatte einen Quarter in der Hand, ließ ihn in seinen Becher fallen und angelte nach einem zweiten. Dieses Mal machte ich mir nicht die Mühe, meine Fingerabdrücke zu beseitigen.

†œMan sagte uns, die Welt habe sich für immer geändert, als die Bay Bridge von unbekannten Tätern in die Luft gejagt wurde. Tausende unserer Freunde und Nachbarn starben an jenem Tag. Kaum ein Opfer wurde jemals geborgen †“ ihre sterblichen Überreste ruhen, so nahmen wir es bislang an, am Grund des Hafens dieser Stadt.

Doch eine außergewöhnliche Geschichte, die dieser Reporterin von einem jungen Mann zugetragen wurde, der vom DHS Minuten nach der Explosion festgenommen wurde, lässt darauf schließen, dass unsere eigene Regierung viele derer, die wir tot glaubten, auf Treasure Island gefangen hält †“ jener Insel, die kurz nach dem Anschlag evakuiert und zum Sperrgebiet erklärt wurde.†

Ich setzte mich auf eine Bank †“ dieselbe Bank, wie ich mit kräuselndem Nackenhaar merkte, auf die wir Darryl nach der Flucht aus der BART-Station gebettet hatten †“ und las den Artikel von vorn bis hinten. Es kostete mich eine Menge Anstrengung, nicht auf der Stelle in Tränen auszubrechen. Barbara hatte ein paar Schnappschüsse von Darryl und mir bei gemeinsamen Abenteuern aufgetrieben und ihrem Text zur Seite gestellt. Die Fotos waren vielleicht ein Jahr alt, aber ich sah auf ihnen so viel jünger aus †“ als ob ich erst zehn oder elf wäre. In den letzten paar Monaten war ich ziemlich erwachsen geworden.

Der Artikel war wundervoll geschrieben. Ich spürte Zorn in mir hochsteigen darüber, wie man diesen armen Kids mitgespielt hatte; dann fiel mir wieder ein, dass sie ja über mich schrieb. Zebs Nachricht war abgedruckt, seine winzige Handschrift auf die halbe Zeitungsseite aufgeblasen. Barbara hatte noch mehr Infos über andere Kids recherchiert, die vermisst waren und als wahrscheinlich tot galten, eine lange Liste; und sie stellte die Frage, wie viele von ihnen lediglich dort auf der Insel festgehalten wurden, nur ein paar Meilen von den elterlichen Türen.

Ich kramte einen weiteren Quarter aus meiner Tasche, dann überlegte ich es mir anders.

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Wie wahrscheinlich war es denn, dass Barbaras Telefon nicht angezapft wurde? Es gab keine Möglichkeit für mich, sie jetzt anzurufen, jedenfalls nicht direkt. Ich brauchte einen Mittelsmann, der sie kontaktieren und sie dazu bringen musste, mich irgendwo im Süden zu treffen. So viel zum Thema Pläne.

Was ich wirklich dringend brauchte, war das Xnet.

Aber wie zum Teufel konnte ich online gehen? Der WLAN-Finder meines Handys blinkte wie bescheuert †“ um mich rum alles drahtlos, aber ich hatte weder eine Xbox und einen Fernseher, noch eine ParanoidXbox-DVD, um davon zu booten. WLAN, WLAN überall…

Und da sah ich sie. Zwei Kids, etwa mein Alter, unterwegs in der Masse, oben auf der Treppe runter zur BART.

Was meine Aufmerksamkeit erregte, war ihre Art, sich zu bewegen; etwas unbeholfen rempelten sie die Pendler und die Touristen an. Jeder hatte eine Hand in der Tasche, und sooft sich ihre Blicke trafen, kicherten sie. Noch auffälliger hätten sie ihre Jammerei nicht betreiben können, aber die Menge ignorierte sie. Wenn du da unten in diesem Viertel bist, rechnest du ständig damit, irgendwelche Obdachlosen und Spinner abwimmeln zu müssen, also nimmst du keinen Blickkontakt auf; du vermeidest es überhaupt tunlichst, dich umzuschauen.

Ich näherte mich einem von ihnen. Er wirkte ziemlich jung, obwohl er vermutlich kaum jünger war als ich.

†œHey†, sagte ich. †œHey, könnt ihr Jungs mal einen Moment herkommen?† Er tat so, als hörte er mich nicht. Er sah gradewegs durch mich durch, so wie du es mit einem Obdachlosen machen würdest.

†œKomm schon. Ich hab nicht viel Zeit.† Ich griff ihn an der Schulter und zischte ihm ins Ohr: †œDie Bullen sind hinter mir her. Ich bin vom Xnet.†

Jetzt sah er ängstlich aus, als wolle er jeden Moment weglaufen, und sein Freund kam auf uns zu. †œIch meins ernst†, sagte ich. †œHört mir bloß mal zu.†

Sein Freund erreichte uns. Er war größer und stämmig †“ wie Darryl. †œEy†, sagte er, †œstimmt was nicht?†

Sein Freund flüsterte ihm was ins Ohr. Beide sahen so aus, als wollten sie dichtmachen.

Ich zog mein Exemplar des †œBay Guardian† unterm Arm hervor und wedelte ihnen damit vor der Nase rum.

†œSchlagt einfach mal Seite 5 auf, ja?†

Sie taten es. Sie betrachteten die Schlagzeile. Das Foto. Mich.

†œOoh, Alter!†, sagte der erste. †œWir sind sooo unwürdig.† Er grinste mich an wie völlig durchgeknallt, und der Stämmigere klopfte mir auf den Rücken.

†œIsnichwahr†, sagte er. †œDu bist M…†

Ich hielt ihm den Mund zu. †œKommt mal hier rüber, okay?† Ich schleppte sie zu meiner Bank zurück. Dabei fielen mir alte, braune Flecken auf dem Bürgersteig darunter ins Auge. Darryls Blut? Ich bekam Gänsehaut. Wir setzten uns hin.

†œIch bin Marcus†, sagte ich. Es kostete mich einige Überwindung, diesen beiden, die mich schon als M1k3y kannten, meinen Realnamen zu nennen. Ich gab damit meine Deckung auf, aber gut, der †œBay Guardian† hatte die Verbindung ja ohnehin schon hergestellt.

†œNate†, sagte der Kleine. †œLiam†, sagte der Große. †œAlter, es ist sooo eine Ehre, dich zu treffen. Du bist echt unser Über-Held…†

†œSagt das nicht, bitte sagt das nicht.

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Und ihr zwo seid echt eine Leuchtreklame, die sagt, ,Ich jamme, bitte verfrachtet meinen Arsch nach Gitmo-an-der-Bay. Ihr könntet echt nicht mehr auffälliger sein.†

Liam machte ein Gesicht, als wolle er gleich losheulen.

†œKeine Sorge, sie haben euch ja nicht erwischt. Ich geb euch später ein paar Tips.† Schon strahlte er wieder. Die beiden, das war eine merkwürdige Erkenntnis, schienen M1k3y wirklich zu vergöttern, und sie würden alles tun, was ich ihnen sagte. Sie grinsten beide wie grenzdebil. Ich fühlte mich unwohl dabei, mir drehte das fast den Magen um.

†œHört mal, ich muss jetzt sofort mal ins Xnet, aber ohne dafür nach Hause gehen zu müssen oder auch nur in die Nähe. Wohnt ihr beiden hier in der Gegend?†

†œIch†, sagte Nate. †œOben in California Street. Is ne Ecke zu laufen †“ steile Hügel.† Das war ich grade erst den ganzen Weg runtergekommen. Irgendwo da oben war Masha. Trotzdem †“ es war besser als alles, was ich erwarten durfte.

†œGehn wir†, sagte ich.

Nate lieh mir sein Baseball-Cap, und wir tauschten die Jacken. Um Schritterkennung musste ich mich nicht kümmern, nicht bei diesen Schmerzen in meinem Knöchel †“ ich humpelte wie ein Komparse in einem Cowboyfilm.

Nate lebte in einem riesigen Apartment am oberen Ende von Nob Hill. Das Gebäude hatte einen Portier im roten Mantel mit Goldbrokat, der sich an die Mütze tippte, zu Nate †œMr. Nate† sagte und uns alle willkommen hieß. Das Apartment war makellos und roch nach Möbelpolitur. Ich bemühte mich sehr, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich diese offenkundig mehrere Millionen Dollar teure Eigentumswohnung beeindruckte.

†œMein Vater†, erklärte er. †œEr war ein Investmentbanker. Massig Lebensversicherungen. Er ist gestorben, als ich vierzehn war, und wir bekamen alles. Sie waren zwar seit Jahren geschieden, aber er hatte trotzdem meine Mutter als Begünstigte eingesetzt.†

Aus dem wandhohen Fenster hatte man einen gigantischen Blick auf die andere Seite von Nob Hill, ganz bis runter nach Fisherman†™s Wharf, zum hässlichen Stumpf der Bay Bridge, der Masse von Kränen und Lastern. Durch den Nebel konnte ich gerade eben Treasure Island erkennen. Ganz bis dort hinunter zu schauen weckte in mir das verrückte Bedürfnis zu springen.

Ich ging mit seiner Xbox über einen riesigen Plasma-Monitor im Wohnzimmer online. Er zeigte mir, wie viele offene WLANs von diesem hohen Standpunkt aus sichtbar waren †“ zwanzig, dreißig. Das hier war ein guter Platz für einen Xnetter.

Mein M1k3y-Postfach war enorm voll. 20.000 neue Nachrichten, seit Ange und ich heute früh aufgebrochen waren. Viele waren von Journalisten, die weitere Interviews anfragten, aber das meiste war von den Xnettern, von Leuten, die die Guardian-Story gelesen hatten und mir mitteilen wollten, dass sie alles tun würden, um mir zu helfen, mich mit allem versorgen wollten, was ich brauchte.

Das gab mir den Rest. Tränen liefen mir die Wangen runter.

Nate und Liam wechselten Blicke. Ich versuchte aufzuhören, aber es hatte keinen Zweck. Jetzt war ich am Schluchzen. Nate ging zu einem eichenen Bücherschrank und schwenkte eines seiner Regale heraus, was den Blick auf schimmernde Reihen von Flaschen freigab. Er goss einen Schuss von etwas Goldbraunem in ein Glas und brachte es mir.

†œSeltener irischer Whiskey†, sagte er. †œMoms Lieblingssorte.† Er schmeckte wie Feuer und wie Gold. Ich nippte daran und versuchte mich nicht zu verschlucken. Eigentlich mochte ich keine harten Getränke, aber das hier war was anderes. Ich holte ein paar Mal tief Luft.

†œDanke, Nate†, sagte ich. Er machte ein Gesicht, als hätte ich ihm gerade einen Orden angeheftet. Er war ein guter Kerl.

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†œNa gut†, sagte ich und schnappte mir die Tastatur. Die beiden Jungs sahen fasziniert zu, wie ich auf dem Monsterbildschirm meine Mails durchging.

Wonach ich vor allem suchte, war eine Mail von Ange. Es war ja möglich, dass sie davongekommen war. Das war immer möglich.

Es war idiotisch, es auch nur zu hoffen. Es war nichts von ihr dabei. Dann fing ich an, die Mails so schnell wie möglich durchzugehen, indem ich nach Presseanfragen, Fan-Mails, Hass-Mails und Spam sortierte…

Und da fand ich sie: eine Nachricht von Zeb.

> Es war nicht schön, heute morgen aufzuwachen und den Brief, den du eigentlich zerstören solltest, in der Zeitung abgedruckt zu finden. Überhaupt nicht schön. Gab mir das Gefühl, verfolgt zu werden.

> Aber ich habe mittlerweile verstanden, warum du es getan hast. Ich bin nicht sicher, dass ich deine Taktik gutheißen kann, aber es ist offensichtlich, dass deine Motive stichhaltig waren.

> Wenn du dies liest, dann bist du sehr wahrscheinlich in den Untergrund gegangen. Das ist nicht leicht, das habe ich gelernt. Und ich habe noch eine Menge mehr gelernt.

> Ich kann dir helfen. Ich sollte das für dich tun. Du tust ja auch für mich, was du kannst. (Auch wenn du es nicht mit meiner Erlaubnis tust.)

> Antworte, wenn du dies bekommst, wenn du auf der Flucht bist und allein. Oder antworte, wenn du im Gewahrsam bist, bei unseren Freunden auf Gitmo, und nach einem Mittel suchst, die Schmerzen zu beenden. Wenn sie dich haben, dann wirst du tun, was sie dir sagen. Das weiß ich. Das Risiko gehe ich ein.

> Für dich, M1k3y.

†œBoooooah†, schnaufte Liam, †œAaaaaalter!† Ich hätte ihm eine reinhauen mögen. Ich drehte mich um, um zumindest etwas Hässliches, Bissiges zu sagen, aber er starrte mich an mit Augen groß wie Suppenteller und sah aus, als wolle er gleich auf die Knie fallen, um mich anzubeten.

†œDarf ich nur sagen†, fragte Nate, †œdarf ich nur sagen, dass es die größte Ehre in meinem Leben ist, dir zu helfen? Darf ich einfach nur das sagen?†

Jetzt wurde ich rot. Ich konnte es nicht ändern. Diese beiden waren völlig auf ihren Star fixiert, obwohl ich ja überhaupt kein Star war, zumindest nicht in meiner eigenen Wahrnehmung.

†œKönnt ihr Jungs…† Ich schluckte. †œKönnte ich ein bisschen Privatsphäre haben?† Sie schlichen aus dem Zimmer wie geprügelte Hunde, und ich fühlte mich wie ein Idiot. Ich tippte schnell.

> Ich bin davongekommen, Zeb. Und ich bin auf der Flucht. Ich brauche alle Hilfe, die ich kriegen kann. Ich will, dass das ein Ende hat.

Ich erinnerte mich daran, Mashas Handy aus der Tasche zu fischen und zu befingern, damit es nicht auf Standby ging.

Sie ließen mich die Dusche benutzen, gaben mir einen frischen Satz Klamotten, einen neuen Rucksack mit ihrer halben Erdbebenration drin †“ Energieriegel, Medikamenten, Heiß- und Kühlpacks und einem alten Schlafsack. Sie packten sogar noch eine überzählige Xbox Universal mit aufgespieltem ParanoidXbox ein. Bei der Signalpistole musste ich die Reißleine ziehen.

Ich prüfte immer wieder meine Mails, um zu schauen, ob Zeb geantwortet hatte. Ich beantwortete die Fan-Post. Ich beantwortete die Mails von der Presse. Ich löschte die Hass-Mails. Halb erwartete ich, was von Masha zu lesen, aber wahrscheinlich war sie jetzt schon halbwegs in L.A., mit kaputten Fingern und nicht in der Lage, irgendwas zu tippen. Ich kitzelte wieder ihr Telefon.

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Die Jungs überredeten mich, mich für einen Moment aufs Ohr zu legen, und einen kurzen, peinlichen Moment lang wurde ich völlig paranoid und dachte, was, wenn diese Jungs mich ausliefern wollten, während ich schliefe? Natürlich war das idiotisch †“ sie hätten mich genauso einfach verpfeifen können, während ich wach war.

Ich konnte einfach nicht damit umgehen, dass sie so viel von mir hielten. Rein vom Kopf her hatte ich gewusst, dass es Leute gab, die bereit waren, M1k3y zu folgen. Ein paar von denen hatte ich heute früh getroffen, als sie

– Beißen Beißen Beißen †“ übers Civic Center hergefallen waren. Aber diese beiden waren persönlicher. Sie waren einfach nur nette, bisschen trottelige Kerle, die damals in den Tagen vor dem Xnet durchaus meine Freunde hätten sein können, einfach zwei Kumpel, mit denen man Teenager-Abenteuer hätte bestehen können. Und sie hatten sich freiwillig zu einer Armee gemeldet, zu meiner Armee. Ich war ihnen gegenüber verantwortlich. Auf sich selbst gestellt, würden sie früher oder später geschnappt werden. Sie waren zu vertrauensselig.

†œJungs, hört mir mal einen Moment zu. Ich muss mit euch über was Ernstes reden.† Fast standen sie in Habacht-Stellung. Wäre es nicht so finster gewesen, hätte ichs komisch gefunden.

†œOkay, es geht um Folgendes. Jetzt, da ihr mir geholfen habt, ist es wirklich gefährlich. Wenn ihr geschnappt werdet, werde ich geschnappt. Sie werden alles aus euch rauskriegen, was ihr wisst…† †“ ich hob die Hand, um ihre Proteste abzuwehren. †œNein, ehrlich. Ihr habt es noch nicht durchgemacht. Jeder redet. Jeder zerbricht. Wenn ihr also jemals geschnappt werdet, dann erzählt ihnen sofort alles, was ihr wisst, so schnell ihr könnt. Sie bekommen es irgendwann doch raus. So arbeiten die nun mal.

Aber ihr werdet nicht geschnappt werden, und zwar deshalb: Ihr seid jetzt keine Jammer mehr. Ihr seid vom aktiven Dienst befreit. Ihr seid jetzt…†, ich fischte in meinem Gedächtnis nach Schlagworten aus Spionagethrillern, †œihr seid jetzt eine Schläferzelle. Zieht euch zurück, verhaltet euch wieder wie normale Kids. Irgendwie, ich weiß noch nicht, wie, werde ich diese Sache knacken, voll und ganz, ich werde sie zu einem Ende bringen. Oder sie knackt mich und erledigt mich endgültig. Wenn ihr nicht innerhalb von 72 Stunden von mir hört, dann geht davon aus, dass sie mich geschnappt haben. Dann könnt ihr tun, was immer ihr wollt. Aber die nächsten drei Tage †“ und für immer, wenn ich das erledige, was ich erledigen will †“ haltet euch bitte raus. Versprecht ihr mir das?†

Sie versprachen es mit heiligem Ernst. Dann erlaubte ich ihnen, mich in einen Dämmerschlaf zu plappern, aber ließ sie schwören, mich einmal pro Stunde zu wecken, damit ich Mashas Handy kitzeln und nachschauen konnte, ob mir Zeb schon geantwortet hatte.

Der Treffpunkt war in einem BART-Waggon, was mich nervös machte. Die Dinger sind voll von Kameras. Aber Zeb wusste, was er tat. Er ließ mich in den letzten Waggon eines bestimmten Zuges einsteigen, der zu einer Uhrzeit von Powell Street Station abfuhr, zu der die Leute dicht an dicht standen. Er näherte sich mir in der Masse, und die guten Pendler von San Francisco machten ihm etwas Platz, die Sorte Freiraum, die man immer um Obdachlose herum beobachtet.

†œSchön, dich wieder zu sehen†, murmelte er, das Gesicht auf den Eingang gerichtet. Im dunklen Glas konnte ich erkennen, dass niemand dicht genug war, um uns belauschen zu können, zumindest nicht ohne ein Hochleistungs-Richtmikrofon; und wenn sie genug wussten, um mit so einem hier aufzukreuzen, dann waren wir sowieso schon tot.

†œDich auch, Bruder†, antwortete ich. †œIch, es… es tut mir Leid, weißt du?†

†œKlappe. Muss dir nicht Leid tun. Du warst mutiger, als ich es bin. Bist du jetzt bereit, in den Untergrund zu gehen? Bereit zu verschwinden?†

†œWas das angeht…†

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Ja?†

†œDas ist nicht der Plan.†

†œOh†, sagte er.

†œHör mal, okay? Ich habe… ich habe Bilder und Video. Sachen, die echt was beweisen.† Ich griff in meine Tasche und befingerte mal wieder Mashas Handy. Ich hatte auf dem Weg hierher in Union Square ein Ladegerät gekauft und war in einem Café lange genug sitzen geblieben, bis die Batterieanzeige wieder bei vier von fünf Strichen war.

†œIch muss das hier zu Barbara Stratford kriegen, der Frau beim ,Guardian†™. Aber die werden sie beobachten, um zu sehen, ob ich auftauche.†

†œGlaubst du nicht, die werden auch nach mir Ausschau halten? Falls es ein Teil deines Plans ist, dass ich mich auch bloß auf eine Meile der Wohnung oder dem Büro dieser Frau…†

†œIch will nur, dass du Van dazu bringst, dass sie kommt und mich trifft. Hat Darryl dir mal von Van erzählt? Das Mädchen…†

†œHat er. Ja, er hat mir von ihr erzählt. Meinst du nicht, die beobachten sie auch? Euch alle, die sie festgenommen haben?†

†œIch denke schon. Trotzdem: Ich glaube, sie beobachten sie nicht ganz so genau. Und Van hat eine total weiße Weste. Sie hat nie bei einem meiner…†, ich schluckte, †œ… meiner Projekte mitgewirkt. Deshalb sind sie mit ihr vielleicht ein bisschen entspannter. Wenn sie den Bay Guardian anruft, um einen Termin zu machen, um zu berichten, was für ein Mistkerl ich eigentlich bin, dann lassen sie es ihr vielleicht durchgehen.†

Er starrte die Tür an. Ziemlich lange.

†œDu weißt, was passiert, wenn sie uns noch mal schnappen.† Es war keine Frage.

Ich nickte.

†œBist du sicher? Ein paar von den Leuten, die mit uns auf Treasure Island waren, sind mit Hubschraubern weggebracht worden. Außer Landes. Es gibt ein paar Länder, in die Amerika seine Folter auslagern kann. Länder, in denen du auf ewig versauerst. Länder, in denen du dir irgendwann wünschen wirst, dass sie es einfach nur zu Ende bringen; dass sie dich einen Graben ausheben lassen und dir ins Genick schießen, während du dich drüberbeugst.†

Ich schluckte und nickte.

†œIst es das Risiko wert? Wir könnten für sehr, sehr lange Zeit im Untergrund verschwinden. Und vielleicht bekommen wir unser Land eines Tages zurück. Wir können das aussitzen.†

Ich schüttelte den Kopf. †œDu kannst nichts bewegen, indem du nichts tust. Es ist unser Land. Und sie haben es uns weggenommen. Die Terroristen, die uns angegriffen haben, sind immer noch frei †“ aber wir nicht. Ich kann nicht für ein Jahr, zehn Jahre, mein ganzes Leben im Untergrund verschwinden und daraufwarten, dass mir die Freiheit gegeben wird. Freiheit ist etwas, das du dir nehmen musst.†

An diesem Nachmittag verließ Van die Schule wie üblich, saß inmitten eines dichten Knäuels ihrer Freundinnen hinten im Bus, lachend und scherzend wie immer. Die anderen Passagiere im Bus schenkten ihr besondere Beachtung, weil sie so laut war und weil sie außerdem diesen blöden, riesigen Schlapphut trug, der aussah wie aus einem Schultheaterstück über Renaissance-Schwertkämpfer. Zu einem bestimmten Zeitpunkt gluckten sie alle aufeinander, schauten dann hinten aus dem Bus raus, gestikulierend und gickelnd. Das Mädchen, das jetzt den Hut trug, hatte annähernd dieselbe Größe wie Van, und von hinten würde sie als Van durchgehen.

Niemand achtete auf das kleine asiatische Mädchen, das ein paar Haltestellen vor der BART ausstieg.

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Sie war in eine ganz gewöhnliche Schuluniform gekleidet und schaute schüchtern zu Boden, als sie ausstieg. Außerdem gab just in diesem Moment die laute Koreanerin einen Aufschrei von sich, den ihre Freundinnen aufgriffen und so laut lachten, dass selbst der Busfahrer langsamer wurde, sich im Sitz umdrehte und ihnen einen schmutzigen Blick zuwarf.

Van eilte mit gesenktem Kopf die Straße hinunter, das Haar zurückgebunden und über den Kragen ihrer altmodischen Ballonjacke fallend. Sie trug Einlagen in ihren Schuhen, die sie fünf wacklige Zentimeter größer machten, sie hatte ihre Kontaktlinsen herausgenommen und gegen ihre meistgehasste Brille getauscht, deren riesige Gläser ihr halbes Gesicht einnahmen. Obwohl ich an der Bushaltestelle auf sie gewartet und gewusst hatte, wann ich sie zu erwarten hatte, hätte ich sie fast nicht erkannt. Ich stand auf und folgte ihr mit einem halben Block Abstand über die Straße.

Die Leute, die mir begegneten, schauten so schnell wie möglich weg. Ich sah aus wie ein junger Obdachloser mit meinem schmuddeligen Pappschild, dem speckigen Mantel und dem riesigen Ranzen, der an den Kanten mit Ducktape geflickt war. Niemand will einen Straßenjungen anschauen, denn wenn du seinem Blick begegnest, bettelt er dich womöglich um Kleingeld an. Ich war den ganzen Nachmittag in Oakland rumgestromert, und die einzigen Leute, die mich angesprochen hatten, waren ein Zeuge Jehovas und ein Scientologe gewesen, die mich beide hatten bekehren wollen. Das fühlte sich eklig an, wie von einem Perversen angebaggert zu werden.

Van folgte den Anweisungen, die ich aufgeschrieben hatte, sehr sorgfältig. Zeb hatte sie ihr auf demselben Wege zukommen lassen wie mir damals vor der Schule †“ er war in sie reingerannt und hatte sich überschwänglich entschuldigt. Ich hatte die Nachricht kurz und knapp gehalten, nur rasch umrissen, was ich wollte: Ich weiß, du bist nicht damit einverstanden. Ich verstehe das. Aber das ist es nun mal, es ist der wichtigste Gefallen, den ich jemals von dir erbeten habe. Bitte. Bitte.

Sie war gekommen. Ich hatte gewusst, dass sie kommen würde. Wir beide hatten eine Menge gemeinsamer Geschichte. Und sie mochte es auch nicht, was mit der Welt passiert war. Und im Übrigen sagte mir eine böse, hämisch glucksende Stimme in meinem Kopf, dass auch sie jetzt, da Barbaras Artikel erschienen war, unter Verdacht stand.

So gingen wir sechs, sieben Blöcke weit, achteten darauf, wer in unserer Nähe war, welche Autos vorbeifuhren. Zeb hatte mir von Fünferketten erzählt, bei denen fünf verschiedene Verdeckte sich dabei abwechselten, dir zu folgen, was es nahezu unmöglich machte, sie zu bemerken. Du musstest schon in eine völlig verlassene Gegend gehen, wo einfach jeder einzelne Mensch klar zu erkennen war.

Die Überführung für die 880 war nur ein paar Blöcke weit von der BART-Station Coliseum entfernt, und selbst wenn man so viele Schlenker machte wie Van, hatte man sie schnell erreicht. Der Lärm von oben war ohrenbetäubend. Niemand sonst war hier, soweit ich das erkennen konnte. Ich war hier gewesen, bevor ich die Location in meiner Nachricht an Van vorgeschlagen hatte, um zu checken, ob es Ecken gäbe, in denen sich jemand verstecken konnte. Es gab keine.

Sobald sie am vereinbarten Platz stehengeblieben war, ging ich schneller, um zu ihr zu gelangen. Sie blinzelte mich mit großen Augen hinter der Brille an.

†œMarcus†, wisperte sie, und Tränen schimmerten in ihren Augen. Ich bemerkte, dass ich ebenfalls weinte. Mann, ich gab einen lausigen Flüchtling ab. Zu sentimental.

Sie umarmte mich so stürmisch, dass ich keine Luft mehr bekam, und ich umarmte sie noch heftiger.

Dann küsste sie mich.

Nicht auf die Wange, nicht wie eine Schwester. Voll auf die Lippen, ein heißer, feuchter, dampfender Kuss, der nie mehr zu enden schien. Ich war von meinen Gefühlen so übermannt…

Ach Quatsch. Ich wusste genau, was ich tat. Ich erwiderte den Kuss.

Dann hörte ich auf und trat zurück, fast schubste ich sie zurück. †œVan†, keuchte ich.

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†œUps†, sagte sie.

†œVan†, begann ich nochmals.

†œSorry†, sagte sie, †œich…†

Und in diesem Moment wurde mir etwas bewusst, das ich vermutlich schon sehr viel länger hätte bemerken müssen.

†œDu magst mich, stimmts?†

Sie nickte jämmerlich. †œSeit Jahren.†

Oh Gott. Darryl war all die Jahre so sehr in sie verliebt, und die ganze Zeit hatte sie nur Augen für mich und war insgeheim scharf auf mich. Und dann kam ich mit Ange an. Ange hatte gesagt, dass sie immer schon Streit mit Van hatte. Und ich lief hier rum und hatte nichts als Ärger.

†œVan, es tut mir so Leid.†

†œVergiss es†, sagte sie und blickte zur Seite. †œIch weiß, dass es nicht sein kann. Ich wollte das nur dieses eine Mal, nur für den Fall, dass ich dich nie…† Sie verkniff sich den Rest.

†œVan, ich bin drauf angewiesen, dass du etwas für mich erledigst. Etwas sehr Wichtiges. Du musst die Journalistin vom Bay Guardian treffen, Barbara Stratford, die Frau, die den Artikel geschrieben hat. Du musst ihr etwas übergeben.† Ich erklärte ihr die Sache mit Mashas Handy und erzählte ihr von dem Video, das Masha mir geschickt hatte.

†œWozu soll das noch gut sein, Marcus? Was erwartest du dir davon?†

†œVan, du hattest Recht, zumindest zum Teil. Wir können die Welt nicht reparieren, indem wir andere Menschen in Gefahr bringen. Ich muss das Problem lösen, indem ich erzähle, was ich weiß. Ich hätte das von Anfang an tun sollen. Ich hätte direkt aus ihrem Knast zu Darryls Vater marschieren sollen und ihm erzählen, was ich wusste.

Aber jetzt habe ich Beweise. Dieses Zeug hier †“ das könnte die Welt ändern. Und es ist meine letzte Hoffnung. Die einzige Hoffnung, Darryl rauszuhauen und mein Leben nicht ewig im Untergrund, auf der Flucht vor den Bullen fristen zu müssen. Und du bist der einzige Mensch, dem ich es anvertrauen kann, das zu erledigen.†

†œWarum ich?†

†œMachst du Witze? Guck mal, wie gut du es gemacht hast, hierher zu kommen. Du bist ein Profi. Du bist von uns allen die Beste in so was. Und du bist die Einzige, der ich trauen kann. Darum du.†

†œUnd warum nicht deine Freundin Angie?† Sie sagte den Namen ohne jegliche Betonung, als sei er ein Block Zement.

Ich schaute zu Boden. †œIch dachte, du wüsstest es. Sie haben sie verhaftet. Sie ist in Gitmo †“ auf Treasure Island. Schon seit Tagen.† Ich hatte versucht, nicht daran zu denken, nicht darüber nachzugrübeln, was mit ihr geschehen könnte. Doch nun konnte ich das Schluchzen nicht mehr unterdrücken. Ich spürte einen Schmerz im Magen, als ob ich einen Tritt bekommen hätte, und presste mir die Hände auf den Bauch, um mich zusammenzunehmen. Dann klappte ich zusammen, und das Nächste, was ich merkte, war, wie ich im Schutt unter dem Freeway lag, zusammengekrümmt und heulend.

Van kniete sich neben mich. †œGib mir das Handy†, sagte sie, ihre Stimme ein wütendes Zischen. Ich kramte es aus meiner Tasche und gab es ihr.

Beschämt hörte ich auf zu weinen und rappelte mich hoch. Ich spürte, dass mir Schnodder übers Gesicht lief. Van betrachtete mich mit einem Ausdruck des reinsten Ekels.

†œDu musst drauf achten, dass es nicht auf Standby geht†, sagte ich. †œHier ist ein Ladegerät.†

Ich wühlte in der Tasche. In der Nacht, seit ich es gekauft hatte, hatte ich nicht viel geschlafen.

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Ich hatte den Timer des Handys auf 90 Minuten gestellt, damit es mich so rechtzeitig weckte, dass ich es vom †œSchlafen† abhalten konnte. †œKlapp es bitte auch nicht zu.†

†œUnd das Video?†

†œDas ist schwieriger†, erwiderte ich. †œIch hab mir selbst eine Kopie gemailt, aber ich komm nicht mehr ins Xnet.† Im Notfall hätte ich noch mal zu Nate und Liam zurückgehen und ihre Xbox benutzen können, aber das wollte ich nicht riskieren. †œPass auf, ich geb dir mein Login und das Passwort für den Mailserver der Piratenpartei. Du musst aber Tor benutzen, um ihn aufzurufen †“ der Heimatschutz achtet garantiert auf Leute, die sich bei P-Partei-Mail einloggen.†

†œDein Login und Passwort†, sagte sie mit Erstaunen im Blick.

†œIch vertraue dir, Van. Ich weiß, dass ich dir vertrauen kann.†

Sie schüttelte den Kopf. †œDu gibst deine Passwörter nie raus, Marcus.†

†œIch glaube, darauf kommts jetzt auch nicht mehr an. Entweder du hast Erfolg, oder †“ oder es ist das Ende von Marcus Yallow. Vielleicht bekomme ich ja eine neue Identität, aber ich glaubs eher nicht. Ich schätze, die werden mich kriegen. Wahrscheinlich habe ichs die ganze Zeit schon gewusst, dass sie mich irgendwann kriegen werden.†

Jetzt sah sie mich mit blanker Wut an. †œWas für eine Vergeudung. Und wozu war das Ganze jetzt gut?†

Sie hätte nichts sagen können, das mich mehr verletzt hätte. Dieser Satz war wie ein weiterer Tritt in den Unterleib. Was für eine Vergeudung das alles, völlig vergebens. Darryl und Ange waren verschwunden. Meine Familie würde ich vielleicht nie wieder sehen. Und immer noch hielt der Heimatschutz meine Stadt und mein Land in einem gewaltigen, irrationalen Klammergriff gefangen, wo im Namen der Terrorabwehr ausnahmslos alles erlaubt war.

Van sah aus, als erwarte sie eine Antwort von mir, aber dazu hatte ich nichts mehr zu sagen. Sie ließ mich dort stehen.

Zeb hatte eine Pizza für mich, als ich †œheim† kam †“ zu dem Zelt, das er für die Nacht unter einer Freeway-Überführung in der Mission aufgestellt hatte. Es war eine Dackelgarage aus Militärbeständen, bedruckt mit SAN FRANCISCO ÖRTLICHE OBDACHLOSEN-KOORDINATION.

Die Pizza war von Domino†™s, kalt und labberig, aber nichtsdestotrotz lecker. †œMagst du Ananas auf deiner Pizza?†

Zeb lächelte herablassend. †œFreeganer dürfen nicht wählerisch sein†, sagte er.

†œFreeganer?†

†œWie Veganer, aber wir essen nur Gratisspeisen.†

†œGratisspeisen?†

Er grinste wieder. †œDu weißt schon †“ Gratisspeisen. Aus dem Gratisspeisenladen.†

†œDu hast das Zeug geklaut?†

†œNein, Blödmann. Es ist aus dem anderen Laden. Aus dem kleinen hinter dem Laden. Dem aus blauem Stahl, mit dem merkwürdigen Geruch.†

†œDu hast das hier aus dem Müll?†

Er warf seinen Kopf zurück und gickelte. †œNa klar doch. Dein Gesicht müsstest du sehen. Alter, es ist okay. Es ist ja nicht so, dass das Zeug vergammelt wäre. Es war frisch †“ bloß eine versaute Bestellung. Die haben sie in der Schachtel weggeworfen.

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Nach Ladenschluss streuen sie Rattengift überall drüber, aber wenn du rechtzeitig kommst, bist du okay. Du solltest mal sehen, was Obst- und Gemüseläden so wegwerfen! Warte bis zum Frühstück. Ich mach dir einen Obstsalat, das glaubst du nicht. Sobald auch nur eine Erdbeere in der Kiste ein bisschen grün oder matschig wird, kommt alles weg…†

Ich brachte ihn zum Schweigen. Die Pizza war okay. Es war ja nicht so, dass sie von dem kurzen Aufenthalt in der Mülle irgendwie infiziert worden wäre. Wenn daran etwas eklig war, dann der Umstand, dass sie von Domino†™s kam †“ der grässlichsten Pizzakette der Stadt. Ich hatte ihr Essen noch nie sehr gemocht, und als ich erfahren hatte, dass sie eine Gruppe ultrabescheuerter Politiker finanzierten, die daran glaubten, dass globale Erwärmung und Evolution satanische Tricks waren, hatte ichs ganz aufgegeben.

Das Gefühl von Ekel war dennoch nicht so leicht zu unterdrücken.

Aber die Sache hatte noch einen ganz anderen Aspekt. Zeb hatte mir ein Geheimnis offenbart, etwas, worauf ich nicht vorbereitet gewesen war: Da draußen existierte eine ganze versteckte Welt, eine Art, irgendwie durchzukommen, ohne ein Teil des Systems zu werden.

†œFreeganer, ja?†

†œJogurt brauchen wir auch†, sagte er und nickte nachdrücklich. †œFür den Obstsalat. Den werfen sie am Tag nach dem Mindesthaltbarkeitsdatum gleich weg, aber der wird ja nicht um Mitternacht sofort grün. Hey, es ist Jogurt, ich mein, das ist doch sowieso schon vergammelte Milch.†

Ich schluckte. Die Pizza schmeckte komisch. Rattengift. Abgelaufener Jogurt. Matschige Erdbeeren. Daran würde ich mich erst mal gewöhnen müssen.

Ich biss noch mal ab. Wenn man sie für lau bekam, war Domino†™s Pizza ein bisschen weniger scheußlich.

Liams Schlafsack war warm und einladend nach diesem langen, emotional aufreibenden Tag. Van dürfte Barbara mittlerweile kontaktiert haben. Sie würde das Video und das Foto haben. Ich würde sie am nächsten Morgen anrufen und in Erfahrung bringen, was sie als nächste Aktion für angebracht hielt. Sobald sie veröffentlichte, würde ich noch mal reinkommen müssen, um die Geschichte zu untermauern.

Darüber dachte ich nach, als ich meine Augen schloss; ich dachte daran, wie es wohl sein würde, mich selbst zu stellen, vor laufenden Kameras, die dem berüchtigten M1k3y in eines jener großen, säulengeschmückten Gebäude am Civic Center folgten.

Der Lärm der über mir vorbeisausenden Autos verwandelte sich in ein Ozeanrauschen, als ich wegdämmerte. In der Nähe standen noch andere Zelte von Obdachlosen. Ein paar von ihnen hatte ich an diesem Nachmittag getroffen, bevor es dunkel wurde und wir uns alle zu unseren eigenen Zelten zurückzogen. Sie waren alle älter als ich und sahen grob und derb aus. Aber keiner von ihnen sah aus, als sei er verrückt oder gewalttätig. Nur eben wie Leute, die nicht viel Glück gehabt hatten oder schlechte Entscheidungen getroffen oder beides.

Ich musste eingeschlafen sein, denn ich erinnere mich an nichts mehr bis zu dem Moment, an dem ein blendend helles Licht auf mein Gesicht fiel.

†œDas ist er†, sagte eine Stimme hinter dem Licht.

†œSackt ihn ein†, sagte eine andere Stimme, eine Stimme, die ich früher schon einmal gehört hatte und dann wieder und wieder in meinen Träumen, wie sie mir Vorträge hielt und meine Passwörter verlangte. Frau Strenger Haarschnitt.

Blitzschnell war der Sack über meinem Kopf, und sie zogen ihn an der Kehle so fest an, dass ich zu ersticken glaubte und meine Freeganer-Pizza erbrach. Während ich zuckte und würgte, fesselten harte Hände meine Handgelenke und meine Knöchel. Ich wurde auf eine Trage gerollt und emporgehoben, dann in ein Fahrzeug getragen, ein paar klappernde Metallstufen hinauf.

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Sie ließen mich auf einen gepolsterten Boden fallen. Hinten im Fahrzeug war bei geschlossenen Türen absolut nichts zu hören. Die Polsterung unterdrückte alles außer meinem eigenen Würgen.

†œHallo nochmal!†, sagte sie. Ich spürte den Lieferwagen wippen, als sie zu mir hineinstieg. Ich würgte immer noch und versuchte verzweifelt, Luft zu bekommen. Erbrochenes füllte meinen Mund und rann mir in die Luftröhre.

†œWir werden dich nicht sterben lassen†, sagte sie. †œWenn du aufhörst zu atmen, sorgen wir dafür, dass du wieder anfängst. Mach dir darum also keine Sorgen.†

Ich würgte heftiger. Ich schnappte nach Luft. Ein bisschen was kam durch. Heftige, schmerzhafte Hustenattacken schüttelten meine Brust und meinen Rücken, und dabei rüttelten sie was von der Kotze weg. Mehr Luft.

†œSiehst du? Gar nicht so schlimm. Willkommen daheim, M1k3y. Wir haben einen ganz besonderen Ort für dich ausgesucht.†

Ich versuchte mich auf dem Rücken liegend zu entspannen und spürte den Lieferwagen schaukeln. Der Geruch benutzter Pizza war anfangs übermächtig, aber wie das mit allen starken Stimuli so ist, gewöhnte sich mein Gehirn allmählich daran und filterte ihn aus, bis er nur noch ein schwaches Aroma war. Die Schaukelei des Wagens war fast schon beruhigend.

Und da geschah es. Eine unglaubliche, tiefe Ruhe kam über mich, als läge ich am Strand und der Ozean käme angebrandet und hebe mich empor, sanft wie eine Elternhand, hielte mich in der Schwebe und trage mich hinaus in ein warmes Meer unter einer warmen Sonne. Nach allem, was geschehen war, hatten sie mich gefangen, aber darauf kam es nun nicht mehr an. Ich hatte Barbara die Informationen zukommen lassen. Ich hatte das Xnet organisiert. Ich hatte gewonnen.

Und wenn ich nicht gewonnen hatte, so hatte ich doch alles getan, was ich konnte. Mehr als ich mir jemals selbst zugetraut hätte. Während wir fuhren, zog ich eine mentale Bilanz, dachte an alles, was ich erreicht hatte, was wir erreicht hatten. Die Stadt, das Land, die Welt war voll mit Menschen, die nicht bereit waren, so zu leben, wie das DHS es von uns erwartete. Wir würden ewig weiterkämpfen. Sie konnten uns nicht alle wegsperren.

Ich seufzte und lächelte.

Dann wurde mir klar, dass sie die ganze Zeit geredet hatte. Ich war so weit weg an meinem glücklichen Ort gewesen, dass sie einfach verschwunden war.

†œ… kluger Junge wie du. Man würde meinen, du solltest es besser wissen, als dich mit uns anzulegen. Wir hatten dich im Visier seit dem Tag, an dem du rausgekommen bist. Und wir hätten dich auch dann erwischt, wenn du nicht zu deiner lesbischen Verräter-Journalistin gerannt wärst, um dich auszuheulen. Ich versteh das einfach nicht †“ wir waren uns doch einig, du und ich…†

Wir rüttelten über eine Metallplatte, die Federung des Lasters sprach an, und dann änderte sich das Wippen. Wir waren auf dem Wasser. Unterwegs nach Treasure Island. Hey, Ange war da. Und Darryl auch. Vielleicht.

Die Kapuze nahmen sie mir erst in meiner Zelle wieder ab. Um die Fesseln an Handgelenken und Knöcheln kümmerten sie sich nicht, sondern ließen mich einfach von der Trage auf den Boden rollen. Es war dunkel, aber im Mondlicht, das durch das einzige winzige Fenster hoch oben hereinschien, konnte ich sehen, dass die Matratze vom Bettgestell entfernt worden war. Der Raum beinhaltete mich, eine Toilette, ein Bettgestell und ein Waschbecken. Sonst nichts.

Ich schloss die Augen und ließ mich vom Ozean emporheben. Irgendwo tief unter mir war mein Körper. Ich wusste, was als Nächstes passieren würde. Ich würde hier liegenbleiben, um in die Hose zu pinkeln. Schon wieder. Ich wusste, wie sich das anfühlte, ich hatte schon mal eingepinkelt. Es roch streng. Es juckte. Es war erniedrigend; als sei man ein Baby.

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Aber ich hatte es überlebt.

Ich lachte. Der Klang war seltsam, und er zog mich in meinen Körper zurück, zurück in die Gegenwart. Ich lachte und lachte. Ich hatte das Schlimmste erlebt, das sie mir antun konnten, und ich hatte es überlebt; und ich hatte sie geschlagen, monatelang, sie als Trottel und Despoten vorgeführt. Ich hatte gewonnen.

Ich erleichterte meine Blase. Sie war ohnehin voll und schmerzte, und was du heute kannst besorgen…

Der Ozean trug mich davon.

Am nächsten Morgen schnitten zwei effiziente, unpersönliche Wachen meine Fesseln an Hand- und Fußgelenken durch. Ich konnte noch nicht wieder laufen †“ als ich mich hinstellte, gaben meine Beine nach wie die einer Marionette ohne Fäden. Zu viel Zeit in einer Stellung. Die Wachen zogen meine Arme über ihre Schultern und schleppten mich halb ziehend, halb tragend den vertrauten Korridor entlang. Die Strichcodes an den Türen waren mittlerweile von der aggressiven Salzluft wellig geworden und baumelten herab.

Ich hatte eine Idee. †œAnge!†, brüllte ich. †œDarryl!†, brüllte ich. Meine Wachen schleppten mich schneller, offenkundig verstört, aber unsicher, was sie nun mit mir machen sollten. †œJungs, ich bins, Marcus!†

Hinter einer der Türen schluchzte jemand. Ein anderer brüllte in einer Sprache, die ich für Arabisch hielt. Dann war es eine Kakophonie, tausend verschiedene schreiende Stimmen.

Sie brachten mich in ein neues Zimmer. Es war ein ehemaliger Duschraum, die Duschköpfe schauten noch zwischen den schimmligen Kacheln hervor.

†œHallo, M1k3y†, sagte Strenger Haarschnitt. †œDu scheinst einen ereignisreichen Morgen hinter dir zu haben.† Sie rümpfte demonstrativ ihre Nase.

†œIch hab mich bepisst†, sagte ich fröhlich. †œSollten Sie auch mal probieren.†

†œNa, vielleicht sollten wir dir dann ein Bad gönnen.† Sie nickte, und meine Wachen trugen mich zu einer anderen Liege. Diese hatte Befestigungsschnallen über die ganze Länge. Sie ließen mich draufplumpsen, und sie war eiskalt und durchgeweicht. Ehe ich mich versah, hatten sie mich an Schultern, Hüfte und Knöcheln festgestrappt. Nach einer weiteren Minute waren noch drei weitere Schnallen angezogen. Eine Männerhand griff nach den Stäben an meinem Kopf und löste ein paar Arretierungen, und einen Moment später lag ich geneigt da, der Kopf tiefer als die Füße.

†œLass uns mit etwas Einfachem anfangen†, sagte sie. Ich reckte meinen Kopf, um sie zu sehen. Sie hatte sich zu einem Tisch mit einer Xbox gedreht, die mit einem augenscheinlich teuren Flachfernseher verbunden war. †œIch möchte bitte, dass du mir deine Nutzerkennung und das Passwort für deine Piratenpartei-E-Mail verrätst.†

Ich schloss die Augen und ließ mich vom Ozean vom Strand wegtreiben.

†œWeißt du, was Waterboarding ist, M1k3y?† Ihre Stimme zog mich wieder an Land. †œDu wirst genau so festgebunden, und wir gießen dir Wasser über den Kopf, in deine Nase und in deinen Mund. Du wirst den Würgereflex nicht unterdrücken können. Man nennt es eine simulierte Hinrichtung, und soweit ich es von dieser Seite des Raums beurteilen kann, ist das eine angemessene Einschätzung. Du wirst das Gefühl nicht loswerden, dass du stirbst.†

Ich versuchte mich wieder zu entfernen. Von Waterboarding hatte ich gehört. Das war es also, echte Folter. Und das war erst der Anfang.

Ich konnte mich nicht mehr entfernen. Der Ozean brandete nicht mehr heran, um mich emporzuheben. In meiner Brust wurde es eng, und meine Augenlider begannen zu flattern. Ich fühlte die feuchtkalte Pisse an meinen Beinen und den feuchtkalten Schweiß im Haar. Meine Haut juckte von der getrockneten Kotze.

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Sie schwamm oberhalb von mir in mein Gesichtsfeld. †œLass uns mit der Kennung anfangen†, sagte sie.

Ich schloss die Augen und presste sie fest zu.

†œGebt ihm was zu trinken†, sagte sie.

Ich hörte, wie sich Leute bewegten. Ich holte einmal tief Luft und hielt sie an.

Das Wasser fing als Rinnsal an, eine Kelle voll Wasser, das sanft über mein Kinn und meine Lippen gegossen wurde. In meine umgekehrten Nasenlöcher hinein. Es lief zurück in meine Kehle und begann mich zu ersticken, aber ich würde nicht husten, würde nicht keuchen und es in meine Lungen einsaugen. Ich hielt den Atem an und presste meine Augen noch fester zu.

Von außerhalb war ein Tumult zu hören, ein Klang von hektisch stampfenden Stiefeln, wütende, erboste Schreie.

Die Kelle wurde über meinem Gesicht ausgeleert.

Ich hörte sie mit jemandem im Raum murmeln, dann sagte sie zu mir: †œNur die Kennung, Marcus. Das ist eine einfache Frage. Was sollte ich denn schon mit deinem Login anfangen können?†

Dieses Mal war es ein Eimer voll Wasser, alles auf einmal, eine Flut ohne Ende, wirklich gigantisch. Ich konnte es nicht mehr vermeiden: Ich keuchte und atmete das Wasser in meine Lungen, hustete und sog noch mehr Wasser ein. Ich wusste zwar, dass sie mich nicht töten würden, aber ich konnte meinen Körper nicht davon überzeugen. Mit jeder Faser meines Seins wusste ich, dass ich jetzt sterben würde. Ich konnte nicht einmal weinen †“ es wurde immer noch mehr Wasser über mich gegossen.

Dann hörte es auf. Ich hustete, hustete, hustete, aber in dem Winkel, in dem ich mich befand, lief das Wasser, das ich aushustete, in meine Nase zurück und brannte in den Nebenhöhlen.

Die Hustenanfälle gingen so tief, dass sie schmerzten, an den Rippen und an den Hüften, als ich mich ihnen entgegenstemmte. Ich hasste es, dass mein Körper mich verriet, dass mein Geist meinen Körper nicht kontrollieren konnte; aber ich konnte nichts dagegen tun.

Schließlich ließ das Husten so weit nach, dass ich wahrnehmen konnte, was um mich herum vorging. Leute brüllten, und es klang nach einer Schlägerei oder einem Ringkampf. Ich öffnete die Augen und blinzelte ins grelle Licht, dann reckte ich, immer noch hustend, den Hals.

Im Zimmer waren jetzt eine Menge mehr Leute als zu Beginn. Die meisten davon schienen Panzerwesten, Helme und Rauchglas-Visiere zu tragen. Sie brüllten auf die Treasure-Island-Wachen ein, und die brüllten mit angeschwollenen Halsadern zurück.

†œStehenbleiben!†, sagte einer von den Panzerwesten. †œStehenbleiben und Hände in die Luft. Sie sind verhaftet!†

Frau Strenger Haarschnitt war am Telefonieren. Einer der Gepanzerten bemerkte sie, stürzte auf sie zu und hieb ihr mit seinem Handschuh das Telefon aus der Hand. Jeder verstummte, als es in einem Bogen durch das ganze kleine Zimmer segelte und in einem Hagel von Einzelteilen auf dem Boden zerschellte.

Das Schweigen war nur von kurzer Dauer, dann kamen die Panzerwesten weiter ins Zimmer herein. Zwei schnappten sich je einen meiner Folterer. Fast brachte ich ein Lächeln zuwege, als ich den Gesichtsausdruck von Strenger Haarschnitt sah, als zwei Männer sie an den Schultern packten, umdrehten und ihr Plastikhandschellen um die Handgelenke legten.

Einer der Gepanzerten trat durch den Türrahmen herein. Er hatte eine Videokamera auf der Schulter, eine ziemlich anständige Ausrüstung mit gleißend hellem Scheinwerfer. Er nahm das ganze Zimmer auf und umkreiste mich zwei Mal, während er auf mich draufhielt. Ich ertappte mich dabei, absolut stillzuhalten, als ob ich jemandem Porträt sitzen würde.

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Es war lächerlich.

†œMeinen Sie, Sie könnten mich wohl mal von diesem Ding hier losmachen?† Ich schaffte es, alles herauszubringen und dabei nur ein kleines bisschen zu würgen.

Zwei Panzerwesten kamen auf mich zu, eine davon eine Frau, und fingen an, mich loszubinden. Sie klappten ihre Visiere hoch und lächelten mich an. Sie hatten rote Kreuze auf ihren Schultern und Helmen.

Unter den roten Kreuzen war ein weiteres Logo: CHP. California Highway Patrol. Sie waren Nationalgardisten.

Ich wollte gerade fragen, was sie hier machten, da sah ich Barbara Stratford. Sie war offensichtlich im Flur zurückgehalten worden, aber jetzt drängte sie sich mit Macht herein. †œHier bist du ja†, sagte sie, kniete sich neben mir nieder und zog mich in die längste, kräftigste Umarmung meines Lebens. – Fortsetzung Kapitel 21

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Hintergründe, Handlung und weitere Informationen zu Little Brother findet ihr unter: Jugendthriller: Little Brother von Cory Doctorow komplett im Netz

Hier handelt es sich um die deutsche Übersetzung von Christian Wöhrl

Little Brother ist unter einem Creative Commons Namensnennung-Keine kommerzielle Nutzung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenzvertrag lizenziert.

Das Original wurde unter: http://craphound.com/littlebrother veröffentlicht.

Little Brother von Cory Doctorow: Kapitel 19

Little Brother

Kapitel 19

Dieses Kapitel ist dem MIT Press Bookshop gewidmet, einem Laden, den ich bei jedem meiner Trips nach Boston in den letzten zehn Jahren besucht habe. Das MIT ist natürlich eine der legendären Keimzellen globaler Nerd-Kultur, und die Buchhandlung auf dem Campus wird allen Erwartungen gerecht, die ich mitbrachte, als ich sie zum ersten Mal betrat. Neben den wunderbaren Werken, die bei MIT Press erscheinen, bietet der Laden auch eine Rundreise durch die aufregendsten High-Tech-Publikationen der Welt, von Hacker-Blättchen wie 2600 bis zu dicken akademischen Anthologien über Videospiel-Design. Dies ist einer der Läden, in denen ich um Lieferung meiner Einkäufe bitten muss, weil sie nicht in den Koffer passen.

MIT Press Bookstore:

http://web.mit.edu/bookstore/www/

Building E38, 77 Massachusetts Ave., Cambridge, MA USA 02139-4307 +1 617 253 5249

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Dies ist die E-Mail, die um sieben Uhr am nächsten Morgen rausging, während Ange und ich VAMPMOB CIVIC CENTER ->-> an strategischen Punkten der Stadt auf den Asphalt sprühten.

> REGELN FÜR VAMPMOB

> Du bist Mitglied eines Clans von Tageslicht-Vampiren. Du hast das Geheimnis entdeckt, wie man das grässliche Sonnenlicht überlebt. Das Geheimnis ist Kannibalismus: Das Blut eines anderen Vampirs kann dir die Kraft geben, unter den Lebenden zu wandeln.

> Um im Spiel zu bleiben, musst du so viele andere Vampire beißen wie möglich. Wenn eine Minute ohne einen Biss verstreicht, bist du raus. Wenn du raus bist, dreh dein Shirt um und werde Schiedsrichter †“ beobachte zwei oder drei Vamps, um zu sehen, ob sie ihre Bisse landen können.

> Um einen anderen Vamp zu beißen, musst du fünf Mal †œBeißen!† sagen, bevor er es tut. Also rennst du auf einen Vampir zu, suchst Blickkontakt und schreist †œBeißen Beißen Beißen Beißen Beißen!†, und wenn du es schaffst, bevor der andere es schafft, dann lebst du, und der andere zerfällt zu Staub.

> Du und die anderen Vampire, die du an deinem Treffpunkt vorfindest, seid ein Team. Sie sind dein Clan. Ihr Blut hat für dich keinen Nährwert.

> Du kannst †œunsichtbar† werden, indem du stehen bleibst und die Arme über der Brust verschränkst. Du kannst keine unsichtbaren Vampire beißen, und sie können dich nicht beißen.

> Dieses Spiel wird nach dem Ehrenprinzip gespielt. Sinn ist es nicht, zu gewinnen, sondern Spaß zu haben und mal wieder deinen Vamp unter die Leute zu bringen.

> Es gibt ein Endspiel, das durch Mundpropaganda eingeläutet wird, wenn sich Gewinner abzeichnen. Die Spielleiter werden eine Flüsterkampagne unter den Spielern starten, wenn die Zeit dafür reif ist. Verbreite die Parole, so schnell du kannst, und achte auf das Zeichen.

> M1k3y

> Beißen Beißen Beißen Beißen Beißen!

Wir hatten gehofft, dass vielleicht hundert Leute bereit sein würden, VampMob zu spielen. Jeder von uns hatte etwa zweihundert Einladungen rausgeschickt. Aber als ich um vier Uhr aufsprang und zur Xbox griff, waren 400 Antworten eingetroffen. VIERHUNDERT.

Ich fütterte den Bot mit den Adressen und stahl mich aus dem Haus. Ich stieg die Stufen hinab, lauschte noch kurz, wie mein Vater schnarchte und meine Mom sich im Bett hin- und herwälzte. Dann verschloss ich die Tür hinter mir.

Morgens um Viertel nach vier war es in Potrero Hill so still wie auf dem Land. Ich hörte einige entfernte Verkehrsgeräusche, und einmal fuhr ein Auto an mir vorbei.

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An einem Geldautomaten hielt ich an und hob 320 Dollar in Zwanzigern ab, rollte sie zusammen, wickelte ein Gummiband drum und stopfte die Rolle in eine Reißverschlusstasche an der Hüfte meiner Vampirhose.

Ich trug wieder meinen Umhang, ein Rüschenhemd und eine Smokinghose, die so umgearbeitet war, dass sie genug Taschen für all meinen Kleinkram hatte. Dazu noch spitze Stiefel mit silbernen Totenköpfen auf den Schnallen, und mein Haar hatte ich zu einer schwarzen Pusteblume aufgestylt. Ange wollte das weiße Make-up mitbringen und hatte versprochen, mir Eyeliner und schwarzen Nagellack zu machen. Warum auch nicht? Wann würde ich denn das nächste Mal Gelegenheit haben, mich auf diese Weise zu verkleiden?

Ich traf Ange vor ihrem Haus. Sie hatte ebenfalls ihre Tasche umgehängt, trug Netzstrümpfe, ein gekräuseltes Gothic-Lolitakleidchen, weiße Schminke im Gesicht, ausgefeiltes Kabuki-Augen-Make-up, und an ihren Fingern und am Hals prangte Silberschmuck.

†œDu siehst TOLL aus!†, sagten wir wie aus einem Mund, dann lachten wir still und machten uns durch die Straßen davon, Sprühdosen in unseren Taschen.

Während ich das Civic Center betrachtete, überlegte ich, wie es wohl dort aussehen würde, wenn es von 400 VampMobbern heimgesucht wurde. Ich erwartete sie ihn zehn Minuten außen vor der City Hall. Schon jetzt wimmelte es auf der großen Plaza von Pendlern, die fein säuberliche Bögen um die dort bettelnden Obdachlosen machten.

Ich habe das Civic Center schon immer gehasst. Es ist eine Ansammlung von Hochzeitstorten-Bauwerken: Gerichtsgebäude, Museen und öffentliche Gebäude wie die City Hall. Die Bürgersteige sind breit, die Gebäude sind weiß. Irgendwie schaffen sie es, dass der Komplex auf Fotos für die Reiseführer von San Francisco wie das Epcot Center aussieht, futuristisch und streng.

Aber aus der Nähe ist es schmuddelig und eklig. Auf allen Bänken schlafen Obdachlose. Das Viertel ist spätestens abends um sechs leer, Betrunkene und Junkies ausgenommen; denn da es dort nur eine einzige Sorte Gebäude gibt, gibt es überhaupt keinen Grund, nach Sonnenuntergang noch rumzuhängen. Es ist eher ein Einkaufszentrum als ein Wohnviertel, aber die einzigen Geschäfte dort sind Kautionsvermittler und Spirituosenläden, also Angebote für die Familien der Ganoven, die hier vor Gericht stehen, und die Penner, die hier ihre nächtliche Wohnstätte haben.

So richtig verstand ich das alles, als ich ein Interview mit einer erstaunlichen alten Stadtplanerin las, einer Frau namens Jane Jacobs, die mir als erste wirklich begreiflich machen konnte, warum es falsch war, die Städte mit Autobahnen zu zerteilen, alle Armen in Wohnungsprojekte zu stecken und streng gesetzlich zu regeln, wer was wann wo tun durfte.

Jacobs erklärte, dass wirkliche Städte organisch sind und eine Menge Vielfalt aufweisen †“ Reich und Arm, Weiß und Braun, Anglo und Mex, Einzelhandel und Wohnen und sogar Industrie. Solch ein Viertel wird von allen Arten von Menschen zu sämtlichen Tages- und Nachtstunden besucht, deshalb siedeln sich dort Geschäfte an, die jeden denkbaren Bedarf decken, und du hast dort rund um die Uhr Leute, die ganz von selbst über die Straßen wachen.

Ihr kennt das sicherlich. Spaziert mal durch einen älteren Teil eurer Stadt, und ihr werdet merken, dass er voll mit den coolsten Geschäften ist, mit Typen in Anzügen oder edelschlampig, gehobenen Restaurants und schicken Cafés, vielleicht einem kleinen Kino, mit liebevoll gestrichenen Häusern. Sicher wirds da auch einen Starbucks geben, aber eben auch einen hübschen kleinen Obst- und Gemüse-Markt und eine Floristin, die dreihundert Jahre alt zu sein scheint und sorgfältig an den Blumen in ihren Fenstern schnipselt. Das ist das Gegenteil von geplantem Raum wie etwa einem Einkaufszentrum. Es fühlt sich eher an wie ein verwilderter Garten oder ein Wald: als wäre es gewachsen.

Man könnte nicht weiter davon entfernt sein als im Civic Center. Ich las dieses Interview mit Jacobs, in dem sie über das wundervolle alte Viertel sprach, das sie dafür abgerissen hatten. Es war genau diese Sorte Viertel gewesen, diese Art Ort, die einfach geschah †“ ohne explizite Erlaubnis, ohne Sinn und Verstand.

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Jacobs erzählte, sie habe vorhergesagt, dass das Civic Center binnen weniger Jahre eines der schlimmsten Viertel der Stadt werden würde, eine Geisterstadt bei Nacht, ein Ort, an dem nur ein paar klapprige Läden für Säuferbedarf und schäbige Motels eine Existenzgrundlage finden würden. Sie erweckte im Interview nicht den Eindruck, als freue sie sich darüber, von der Realität bestätigt worden zu sein; viel eher klang es, als spreche sie über einen toten Freund, als sie beschrieb, was aus dem Civic Center geworden war.

Aber jetzt war Rushhour, und das Civic Center war denkbar belebt. Die dortige BART ist zugleich ein Knotenpunkt mehrerer Straßenbahnlinien, und wenn du von einer zur anderen wechseln musst, tust du es hier. Morgens um acht kamen Tausende Leute die Treppen hoch, liefen die Treppen runter, stiegen in Taxis und Busse ein und aus. Bei den DHS-Checkpoints an den diversen öffentlichen Gebäuden knubbelten sie sich, um aggressive Bettler machten sie große Bögen. Alle rochen sie nach ihren Shampoos und Deos, frisch geduscht und in der Rüstung ihrer Bürokluft, mit Laptoptaschen und Aktentaschen. Morgens um acht war das Civic Center der Nabel der Geschäftswelt.

Und jetzt kamen die Vampire. Ein paar Dutzend aus Richtung Van Ness, ein paar Dutzend von Market Street. Noch mehr von der anderen Seite von Market. Sie glitten an den Gebäuden entlang mit weißer Gesichtsfarbe und schwarzem Eyeliner, schwarzen Klamotten, Lederjacken, enorm schweren Stiefeln und fingerlosen Netzhandschuhen.

Sie begannen die Plaza zu füllen. Einige der Geschäftsleute warfen ihnen kurze Blicke zu und wandten sich dann wieder ab; wollten wohl diese Irren nicht in ihre persönliche Realität eindringen lassen, in der es nur darum ging, durch welchen Mist sie sich in den kommenden acht Stunden wieder zu wühlen hatten. Die Vamps stromerten rum, unsicher, wann das Spiel losgehen würde. Sie sammelten sich in großen Gruppen, wie ein umgekehrter Ölteppich, alles Schwarz sammelte sich an einem Fleck. Viele von ihnen trugen altmodische Hüte, Melonen, Museumsstücke. Und viele der Mädchen hatten sich mit grausig-eleganten Lolitakostümen und enormen Plateausohlen aufgebrezelt.

Ich versuchte ihre Zahl zu schätzen. 200. Fünf Minuten später waren wir bei 300, 400. Und es kamen immer noch welche. Die Vampire hatten Freunde mitgebracht.

Jemand packte mich am Po. Ich wirbelte herum und sah Ange, die sich vor Lachen schüttelte.

†œSieh dir das an, Mann, sieh dir die alle an!†, staunte sie. Der Platz war jetzt doppelt so bevölkert wie noch vor wenigen Minuten. Ich wusste nicht, wie viele Xnetter es insgesamt gab, aber mindestens 1000 von ihnen waren gerade bei meiner kleinen Party erschienen. Allmächtiger.

Die DHS- und SFPD-Bullen setzten sich in Bewegung, sprachen in ihre Funkgeräte und gruppierten sich. Ich hörte von fern eine Sirene.

†œNa gut†, sagte ich und schüttelte Ange am Arm. †œOkay, los gehts.† Wir verschwanden beide in der Menge, und sobald wir unseren ersten Vamp trafen, sagten wir beide laut †œBeißen Beißen Beißen Beißen Beißen!† Mein Opfer war ein fassungsloses, süßes Mädchen, das sich Spinnweben auf die Arme gemalt hatte und dem das Mascara bereits die Wangen herablief. Sie sagte †œMist† und zog sich zurück, als sie erkannte, dass ich sie erwischt hatte.

Der Ruf †œBeißen Beißen Beißen Beißen Beißen!† hatte die Vampire in der Nähe in Bewegung versetzt. Einige stürzten sich gleich auf die anderen, andere suchten nach Deckung. Für diese Minute hatte ich mein Opfer, deshalb schlich ich mich davon, Irdische als Deckung benutzend. Überall um mich herum nun †œBeißen Beißen Beißen Beißen Beißen!†, Rufe, Gelächter, Flüche.

Das Geräusch verbreitete sich wie ein Virus in der Menge. Alle Vampire wussten jetzt, dass das Spiel im Gange war, und die, die sich zu Grüppchen versammelt hatten, fielen jetzt wie die Fliegen. Sie lachten, schimpften und wechselten ihren Standort, um Neuankömmlingen mitzuteilen, dass das Spiel lief. Und neue Vamps kamen immer noch sekündlich dazu.

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8:16. Es war Zeit für mich, wieder einen zu erwischen. Ich duckte mich und wuselte zwischen den Beinen der Normalos durch, die unterwegs zu den Treppen zur BART waren. Sie schreckten erstaunt zurück und versuchten mir auszuweichen. Meine Blicke waren völlig fixiert auf ein Paar schwarzer Plateaustiefel mit stählernen Drachen auf den Zehenkappen, deshalb war ich nicht drauf vorbereitet, einem anderen Vampir plötzlich Auge in Auge gegenüberzustehen †“ einem Typen von vielleicht 15 oder 16 Jahren, der das Haar glatt zurückgegelt hatte und eine Marilyn-Manson-PVC-Jacke trug, dazu Halsketten mit falschen Stoßzähnen, in die komplizierte Symbole eingraviert waren.

†œBeißen Beißen Beißen…†, begann er, als einer der Irdischen über ihn stolperte und sie sich beide langmachten. Ich sprang rüber zu ihm und rief †œBeißen Beißen Beißen Beißen Beißen!†, bevor er sich wieder losmachen konnte.

Immer mehr Vampire kamen dazu. Die Anzüge wurden allmählich echt nervös. Das Spiel schwappte nun über den Bürgersteig in Van Ness rein und breitete sich Richtung Market Street aus. Autofahrer hupten, und die Straßenbahnen ließen wütendes Klingeln vernehmen. Ich hörte weitere Sirenen, aber mittlerweile war der Verkehr in alle Richtungen zum Erliegen gekommen.

Es war verdammt glorreich.

Beißen Beißen Beißen Beißen Beißen!

Der Ruf kam jetzt von überall her. Es waren so viele Vampire, und sie spielten so leidenschaftlich, dass es ein monströses Getöse war. Ich riskierte es, aufzustehen und mich umzuschauen, und erkannte, dass ich mich mitten in einer gewaltigen Menge von Vamps befand, die sich in alle Richtungen erstreckte, so weit mein Blick reichte.

Beißen Beißen Beißen Beißen Beißen!

Das hier war sogar noch besser als das Konzert in Dolores Park. Dort war es wütendes Rocken gewesen, aber hier †“ nun, hier war es einfach nur Spaß. Es war wie wieder auf den Spielplatz gehen, wie diese ausufernden Abklatschen-Spiele in sonnigen Mittagspausen, wenn Hunderte Kinder hintereinander her rannten. Die Erwachsenen und die Autos verliehen dem Ganzen nur noch etwas Extra-Spaß.

Ja, genau das war es: Spaß. Wir waren mittlerweile alle nur noch am Lachen.

Aber die Bullen machten jetzt mächtig mobil. Ich hörte Hubschrauber. Nun konnte es jeden Moment vorbei sein. Zeit für das Endspiel.

Ich schnappte mir einen Vamp.

†œEndspiel: Wenn die Bullen uns auffordern, uns zu zerstreuen, dann tu so, als hätten sie dich mit Gas erwischt. Weitersagen. Was hab ich gerade gesagt?†

Der Vamp war ein Mädchen, so klein, dass ich erst dachte, sie müsse sehr jung sein, aber nach ihrem Gesicht und dem Grinsen zu urteilen, doch schon 17 oder 18. †œBoah, das ist derbe†, sagte sie.

†œWas hab ich gesagt?†

†œEndspiel: Wenn die Bullen uns auffordern, uns zu zerstreuen, tu so, als hätten sie dich mit Gas erwischt. Weitersagen. Was hab ich gerade gesagt?†

†œStimmt†, sagte ich. †œWeitersagen.†

Sie verschwand in der Menge. Ich schnappte mir einen anderen Vampir und gab die Parole aus. Er verschwand, um sie weiterzusagen.

Irgendwo in der Menge, das wusste ich, war Ange dabei, dasselbe zu tun. Irgendwo in der Menge könnten auch Maulwürfe sein, falsche Xnetter, aber was sollten sie mit diesem Wissen schon anfangen? War ja nicht so, dass die Polizei die Wahl hatte. Die mussten uns dazu auffordern, uns zu zerstreuen. Soviel war garantiert.

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Ich musste zu Ange kommen. Wir hatten geplant, uns an der Gründerstatue auf der Plaza zu treffen, aber dorthin zu gelangen würde schwierig werden. Die Menge bewegte sich nicht mehr bloß, sondern sie wogte, so wie damals der Mob auf dem Weg runter zur BART am Tag, als die Bomben hochgingen. Ich mühte mich ab, mir einen Weg zu bahnen, als die Lautsprecher unter dem Hubschrauber eingeschaltet wurden.

†œHIER SPRICHT DIE HEIMATSCHUTZBEHÖRDE. SIE WERDEN DAZU AUFGEFORDERT, SICH SOFORT VON HIER ZU ENTFERNEN.†

Um mich herum fielen Hunderte Vampire zu Boden, griffen sich an die Kehle, rieben ihre Augen, schnappten nach Luft. So zu tun, als ob man begast würde, war einfach †“ wir hatten reichlich Gelegenheit gehabt, die Videos aus Mission Dolores Park zu studieren, als das Partyvolk unter Pfefferspray-Wolken zu Boden ging.

†œENTFERNEN SIE SICH SOFORT VON HIER.† Ich fiel zu Boden, aber mit Rücksicht auf meine Tasche, und griff nach hinten zu der roten Baseball-Mütze, die zusammengefaltet im Hosenbund steckte. Ich presste sie auf den Kopf, dann griff ich mir an die Kehle und gab ekelhaft würgende Geräusche von mir.

Die Einzigen, die jetzt noch standen, waren die Irdischen, all die Angestellten, die bloß versucht hatten, zu ihren Jobs zu kommen. Ich blickte mich nach ihnen um, so gut es beim Würgen und Hecheln ging.

†œHIER SPRICHT DIE HEIMATSCHUTZBEHÖRDE. SIE WERDEN DAZU AUFGEFORDERT, SICH SOFORT VON HIER ZU ENTFERNEN. ENTFERNEN SIE SICH SOFORT VON HIER.†

Die Stimme Gottes schmerzte in meinen Eingeweiden. Ich spürte sie in meinen Backenzähnen, in den Oberschenkeln und in meinem Rückgrat.

Die Angestellten bekamen Angst. Sie bewegten sich, so schnell sie konnten, aber nicht in eine bestimmte Richtung. Egal wo du standest, die Helikopter schienen unmittelbar über dir zu sein. Die Bullen drangen jetzt in die Menge vor, und sie hatten ihre Helme aufgesetzt. Einige trugen Schilde. Einige trugen Gasmasken. Ich keuchte noch mehr.

Dann fingen die Angestellten an zu rennen. Wahrscheinlich wäre ich auch gerannt. Ich sah, wie ein Typ sich sein 500-Dollar-Jackett vom Körper riss und es sich ums Gesicht wickelte, bevor er südwärts Richtung Mission losrannte, nur um zu stolpern und längs hinzuschlagen. Seine Flüche mengten sich unter die Erstickungsgeräusche.

Das war nicht vorgesehen †“ das Keuchen hätte die Leute doch nur nervös machen und verwirren sollen, aber nicht zu einer panischen Stampede veranlassen.

Jetzt waren auch Schreie zu hören, Schreie, die ich nur zu gut von jener Nacht im Park kannte. Das waren die Schreie von Leuten, die außer sich waren vor Angst und die sich gegenseitig anrempelten in ihren verzweifelten Versuchen, wegzukommen von hier.

Und dann gingen die Luftschutzsirenen los.

Ich hatte diese Geräusche seit den Bomben nicht mehr gehört, aber ich würde sie nie wieder vergessen. Sie schnitten glatt durch mich hindurch, gingen mir direkt in die Eier und verwandelten meine Beine in Wackelpudding. In meiner Panik wollte ich nur noch wegrennen. Ich mühte mich auf die Füße, rote Mütze auf dem Kopf, und dachte nur an das Eine: Ange. Ange und die Gründerstatue.

Jetzt waren alle auf den Beinen, rannten überallhin, schrien. Ich schubste Leute aus dem Weg, hielt meine Tasche und meine Mütze fest und drängte in Richtung Gründerstatue. Masha suchte nach mir, ich suchte nach Ange. Ange war da draußen.

Ich schubste und fluchte. Rempelte jemanden mit dem Ellbogen an. Irgendjemand trat mir so hart auf den Fuß, dass ich etwas knacksen spürte, und ich rammte ihn, dass er stürzte.

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Er versuchte aufzustehen, und ein anderer trat auf ihn. Ich rempelte und rammte weiter.

Dann streckte ich den Arm aus, um den Nächsten zu schubsen, da griffen kräftige Arme mein Handgelenk und meinen Ellbogen in einer flüssigen Bewegung und zogen mir den Arm hinter meinen Rücken. Es fühlte sich an, als ob meine Schulter aus ihrem Gelenk gedreht würde, und sofort beugte ich mich nach vorn †“ brüllend vor Schmerz, was aber im Lärm der Masse, dem Wummern der Helikopter und dem Sirenengeheul kaum hörbar war.

Die starken Hände hinter mir brachten mich wieder zum Stehen und steuerten mich wie eine Marionette. Der Griff war so perfekt, dass ich nicht mal dran denken konnte, mich herauszuwinden. Ich konnte nicht an den Lärm, nicht an den Hubschrauber und auch nicht an Ange denken. Alles, woran ich denken konnte, war, mich dorthin zu bewegen, wo diese Person hinter mir mich haben wollte. Dann wurde ich umgedreht und sah der Person ins Gesicht.

Es war ein Mädchen mit kantigem Nagetiergesicht, halb verborgen hinter einer riesigen Sonnenbrille. Über den Gläsern stand ein Schopf strahlend pinkfarbener Haare in alle Richtungen ab.

†œDu!†, sagte ich. Ich kannte sie. Sie hatte ein Foto von mir gemacht und gedroht, mich damit beim Schwänzerblog zu verpfeifen. Das war fünf Minuten vor den Sirenen gewesen. Das war sie gewesen, rücksichtslos und gerissen. Wir waren beide von diesem Platz im Tenderloin weggerannt, als hinter uns die Huperei begonnen hatte, und wir waren beide von den Bullen aufgegriffen worden. Ich hatte mich feindselig benommen, und sie hatten entschieden, dass ich ein Feind sei.

Sie †“ Masha †“ wurde ihre Verbündete.

†œHallo, M1k3y†, zischte sie mir ins Ohr, so nah wie eine Liebhaberin. Ein Zittern kroch mir den Nacken hoch. Sie ließ meinen Arm los, und ich schüttelte ihn.

†œO Gott†, sagte ich. †œDu!†

†œJa, ich. Das Gas kommt in zirka zwei Minuten runter. Zeit, unsern Arsch zu retten.†

†œAnge †“ meine Freundin †“ ist bei der Gründerstatue.†

Masha blickte über die Menge. †œKeine Chance†, sagte sie. †œWenn wir versuchen, dahin zu kommen, sind wir geliefert. Das Gas kommt in zwei Minuten runter, falls dus beim ersten Mal nicht gehört hast.†

Ich blieb stehen. †œOhne Ange gehe ich nicht†, sagte ich.

Sie zuckte die Achseln. †œWie du willst†, rief sie mir ins Ohr. †œEs ist deine Beerdigung.†

Sie fing an, sich durch die Menge zu drängen, weg, nach Norden, Richtung Downtown. Ich drängte weiter zur Gründerstatue. Einen Augenblick später war mein Arm wieder in dem grässlichen Haltegriff, und ich wurde herumgestoßen und vorwärtsgetrieben.

†œDu weißt zuviel, Schwachkopf. Du hast mein Gesicht gesehen. Du kommst mit mir.†

Ich brüllte sie an, zappelte, bis ich dachte, gleich müsse mein Arm brechen, aber sie trieb mich weiter. Mein verletzter Fuß peinigte mich bei jedem Schritt, und meine Schulter fühlte sich an wie kurz vorm Abbrechen.

Indem sie mich als ihren Rammbock benutzte, kamen wir in der Menge ganz gut voran. Das Jaulen der Helikopter veränderte sich, und sie schubste mich noch fester. †œRENN!†, schrie sie. †œJetzt kommt das Gas!†

Der Lärm der Menge änderte sich ebenfalls. Die erstickten Geräusche und das Brüllen wurden sehr viel lauter. Ich hatte dieses Anschwellen des Lärms schon mal gehört. Wir waren wieder im Park. Das Gas regnete herab. Ich hielt die Luft an und RANNTE.

Wir schoben uns aus der Masse heraus, und sie ließ meinen Arm los.

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Ich humpelte, so schnell ich konnte, auf den Bürgersteig, während die Menge sich mehr und mehr zerstreute. Wir liefen auf eine Gruppe von DHS-Bullen mit Schutzschilden, Helmen und Masken zu. Als wir näher kamen, versuchten sie uns den Weg zu versperren, aber Masha hielt eine Marke hoch, und sie wichen zurück, als sei sie Obi Wan Kenobi, wenn er sagt, †œDas sind nicht die Droiden, die ihr sucht†.

†œDu gottverdammtes Miststück†, sagte ich, als wir Market Street raufhetzten. †œWir müssen zurückgehen, um Ange zu holen.†

Sie spitzte die Lippen und schüttelte den Kopf. †œTut mir echt Leid für dich, Kumpel. Ich hab meinen Freund jetzt schon Monate nicht gesehen. Der denkt wahrscheinlich, ich bin tot. Kriegsschicksale. Wenn wir für deine Ange zurückgehen, sind wir tot. Wenn wir weiterlaufen, haben wir eine Chance. Und wenn wir eine Chance haben, hat sie auch eine. Diese Kids kommen nicht alle nach Gitmo. Die werden wohl ein paar hundert zum Befragen dabehalten und den Rest heimschicken.†

Wir liefen weiter Market Street hoch und kamen jetzt an den Strip-Lokalen vorbei, wo auch die Penner und Junkies ihre kleinen Lager aufgeschlagen hatten, die wie offene Klohäuschen stanken. Masha führte mich zu einer Nische im verschlossenen Eingang einer dieser Striptease-Höhlen. Sie zog ihre Jacke aus und wendete sie †“ das Futter war ein gedämpftes Streifenmuster, und durch die umgedrehten Nähte fiel die Jacke jetzt auch anders. Aus der Tasche zog sie eine Wollmütze hervor, die sie so über ihr Haar zog, dass es eine kecke seitliche Ausbuchtung ergab. Dann holte sie ein paar Abschmink-Tücher heraus und bearbeitete ihr Gesicht und die Fingernägel. Einen Moment später war sie eine andere Frau.

†œKleidung wechseln†, sagte sie. †œJetzt du. Schuhe aus, Jacke aus, Mütze aus.† Ich verstand, was sie meinte. Die Bullen würden ziemlich sorgfältig nach jedem Ausschau halten, der aussah, als könnte er beim VampMob dabeigewesen sein. Die Mütze warf ich gleich weg †“ diese Sorte Caps hatte ich eh nie leiden können. Dann stopfte ich die Jacke in meine Tasche und holte ein Langarmshirt mit Rosa-Luxemburg-Aufdruck heraus, das ich über mein schwarzes T-Shirt zog. Ich ließ Masha mein Make-up und den Nagellack abwischen, und ruckzuck war ich sauber.

†œSchalt dein Handy aus†, sagte sie. †œIrgendwelche RFIDs dabei?† Ich hatte meinen Studentenausweis, meine Geldautomatenkarte und den Fast Pass. Alles wanderte in einen silbernen Beutel, den sie mir hinhielt und den ich als strahlendichten Faraday-Beutel erkannte. Aber als sies in ihre Tasche steckte, dämmerte mir, dass ich ihr gerade meine gesamte Identifikation anvertraut hatte. Wenn sie nun auf der gegnerischen Seite war?

Allmählich wurde mir auch die Tragweite dessen bewusst, was gerade passiert war. Ich hatte mir ausgemalt, dass Ange in diesem Moment bei mir sein würde. Mit Ange wären wir zwei gegen eine. Ange würde mir helfen, zu merken, ob irgendwas faul war. Ob Masha nicht die war, als die sie sich ausgab.

†œSteck diese Kiesel in deine Schuhe, bevor du sie wieder anziehst.†

†œNicht nötig. Ich hab mir den Fuß verstaucht. Kein Schritterkennungsprogramm wird mich jetzt erkennen.†

Sie nickte einmal, zwei Profis unter sich, und schleuderte ihre Tasche über. Ich schnappte mir meine, und weiter gings. Gesamtzeit für den Wechsel war weniger als eine Minute gewesen, und wir sahen aus und liefen wie zwei andere Menschen.

Sie schaute auf die Uhr und schüttelte den Kopf. †œKomm schon†, sagte sie, †œwir müssen zu unserem Treffpunkt. Komm aber ja nicht auf die Idee wegzurennen. Du hast jetzt die Wahl zwischen mir und dem Knast. Die werden ein paar Tage brauchen, um die Aufzeichnungen vom Mob zu analysieren, aber wenn sie damit durch sind, wandert jedes Gesicht in eine Datenbank. Unser Verschwinden wird bemerkt werden. Wir sind jetzt beide gesuchte Kriminelle.†

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Am nächsten Block bogen wir von Market Street ab und liefen Richtung Tenderloin zurück. Diese Ecke kannte ich. Hier war es, wo wir das offene WLAN gesucht hatten, an diesem Tag, als wir Harajuku Fun Madness spielten.

†œWohin gehen wir?†, fragte ich.

†œWir trampen. Halt die Klappe, ich muss mich konzentrieren.† Wir hatten Tempo drauf, und Schweiß floss mir übers Gesicht, den Rücken runter, durch die Po-Ritze und über die Schenkel. Mein Fuß tat heftig weh, und die Straßen von San Francisco rauschten an mir vorbei, vielleicht zum letzten Mal für immer.

Es machte die Sache auch nicht besser, dass wir ständig bergauf stampften, dorthin, wo das schäbige Tenderloin den Luxusimmobilien von Nob Hill weicht. Ich atmete in abgerissenen Japsern. Sie lotste uns zumeist durch schmale Gässchen und benutzte die großen Straßen nur, um von einem Schleichpfad zum nächsten zu gelangen.

Als wir gerade in so ein Gässchen, Sabin Place, einbogen, trat jemand hinter uns und sagte: †œBleibt stehen, wo ihr seid.† Die Stimme quoll über von bösartiger Fröhlichkeit. Wir blieben stehen und drehten uns um.

Am Anfang des Weges stand Charles, gekleidet in ein halbherziges VampMob-Outfit aus schwarzem T-Shirt und Jeans plus weißer Gesichtsbemalung. †œHallo, Marcus†, sagte er. †œWohin des Wegs?† Er grinste ein breites, nasses Grinsen. †œWer ist deine Freundin?†

†œWas willst du, Charles?†

†œAch, weißt du, ich hab in diesem Verräter-Xnet rumgehangen seit dem Tag, an dem ich gesehen habe, wie du in der Schule DVDs verteilt hast. Als ich von diesem VampMob hörte, dachte ich, ich geh mal hin und schau mich um, ob ich dich sehe und was du da treibst. Und weißt du, was ich gesehen habe?†

Ich sagte nichts. Er hatte sein Handy auf uns gerichtet und zeichnete auf. Wahrscheinlich würde er gleich 911 wählen. Neben mir war Masha steif geworden wie ein Brett.

†œIch habe gesehen, wie du das verdammte Ding ANGEFÜHRT hast. Und ich hab es aufgezeichnet, Marcus. Jetzt rufe ich die Polizei an, und wir werden hier auf sie warten. Und dann wirst du für ne verdammt lange Zeit im allerfinstersten Knast verschwinden.†

Masha trat nach vorn.

†œBleib stehen, Schlampe†, sagte er. †œIch hab gesehen, wie du ihm bei der Flucht geholfen hast. Ich habe alles gesehen…†

Sie machte noch einen Schritt vorwärts und entriss ihm das Handy, während sie gleichzeitig mit ihrer anderen Hand nach hinten griff, eine Brieftasche holte und sie aufklappte.

†œDHS, Schwachkopf†, sagte sie. †œIch bin beim DHS. Und ich hab diesen Blödmann zu seinen Auftraggebern laufen lassen, um zu sehen, wohin er geht. Wollte ich zumindest. Jetzt hast dus vergeigt. Wir haben einen Namen für so was. Wir nennen das ,Behinderung der Nationalen Sicherheit†™. Du wirst den Begriff in Zukunft noch ziemlich oft hören.†

Charles wich einen Schritt zurück, die Hände nach vorn gestreckt. Er war unter seinem Make-up noch blasser geworden. †œWas? Nein! Ich meine… ich wusste das nicht! Ich wollte doch nur HELFEN!†

†œDas Allerletzte, was wir brauchen, ist ein Trupp Schüler-G-Men, die uns ,helfen†™, Kumpel. Das kannst du dem Richter erzählen.†

Er wich weiter zurück, aber Masha war schnell. Sie packte sein Handgelenk und zwang ihn in denselben Judo-Griff, in dem sie mich am Civic Center gehalten hatte. Ihre Hand verschwand wieder hinten in den Taschen und kam diesmal mit einem Streifen Plastik wieder hervor, Plastikhandschellen, die sie ratzfatz um seine Handgelenke wickelte.

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Das war das Letzte, was ich sah, bevor ich losrannte.

Ich schaffte es bis zum anderen Ende der Gasse; dann holte sie mich ein, tackelte mich von hinten und warf mich zu Boden. Ich hatte nicht sehr schnell rennen können mit meinem lädierten Fuß und der schweren Tasche. Ich landete hart auf dem Gesicht und schrammte meine Wange am rauen Asphalt auf.

†œOh Gott†, sagte sie, †œdu bist so ein gottverdammter Idiot. Du hast das doch nicht wirklich geglaubt, oder?†

Mein Herz wummerte in der Brust. Sie lag auf mir drauf und ließ mich jetzt langsam wieder aufstehen.

†œMuss ich dich fesseln, Marcus?†

Ich kam wieder auf die Beine. Alles tat mir weh. Ich wollte nur noch sterben.

†œKomm jetzt†, sagte sie. †œEs ist nicht mehr weit.†

†œEs† entpuppte sich als Umzugslaster auf einer Nebenstraße in Nob Hill, ein Achtachser in der Größe der allgegenwärtigen DHS-Trucks, die immer noch, antennenüberladen, an San Franciscos Straßenecken auftauchten.

Dieser hier trug jedoch die Aufschrift †œDrei Jungs und ein Laster †“ Umzüge†, und die drei Jungs waren deutlich zu sehen, wie sie bei einem großen Appartementhaus mit grünem Vordach ein- und ausgingen. Vorsichtig trugen sie verpackte Möbel und säuberlich beschriftete Kartons zum Laster, brachten sie einzeln hinein und verstauten sie sorgfältig.

Masha ließ uns noch einmal um den Block laufen, weil sie offensichtlich mit etwas unzufrieden war; bei der nächsten Runde stellte sie Blickkontakt zu dem Mann her, der den Laster beaufsichtigte, einem älteren Farbigen mit Nierengurt und robusten Handschuhen. Er hatte ein freundliches Gesicht und lächelte uns zu, als sie uns schnell, aber beiläufig die drei Stufen zum Truck hoch und in seine Tiefen hineinführte. †œUnter dem großen Tisch†, sagte er. †œWir haben euch da ein bisschen Platz gelassen.†

Der Truck war schon mehr als zur Hälfte voll, aber es gab einen schmalen Gang rund um einen riesigen Tisch, über den eine Quiltdecke geworfen war und dessen Beine mit Blisterfolie eingewickelt waren.

Masha zog mich unter den Tisch. Es war schwül, still und staubig da unten, und ich unterdrückte ein Niesen, als wir uns zwischen den Kartons zusammenkauerten. Der Platz war so knapp, dass wir aufeinander hingen. Ich glaube nicht, dass Ange da auch noch drunter gepasst hätte.

†œDu Miststück†, sagte ich zu Masha.

†œHalts Maul. Du solltest mir lieber die Stiefel lecken aus Dankbarkeit. In einer Woche, höchstens zwei, wärst du im Knast gewesen. Nicht Gitmo-an-der-Bay. Eher Syrien. Ich glaube, da haben sie die hingeschickt, die sie wirklich verschwinden lassen wollten.†

Ich legte den Kopf auf die Knie und versuchte tief zu atmen.

†œWas hat dich überhaupt auf die Schwachsinnsidee gebracht, dem DHS den Krieg zu erklären?†

Ich erzählte es ihr. Ich erzählte ihr von meiner Festnahme, und ich erzählte ihr von Darryl.

Sie befingerte ihre Taschen und zog ein Handy raus. Es war das von Charles. †œFalsches Telefon.† Sie holte ein anderes raus. Sie schaltete es ein, und der Schein seines Monitors erfüllte unser kleines Fort. Nach ein wenig Rumgetippe zeigte sie es mir.

Es war das Bild, das sie von uns gemacht hatte, unmittelbar bevor die Bomben hochgingen. Es war das Bild von Jolu und Van und mir und…

Darryl.

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In meiner Hand hielt ich den Beweis, dass Darryl Minuten vor unserer Festnahme bei uns gewesen war. Den Beweis, dass er lebte, wohlauf und in unserer Begleitung war.

†œDu musst mir eine Kopie davon geben†, sagte ich. †œIch brauch das.†

†œWenn wir in L.A. sind†, sagte sie und nahm das Handy wieder an sich. †œWenn du erst mal eine Einführung in die Kunst hattest, ein Flüchtling zu sein, ohne unsere beiden Ärsche in Syrien verschwinden zu lassen. Ich will nicht, dass du Rettungsfantasien für diesen Typ entwickelst. Da, wo er ist, ist er sicher †“ momentan.†

Ich spielte mit dem Gedanken, ihr das Handy mit Gewalt abzunehmen, aber sie hatte mir ja schon ihre physischen Fähigkeiten bewiesen. Sie musste ein Schwarzgurt sein oder so was.

Wir saßen da im Dunkeln, hörten den drei Jungs zu, wie sie den Laster mit Kartons beluden, alles verrödelten und dabei ächzten vor Anstrengung. Ich versuchte zu schlafen, aber es ging nicht. Masha hatte das Problem nicht. Sie schnarchte.

Immer noch schien Licht durch den engen, zugestellten Korridor, der uns mit der frischen Luft draußen verband. Ich starrte es an durch die Finsternis und dachte an Ange.

Meine Ange. Ihr Haar, das über ihre Schultern strich, wenn sie den Kopf schüttelte vor Lachen über etwas, das ich getan hatte. Ihr Gesicht, wie ich es zum letzten Mal sah, als sie beim VampMob in der Menge untertauchte. All diese Menschen beim VampMob, wie die Menschen im Park, wie sie sich auf dem Boden krümmten, während das DHS mit Knüppeln einmarschierte. Die Verschwundenen.

Darryl. Festgesetzt auf Treasure Island, seine Seite genäht, aus der Zelle geholt für endlose Befragungen über die Terroristen.

Darryls Vater, ruiniert, betrunken, unrasiert. Gewaschen und in seiner Uniform, †œfür die Fotos†. Weinend wie ein kleiner Junge.

Mein eigener Vater und die Veränderungen, die durch mein Verschwinden auf Treasure Island in ihm vorgegangen waren. Er war ebenso gebrochen gewesen wie Darryls Vater, nur eben auf seine Art. Und sein Gesicht, als ich ihm erzählte, wo ich gewesen war.

Das war der Moment, in dem ich wusste, dass ich nicht weglaufen konnte.

Das war der Moment, in dem ich wusste, dass ich bleiben musste †“ und kämpfen.

Mashas Atem war tief und gleichmäßig, aber als ich unendlich langsam in ihrer Tasche nach dem Telefon griff, da schnüffelte sie ein bisschen und verlagerte ihre Position. Ich erstarrte und wagte ganze zwei Minuten lang nicht einmal zu atmen †“ ein-und-zwan-zig-, zwei-und-zwan-zig,…

Ganz langsam beruhigte sich ihr Atem wieder. Millimeter für Millimeter schob ich das Handy etwas weiter aus ihrer Jackentasche heraus, meine Finger und der ganze Arm zitternd von der Anstrengung, sich so langsam bewegen zu müssen.

Dann hatte ich es, ein kleines schokoriegelförmiges Dingens.

Ich drehte mich zum Licht hin, als mich blitzartig eine Erinnerung überfiel: Charles, wie er sein Handy hielt, es auf uns richtete, uns verhöhnte. Das war eins in Riegelform gewesen, silbern, übersät mit den Logos von einem Dutzend Firmen, die den Gerätepreis über die Telefongesellschaft subventioniert hatten. Es war die Sorte Handy, bei der man vor jedem Telefonat erst mal einen Werbespot anhören musste.

Es war zu duster im Truck, um das Handy deutlich zu sehen, aber ich konnte es fühlen. Waren das Firmenlogos an den Seiten? Ja? Ja. Ich hatte Masha gerade das Handy von Charles gestohlen.

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Langsam, langsam drehte ich mich wieder zurück, und langsam, langsam, LANGSAM griff ich wieder in ihre Tasche. Ihr Handy war größer und klobiger, mit einer besseren Kamera und werweißwas sonst noch.

Ich hatte das nun schon mal bewältigt †“ das machte es etwas leichter. Erneut legte ich es millimeterweise frei, wobei ich zwei Mal pausierte, als sie schnaufte und zuckte.

Ich hatte das Handy gerade aus ihrer Tasche befreit und war dabei, mich wegzubewegen, als ihre Hand hervorschoss, schnell wie eine Schlange, und mein Handgelenk umklammerte, hart, mit knirschenden Fingerspitzen auf den kleinen, dünnen Knochen unter meiner Hand.

Ich schnappte nach Luft und starrte in Mashas weit offene Augen.

†œDu bist so ein Idiot†, sagte sie beiläufig, nahm mir das Handy weg und tippte mit der anderen Hand darauf herum.

†œWie hättest du das überhaupt wieder entsperren wollen?†

Ich schluckte. Ich fühlte Knochen in meinem Handgelenk aufeinander reiben. Ich biss mir auf die Lippe, um nicht laut loszuschreien.

Mit ihrer anderen Hand tippte sie weiter. †œIst es das, mit dem du dich davonmachen wolltest?† Sie zeigte mir das Foto von uns allen, Darryl und Jolu, Van und mir. †œDieses Bild?†

Ich sagte gar nichts. Mein Handgelenk fühlte sich an, als würde es gleich zerbersten.

†œVielleicht sollte ichs einfach löschen, um dich nicht weiter in Versuchung zu führen.† Ihre freie Hand bewegte sich weiter. Ihr Telefon fragte sie, ob sie sicher sei, und sie musste draufschauen, um die richtige Taste zu finden.

Das war meine Chance. Ich hatte Charles†™ Handy immer noch in der anderen Hand, und ich hieb damit so hart ich konnte auf die Hand ein, mit der sie mich umklammerte. Beim Ausholen schlug ich mir die Fingerknöchel an der Tischplatte über mir wund, aber ich traf ihre Hand so fest, dass das Telefon zersplitterte; sie schrie auf, und ihre Hand wurde schlaff. Ich ließ nicht locker, griff nach ihrer anderen Hand, nach ihrem jetzt entsperrten Telefon, über dessen OK-Taste immer noch ihr Daumen drohte. Ihre Finger verkrampften sich im Leeren, als ich ihr das Handy entriss.

Auf Händen und Knien arbeitete ich mich den Korridor entlang, dem Licht entgegen. Zwei Mal spürte ich, wie ihre Hände nach meinen Füßen und Knöcheln griffen, und ich musste ein paar der Kartons, die uns wie einen Pharao in seinem Grab eingemauert hatten, beiseite schubsen. Einige davon fielen hinter mir zu Boden, und ich hörte Masha wieder ächzen.

Die Rolltür des Trucks war einen Spalt breit offen, und ich tauchte darunter durch. Die Trittleiter war entfernt worden, und ich fand mich über der Straße hängend wieder, rutschte mit dem Kopf zuvorderst hinab und schlug mit der Stirn dermaßen hart auf dem Asphalt auf, dass es in meinen Ohren schepperte wie ein Gong. Indem ich mich am Stoßfänger festklammerte, mühte ich mich wieder auf die Füße und zog verzweifelt den Griff nach unten, bis die Tür zuknallte. Innen schrie Masha auf †“ ich musste ihre Fingerkuppen erwischt haben. Ich dachte, ich müsse mich übergeben, aber ich tat es nicht.

Stattdessen verriegelte ich den Truck. – Fortsetzung Kapitel 20

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Hintergründe, Handlung und weitere Informationen zu Little Brother findet ihr unter: Jugendthriller: Little Brother von Cory Doctorow komplett im Netz

Hier handelt es sich um die deutsche Übersetzung von Christian Wöhrl

Little Brother ist unter einem Creative Commons Namensnennung-Keine kommerzielle Nutzung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenzvertrag lizenziert.

Das Original wurde unter: http://craphound.com/littlebrother veröffentlicht.

Little Brother von Cory Doctorow: Kapitel 18

Little Brother

Kapitel 18

Dieses Kapitel ist Vancouvers mehrsprachigem Sophia Books gewidmet, einem vielseitigen, spannenden Laden voll mit dem Besten, das die merkwürdige, aufregende Popkultur vieler Länder zu bieten hat. Sophia war um die Ecke meines Hotels, als ich nach Van kam, um eine Rede an der Simon Fraser University zu halten, und die Leute bei Sophia baten mich im Voraus per Mail darum, bei ihnen reinzuschauen und ihren Bestand zu signieren, wenn ich schon mal in der Nähe sei.

Als ich dort ankam, entdeckte ich eine wahre Fundgrube von Werken, die ich nie zuvor gesehen hatte, in einer verwirrenden Vielzahl von Sprachen, von Comic-Romanen bis hin zu dicken akademischen Abhandlungen, unter der Obhut von netten, ungemein lustigen Mitarbeitern, die ihre Jobs so offensichtlich genossen, dass das auf jeden Kunden abfärbte, der den Laden betrat.

Sophia Books:

http://www.sophiabooks.com/

450 West Hastings St., Vancouver, BC Canada V6B1L1 +1 604 684 0484

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Es gab mal ne Zeit, da war es meine absolute Lieblingsbeschäftigung, einen Umhang anzulegen und in Hotels rumzuhängen, um so zu tun, als sei ich ein unsichtbarer Vampir, der von jedermann angestarrt wurde.

Das ist kompliziert, aber nicht halb so bizarr, wie es klingt. Die Live-Action-Rollenspielszene verbindet die besten Seiten von †œDungeons & Dragons† mit Drama Club und Science-Fiction-Conventions.

Es ist mir klar, dass das für euch nicht ganz so anziehend klingt wie für mich, als ich vierzehn war.

Die besten Spiele waren die in den Pfadfinderlagern außerhalb der Stadt: Hundert Teenager, Jungs und Mädchen, die sich mit dem Freitagabend-Verkehr abplagten, Geschichten tauschten, auf Handheld-Konsolen spielten und stundenlang auf den Putz hauten. Und sich dann im Gras vor einer Gruppe älterer Männer und Frauen in knallharten selbstgemachten Rüstungen aufstellten, Rüstungen mit Dellen und Kratzern, wie sie früher ausgesehen haben mussten, nicht so wie die Rüstungen im Kino, sondern so wie Soldatenuniformen nach einem Monat im Feld.

Diese Leute wurden pro forma dafür bezahlt, die Spiele zu leiten, aber solche Jobs bekamst du nur, wenn du die Sorte Mensch warst, der das auch für lau machen würde. Wir waren auf Basis der Fragebögen, die wir im Vorfeld ausgefüllt hatten, in Gruppen eingeteilt worden, und nun wurden wir unseren Teams zugeordnet, ganz wie bei der Seitenverteilung beim Baseball.

Dann bekamen wir unsere Briefings. Die waren so ähnlich wie die Briefings, die Spione in Filmen bekommen: Hier ist deine Identität, hier ist dein Auftrag, und das hier sind die Geheimnisse, die du über die Gruppe weißt.

Danach war Essenszeit: Feuer prasselte, Fleisch brutzelte am Spieß, in der Pfanne zischte das Tofu (das hier ist Nordkalifornien, hier ist die Veggie-Option nicht bloß optional), und die Tischsitten konnte man beim besten Willen nur als Zecherei bezeichnen.

Die eifrigsten Kids schalteten jetzt bereits auf ihren Rollenspiel-Charakter um. In meinem ersten Spiel war ich ein Zauberer. Ich hatte eine Tasche voller Bohnensäckchen, die Zaubersprüche darstellten †“ wenn ich einen warf, musste ich den Namen des Zaubers rufen, den ich anwenden wollte (Feuerball, magisches Geschoss, Lichtkegel), und der Spieler, das †œMonster†, auf den ich warf, musste hintenüber kippen, wenn ich traf. Oder auch nicht †“ manchmal mussten wir einen Schiedsrichter rufen, der dann vermittelte, aber die meiste Zeit waren wir ziemlich gut im Fairplay. Erbsenzähler mochte keiner leiden.

Bis zur Schlafenszeit waren wir alle voll in unseren Rollen drin. Mit vierzehn wusste ich zwar noch nicht sicher, wie so ein Zauberer klingen musste, aber ich hatte meine Anregungen aus Filmen und Büchern. Ich sprach in langsamen, gemessenen Sätzen, wahrte einen angemessen mystischen Gesichtsausdruck und dachte mystische Gedanken.

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Die Aufgabe war knifflig: Es ging darum, eine heilige Reliquie wiederzubeschaffen, die von einem Menschenfresser gestohlen worden war, der die Leute des Landes seinem Willen unterjochte. Aber im Grunde war das nicht so wichtig. Wichtig war für mich, dass ich eine private Mission hatte, nämlich einen bestimmten Typ Kobold zu fangen und zu meinem Vertrauten zu machen, und dass ich einen geheimen Gegenspieler hatte, einen anderen Spieler im Team, der früher, als ich ein Kind war, an einem Angriff teilgenommen hatte, bei dem meine Familie umgebracht wurde, und der nicht wusste, dass ich zurückkommen würde, um Rache zu nehmen. Und natürlich war irgendwo noch ein anderer Spieler, der ähnlichen Zorn gegen mich hegte, sodass ich bei all der angenehmen Kameradschaft im Team immer auch darauf achten musste, ob jemand versuchte, mir ein Messer in den Rücken zu rammen oder Gift ins Essen zu streuen.

Die nächsten zwei Tage lang spielten wir die Sache aus. Teile des Wochenendes waren wie Versteckspielen, andere waren wie Survivaltraining in der Wildnis, und wieder andere waren wie Kreuzworträtsellösen. Die Spielleiter hatten ihren Job toll gemacht. Und es entwickelten sich echte Freundschaften mit den anderen Leuten in der eigenen Mission. Darryl war das Opfer meines ersten Mordes, und ich kniete mich echt rein, obwohl er mein Kumpel war. Netter Kerl; wirklich schade, dass ich ihn töten musste.

Ich erwischte ihn mit einem Feuerball, während er die Beute checkte, nachdem wir eine Horde von Orks plattgemacht hatten, indem wir mit jedem Ork eine Runde Schere-Stein-Papier spielten, um auszumachen, wer den Kampf gewinnen würde. Das ist viel spannender, als es klingt.

Das war wie Sommerfreizeit für Drama-Fans. Wir quatschten in unseren Zelten bis tief in die Nacht, betrachteten die Sterne, sprangen in den Fluss, wenn uns heiß wurde, und erschlugen Stechmücken. Wir wurden beste Freunde †“ oder Feinde fürs Leben.

Ich weiß nicht, warum Charles†™ Eltern ihren Sohn zum LARPen geschickt hatten. Er war nicht die Art Junge, die dieses Zeug wirklich genoss. Er war eher die Sorte, die Fliegen ihre Flügel ausriss. Na ja, vielleicht auch nicht. Aber er war echt nicht der Typ, in Verkleidung im Wald rumzurennen. Er muffelte die ganze Zeit bloß rum, hatte für alles und jeden bloß Verachtung übrig und versuchte uns davon zu überzeugen, dass das alles lange nicht so toll war, wie wir glaubten. Bestimmt habt ihr solche Menschen schon getroffen: Menschen, deren selbst gestellte Aufgabe es ist, allen anderen jeglichen Spaß zu verderben.

Charles†™ zweites Problem war, dass er simulierte Gefechte einfach nicht begreifen konnte. Wenn man erst mal anfängt, im Wald rumzurennen und ausgefeilte halbmilitärische Spiele zu spielen, dann geht es ganz schnell, bis dein Adrenalinspiegel so hoch ist, dass du bereit bist, jemandem in echt an die Gurgel zu gehen. Und in diesem Zustand ist es wirklich keine gute Idee, ein Schwert, eine Keule, Lanze oder ein anderes Utensil zur Hand zu haben. Aus diesem Grund ist es in solchen Spielen jedem Teilnehmer absolut strikt verboten, einen anderen zu schlagen.

Stattdessen sind, wenn du jemandem nahe genug zum Kämpfen kommst, einige flotte Runden Schere-Stein-Papier angesagt, unter Berücksichtigung deiner jeweiligen Erfahrung und Bewaffnung und deines Gesundheitszustands. Die Schiedsrichter schlichten Streitereien. Das ist ziemlich zivilisiert und ein bisschen bizarr. Da rennst du jemandem durch den Wald hinterher, holst ihn ein, fletschst die Zähne, und dann setzt du dich mit ihm hin auf ein kleines Spielchen. Aber es funktioniert, und es sorgt dafür, dass alles sicher und spaßig bleibt.

Charles konnte das partout nicht begreifen. Ich glaube schon, dass er verstanden hatte, dass die Regel †œkein Kontakt† lautete, aber er war zugleich in der Lage, zu entscheiden, dass die Regel egal war und dass er ihr nicht gehorchen wollte. Die Schiedsrichter mussten ihn deshalb ein paar Mal an diesem Wochenende zur Ordnung rufen, und immer versprach er, sich dran zu halten, und immer ignorierte er die Regeln aufs Neue. Er war schon damals einer von den Größeren, und es machte ihm Spaß, dich am Ende einer Jagd †œversehentlich† zu tackeln. Und wenn du auf dem felsigen Waldboden landest, ist Tackling kein Vergnügen.

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Ich hatte grade Darryl auf einer Waldlichtung ordentlich gequält, wo er auf Schatzsuche war, und wir lachten zusammen über meine enorme Heimtücke. Er wollte grade Monstern gehen †“ getötete Spieler konnten zu Monstern werden, und das bedeutete, dass mit fortschreitender Spieldauer immer mehr Monster hinter dir her waren, so dass jeder weiterspielen musste und die Schlachten immer ausschweifender wurden.

In diesem Moment kam Charles hinter mir aus dem Unterholz hervor und tackelte mich; er stieß mich so hart zu Boden, dass mir einen Moment lang die Luft wegblieb. †œHab dich!†, brüllte er. Bis dahin hatte ich ihn nur entfernt gekannt, und allzu viel von ihm gehalten hatte ich noch nie; aber jetzt war ich bereit zu töten. Langsam erhob ich mich und schaute ihn an mit seinem Grinsen und der stolzgeschwellten Brust. †œDu bist so was von tot†, sagte er. †œIch hab dich astrein erwischt.†

Ich grinste, und dabei fühlte sich etwas in meinem Gesicht falsch und wund an. Ich berührte meine Oberlippe. Sie war blutig. Meine Nase blutete, und meine Lippe war aufgeplatzt, als ich nach seinem Angriff mit dem Gesicht zuerst auf einer Wurzel gelandet war.

Ich wischte das Blut an meinem Hosenbein ab und lächelte. Ich gab mir den Anschein, das alles unheimlich lustig zu finden, lachte ein bisschen und ging auf ihn zu.

Charles ließ sich nicht überlisten. Er war schon am Zurückweichen und versuchte, im Gebüsch zu verschwinden. Darryl schnitt ihm den einen Fluchtweg ab. Ich übernahm den anderen. Plötzlich drehte er sich um und rannte. Darryls Fußangel ließ ihn die Schwalbe machen. Wir stürzten uns gerade auf ihn, als wir eine Schiedsrichterpfeife hörten.

Der Schiedsrichter hatte nicht gesehen, wie Charles mich foulte, aber er hatte ihn am Wochenende beim Spielen beobachtet. So sandte er Charles zum Camp-Eingang zurück und erklärte ihm, dass er aus dem Spiel war. Charles beschwerte sich lautstark, aber zu unserer Genugtuung wollte der Unparteiische nichts davon wissen. Als Charles fort war, hielt er auch uns eine Standpauke und sagte, unsere Vergeltung sei um nichts mehr gerechtfertigt gewesen als der Angriff von Charles.

Damit war es okay. Als die Spiele an diesem Abend zu Ende waren, nahmen wir alle in den Lagerunterkünften eine heiße Dusche. Darryl und ich stahlen Charles†™ Klamotten und sein Handtuch. Wir knoteten alles zusammen und warfen die Bündel ins Pissoir. Eine Menge Jungs waren nur zu glücklich, uns beim Einweichen helfen zu dürfen †“ Charles war bei seinen Rempeleien ziemlich enthusiastisch gewesen.

Ich wünschte, ich hätte ihn sehen können in dem Moment, als er aus der Dusche kam und seine Kleidung entdeckte. Muss eine schwierige Entscheidung sein: Rennst du nackt durchs Camp, oder dröselst du die fest verknoteten, zugepissten Klamotten auseinander und ziehst sie an?

Er wählte Nacktheit. Ich hätte wahrscheinlich dasselbe gewählt. Wir stellten uns in einer langen Reihe zwischen den Duschen und den Baracken auf, wo das Gepäck lagerte, und applaudierten ihm. Ich stand am Anfang der Reihe und klatschte am lautesten.

Diese Wochenendlager gab es nur drei oder vier Mal im Jahr, was bei Darryl und mir †“ und vielen anderen LARPern †“ zu ernsthaften Entzugserscheinungen führte. Zum Glück gab es noch die Wretched-Daylight-Spiele in den Hotels der Stadt. Wretched Daylight ist ein anderes LARP mit rivalisierenden Vampir-Clans und Vampirjägern, und es hat seine eigenen raffinierten Regeln.

Man bekommt Spielkarten zur Bewältigung der Kämpfe, so dass jedes Geplänkel eine kleine Runde eines Strategie-Kartenspiels umfasst. Vampire können unsichtbar werden, indem sie sich ihren Mantel über den Kopf ziehen und die Arme vor der Brust verschränken; dann müssen alle anderen Mitspieler so tun, als ob sie diesen Vampir nicht sehen, und ihre Unterhaltung über ihre Pläne und so weiter fortsetzen. Einen wirklich guten Spieler erkennt man daran, dass er ehrlich genug ist, seine Geheimnisse vor einem †œunsichtbaren† Rivalen auszuplaudern und dabei so zu tun, als sei dieser gar nicht im Raum.

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Jeden Monat fand eine Handvoll großer Wretched-Daylight-Spiele statt. Die Organisatoren der Spiele hatten einen guten Draht zu den Hotels der Stadt und ließen sie jeweils wissen, dass sie freitagnachts zehn bis dahin unbelegte Zimmer buchen und mit Spielern füllen würden. Die Spieler würden dann im Hotel herumstreifen und in den Korridoren, am Pool und so halbwegs unauffällig Wretched Daylight spielen, sie würden im Hotelrestaurant essen und für die Nutzung des Hotel-WLANs bezahlen. Freitagnachmittags war Meldeschluss; dann mailten die Organisatoren uns an, und wir gingen nach der Schule direkt zu dem jeweiligen Hotel, brachten unsere Schlafsäcke mit, schliefen übers Wochenende jeweils zu sechst oder acht in einem Zimmer, ernährten uns von Junk-Food und spielten bis drei Uhr früh. Es war ein nettes, sauberes Vergnügen, gegen das unsere Eltern nichts einzuwenden hatten.

Organisator war ein bekannter Bildungs-Förderverein, der Schreib-Workshops, Theaterkurse und dergleichen mehr für Jugendliche anbot. Er veranstaltete die Spiele schon seit zehn Jahren, ohne dass es je einen Zwischenfall gegeben hätte. Alles war streng alkohol- und drogenfrei, um die Organisatoren nicht irgendwelchen Vorwürfen der Verführung Minderjähriger auszusetzen. Je nach Wochenende kamen zwischen zehn und hundert Spieler zusammen, und für den Preis weniger Kinokarten hatten wir zweieinhalb Tage lang mächtig Spaß.

Doch eines Tages gelang es ihnen, einen Block von Zimmern im Monaco zu buchen, einem Hotel im Tenderloin, das sich an kunstbeflissene ältere Touristen richtete †“ einem dieser Orte, an denen in jedem Zimmer ein Goldfischglas stand und die Empfangshalle voll war mit wundervollen alten Menschen in feiner Kleidung, die ihre Ergebnisse plastischer Chirurgie zur Schau stellten.

Normalerweise pflegten uns die Irdischen †“ unser Wort für Nicht-Spieler †“ einfach zu ignorieren, sie hielten uns wohl für junge Hallodris. Aber an jenem Wochenende war zufällig der Herausgeber eines italienischen Reisemagazins im Hotel, und der entwickelte Interesse an der Sache. Er trieb mich in die Enge, als ich in der Halle herumlungerte in der Hoffnung, den Clan-Führer meiner Rivalen zu sehen, um mich auf ihn zu stürzen und sein Blut zu schlürfen. Ich stand mit über der Brust verschränkten Armen, also unsichtbar, an die Wand gelehnt herum, als er sich näherte und mich in holprigem Englisch fragte, was meine Freunde und ich denn an diesem Wochenende hier so trieben.

Ich versuchte ihn loszuwerden, aber er ließ nicht locker. Also dachte ich, ich könne mir ja einfach was ausdenken, damit er endlich verschwände.

Ich ahnte nicht, dass er meine Story drucken würde. Und ich ahnte noch viel weniger, dass es von der amerikanischen Journaille aufgegriffen werden würde.

†œWir sind hier, weil unser Prinz gestorben ist, deshalb mussten wir auf der Suche nach einem neuen Herrscher hierher kommen.†

†œEin Prinz?†

†œJa†, sagte ich und gewann Gefallen an der Sache. †œWir sind das Alte Volk. Wir sind im 16. Jahrhundert nach Amerika eingewandert, und seither lebte unsere königliche Familie ununterbrochen in der Wildnis von Pennsylvania. Wir leben unter einfachen Bedingungen im Wald, und wir benutzen keinerlei moderne Technik. Doch der Prinz war der Letzte seiner Abstammungslinie, und er ist vorige Woche gestorben. Eine furchtbare auszehrende Krankheit hat ihn von uns genommen. Die jungen Männer meines Clans sind aufgebrochen, die Nachkommen seines Großonkels zu finden, der zur Zeit meines Großvaters davongegangen war, um sich den modernen Menschen anzuschließen. Man sagt, er habe sich fortgepflanzt, und wir werden den Letzten seiner Linie finden und zurück in seine rechtmäßige Heimat bringen.†

Ich las damals eine Menge Fantasy-Romane. Solches Zeug flog mir nur so zu.

†œWir fanden eine Frau, die um jene Abkömmlinge wusste. Sie sagte uns, einer von ihnen sei in diesem Hotel anzutreffen, und so sind wir gekommen, ihn zu finden. Jedoch hat ein rivalisierender Clan unsere Spur hierher verfolgt, um uns davon abzuhalten, unseren Prinzen heimzubringen, um uns in Schwäche und leicht beherrschbar zu halten.

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Daher ist es überlebensnotwendig, dass wir unter uns bleiben. Wir reden nur mit dem Neuen Volk, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Jetzt mit Ihnen zu sprechen bereitet mir großes Unbehagen.†

Er beobachtete mich abschätzend. Ich hatte meine Arme nicht mehr gekreuzt, daher war ich für rivalisierende Vampire jetzt sichtbar; und eine von ihnen hatte sich heimlich an uns herangeschlichen. Ich drehte mich im letzten Moment um und sah sie mit ausgebreiteten Armen und zischelnd auf uns zukommen, eine Vampirin im ganz großen Stil.

Ich breitete meine Arme weit aus und zischelte zurück, dann verschwand ich durch die Empfangshalle, wobei ich über ein Ledersofa sprang und mich an einer Topfpflanze vorbeischlängelte, die Vampirin immer hinter mir her. Einen Fluchtplan durchs Treppenhaus ins Fitnessstudio im Untergeschoss hatte ich vorher schon ausgetüftelt, und dort schüttelte ich sie ab.

Den Journalisten sah ich an diesem Wochenende nicht mehr, aber ich erzählte die Story einigen anderen LARPern weiter, die sie weiter ausschmückten und keine Gelegenheit ausließen, sie wiederum weiterzutragen.

Das italienische Magazin hatte eine Mitarbeiterin, die ihre Magisterarbeit über technikfeindliche Amish-Gemeinschaften im ländlichen Pennsylvania geschrieben hatte, und sie fand uns unglaublich interessant. Auf der Grundlage der Notizen und Interview-Aufzeichnungen ihres Chefs aus San Francisco schrieb sie eine faszinierende, herzzerreißende Geschichte über diese merkwürdigen jugendlichen Kult-Angehörigen, die auf der Suche nach ihrem †œPrinzen† kreuz und quer durch Amerika reisten. Verdammt, die Leute drucken heutzutage wirklich alles.

Aber die Sache war die, dass Geschichten wie diese aufgegriffen und weiterverbreitet werden. Zuerst waren es italienische Blogger, dann ein paar amerikanische Blogger. Leute überall im Land berichteten über †œSichtungen† von Angehörigen des Alten Volkes, wobei ich bis heute nicht weiß, ob das ausgedacht war oder ob andere dasselbe Spiel spielten.

So arbeitete sich die Story durch die Medien-Nahrungskette bis hoch zur †œNew York Times†, die leider einen ungesunden Appetit für Faktenrecherche hat. Der Reporter, den sie auf die Sache ansetzten, führte sie schließlich auf das Monaco Hotel zurück, wo man ihn an die LARP-Organisatoren verwies, die ihm dann lachend die ganze Geschichte erzählten.

Nun ja †“ ab da war LARPing sehr viel weniger cool. Wir wurden bekannt als die größten Schummler der Nation, als durchgeknallte pathologische Lügner. Die Presseleute, die wir unbeabsichtigt dazu gebracht hatten, die Story des Alten Volkes zu covern, waren nun erpicht drauf, sich selbst wieder in besseres Licht zu rücken, indem sie berichteten, wie unfassbar merkwürdig wir LARPer doch waren; und an diesem Punkt ließ Charles jeden in der Schule wissen, dass Darryl und ich die größten LARP-Weicheier der Stadt seien.

Das war kein gutes Jahr. Ein paar aus der Gang störten sich nicht dran, wir aber schon. Die Hänselei war gnadenlos. Und Charles immer vornweg. Ich fand Plastik-Gebisse in meiner Tasche; Kids, die mir in der Aula begegneten, machten †œbleh, bleh† wie ein Comic-Vampir oder sprachen in meiner Gegenwart mit aufgesetztem transsylvanischem Akzent.

Wenig später stiegen wir auf ARG um. In mancherlei Hinsicht war das noch lustiger, und vor allem war es sehr viel weniger abseitig. Aber manchmal vermisste ich doch meinen Umhang und diese Wochenenden im Hotel.

Das Gegenteil von esprit d†™escalier ist, wenn alle Peinlichkeiten deines Lebens zurückkommen und dich verfolgen, auch wenn sie schon längst verjährt sind. Ich erinnerte mich an jede einzelne Dummheit, die ich je gesagt oder getan hatte, und zwar bis ins kleinste Detail. Und jedes Mal, wenn ich mich niedergeschlagen fühlte, fing ich ganz von selbst an, mich an ähnliche Situationen zu erinnern †“ eine Hitparade von Erniedrigungen paradierte eine nach der anderen an meinem inneren Auge vorbei.

Während ich versuchte, mich auf Masha und meinen drohenden Untergang zu konzentrieren, verfolgte mich der Vorfall mit dem Alten Volk penetrant.

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Es war damals ein ganz ähnliches krankes Gefühl der Verlorenheit gewesen, als immer mehr Medien die Story aufgriffen und das Risiko stieg, dass jemand herausfand, dass ich es war, der dem blöden italienischen Herausgeber, diesem Typ in seinen Designerjeans mit den schiefen Nähten, dem gestärkten Hemd ohne Kragen und der riesigen metallgefassten Brille, die Geschichte angedreht hatte.

Es gibt eine Alternative dazu, dich in deinen Fehlern zu suhlen. Du kannst aus ihnen lernen.

Jedenfalls ist das eine gute Theorie. Vielleicht besteht ja auch der Grund dafür, dass dein Unterbewusstsein all diese elenden Gespenster reanimiert, darin, dass sie irgendeinen Abschluss finden müssen, bevor sie in Frieden im Erniedrigungsjenseits ruhen können. Mein Unterbewusstsein traktierte mich mit Gespenstern in der Hoffnung, dass ich etwas tun würde, damit sie in Frieden würden ruhen können.

Auf dem ganzen Weg heim wälzte ich diese Erinnerung und den Gedanken, wie ich mit †œMasha† umgehen sollte für den Fall, dass sie mir eine Falle stellte. Ich musste irgendeine Rückversicherung haben.

Und als ich mein Haus erreichte †“ und die melancholischen Umarmungen von Mom und Dad, die dort auf mich warteten -, da hatte ich sie.

Der Trick bestand darin, das Ganze so zu timen, dass es schnell genug passierte, um dem DHS keine Vorbereitungszeit zu geben, aber mit genug Vorlauf, dass das Xnet Zeit haben würde, massenhaft zu erscheinen.

Der Trick bestand darin, es so zu arrangieren, dass zu viele von uns auf einem Haufen waren, um uns alle festzunehmen, und es dennoch irgendwo zu machen, wo es von der Presse und den Erwachsenen zur Kenntnis genommen wurde, damit das DHS uns nicht wieder einfach begasen konnte.

Der Trick bestand darin, dass es etwas so Medientaugliches sein musste wie die Levitation des Pentagon. Der Trick bestand darin, den Anlass für eine richtig fette Massenkundgebung zu inszenieren, so wie damals die 3000 Berkeley-Studenten, die sich weigerten, einen der Ihren in einem Polizeiauto abtransportieren zu lassen.

Und der Trick bestand darin, die Presse vor Ort sein zu lassen, bereit zu berichten, was die Polizei tat, ebenso wie 1968 in Chicago.

Es musste ein wirklich guter Trick sein.

Am folgenden Tag verschwand ich mithilfe meiner üblichen Techniken eine Stunde früher aus der Schule; es war mir egal, ob das womöglich irgendeinen neuartigen DHS-Checker auslöste, der zu einer Benachrichtigung meiner Eltern führen würde.

So oder so: Ob ich Ärger in der Schule bekam, würde nach dem morgigen Tag das kleinste Problem meiner Eltern sein.

Ich traf mich mit Ange bei ihr. Sie hatte noch früher aus der Schule verschwinden müssen, aber sie hatte ihre Regel vorgeschoben und sich benommen, als würde sie gleich umkippen, und dann hatten sie sie heimgeschickt.

Wir fingen an, die Sache im Xnet zu verbreiten. Wir sandten E-Mails an vertrauenswürdige Freunde und Instant Messages an unsere Buddy-Listen. Wir zogen über die Planken und durch die Straßen von Clockwork Plunder und erzählten es unseren Teamgefährten. Jedem genug Information zukommen zu lassen, dass er auch sicher erschien, ohne das DHS in unsere Karten schauen zu lassen, war knifflig, aber ich war mir sicher, die richtige Balance gefunden zu haben:

> MORGEN VAMPMOB

> Wenn du ein Grufti bist, dann putz dich raus. Wenn du kein Grufti bist, dann finde einen und leih dir seine Klamotten. Vampir ist angesagt.

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> Das Spiel beginnt Punkt acht. PUNKT ACHT. Seid da und seid bereit, euch in Teams einteilen zu lassen. Das Spiel dauert 30 Minuten, ihr habt also genug Zeit, noch rechtzeitig in die Schule zu kommen.

> Die Location erfahrt ihr morgen früh. Mailt eure öffentlichen Schlüssel an m1k3y@littlebrother.pirate-party.org.se, und ruft für das Update um sieben Uhr eure Mails ab. Wenn euch das zu früh ist, dann bleibt die ganze Nacht wach. So machen wir es jedenfalls.

> Das wird das Lustigste, was ihr in diesem Jahr erleben werdet, versprochen.

> Habt Vertrauen.

> M1k3y

Dann schickte ich eine kurze Notiz an Masha.

> Morgen

> M1k3y

Eine Minute später mailte sie zurück:

> Dacht ich mir so. VampMob also. Du bist schnell. Setz einen roten Hut auf. Und bring leichtes Gepäck.

Was nimmt man mit auf die Flucht? Ich hatte schon genug schwere Säcke auf genug Pfadfinderlagern rumgeschleppt, um zu wissen, dass jedes Gramm extra bei jedem Schritt mit der geballten Macht der Schwerkraft in deine Schultern schneidet. Es ist nicht bloß ein Gramm †“ es ist ein Gramm, das du eine Million Schritte weit trägst. Es ist eine Tonne.

†œStimmt†, sagte Ange. †œClever. Und mehr als drei Sätze Klamotten nehmen wir auch nicht mit. Notfalls waschen wir das Zeug im Handwaschbecken aus. Lieber ein Fleck auf dem T-Shirt als einen Koffer, der zu groß und zu schwer ist, um unter einen Flugzeugsitz zu passen.†

Sie hatte eine robuste Nylon-Kuriertasche rausgekramt, deren Riemen sie über die Schulter und zwischen ihren Brüsten hindurchführte (was mich ein klein wenig ins Schwitzen brachte) und die dann diagonal auf ihrem Rücken saß. Die Tasche war innen geräumig, und sie hatte sie auf dem Bett abgestellt. Jetzt stapelte sie Kleidungsstücke daneben auf.

†œIch schätze mal, drei T-Shirts, eine lange und eine kurze Hose, drei Sätze Unterwäsche, drei Paar Socken und ein Pulli müssen reichen.†

Sie leerte ihre Sporttasche aus und suchte ihre Toilettenartikel zusammen. †œIch muss dran denken, morgen früh meine Zahnbürste einzustecken, bevor ich Richtung Civic Center losgehe.†

Ihr beim Packen zuzuschauen war beeindruckend. Sie war dabei völlig abgebrüht. Und es war verrückt †“ es machte mir klar, dass ich am nächsten Tag weggehen würde. Vielleicht für lange. Vielleicht für immer.

†œSoll ich meine Xbox mitnehmen?†, fragte sie. †œIch hab eine Tonne Zeug auf der Festplatte, Notizen, Entwürfe und Mails. Ich möchte nicht, dass das in falsche Hände gerät.†

†œDas ist alles verschlüsselt†, erwiderte ich. †œDas ist bei ParanoidXbox Standard. Lass die Xbox hier, in L.A. wird es reichlich von den Dingern geben. Richte dir bloß einen Piratenpartei-Account ein, und mail dir selbst ein Image von deiner Festplatte. Wenn ich heimkomme, mach ich das auch noch.†

Das tat sie und schickte die Mail auf den Weg. Es würde ein paar Stunden dauern, bis all die Daten sich durch das WLAN ihrer Nachbarn gezwängt und ihren Weg nach Schweden gefunden hatten.

Dann schloss sie die Klappe der Tasche und zog die Kompressionsriemen an. Jetzt hatte sie etwas Fußballgroßes auf ihrem Rücken hängen, und ich starrte es bewundernd an. Damit unter der Schulter konnte sie die Straße runterlaufen, und niemand würde zwei Mal hinschauen †“ sie würde so aussehen, als sei sie auf dem Weg zur Schule.

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†œAch, eins noch†, sagte sie, ging zu ihrem Nachttisch und holte die Kondome raus. Sie holte die Gummipäckchen aus der Schachtel, öffnete die Tasche und stopfte sie hinein, dann gab sie mir einen Klaps auf den Po.

†œUnd jetzt?†, fragte ich.

†œJetzt gehen wir zu dir und kümmern uns um deinen Kram. Außerdem wirds langsam Zeit, dass ich deine Eltern kennen lerne, oder?†

Sie ließ die Tasche inmitten der Klamottenstapel und des Krimskrams auf dem Fußboden liegen. Sie war bereit, das alles hinter sich zu lassen, fortzugehen, nur um bei mir zu sein. Nur um der Sache zu dienen. Das machte auch mir Mut.

Mom war schon daheim, als ich ankam. Sie hatte ihren Laptop offen auf dem Küchentisch stehen und beantwortete Mails, während sie über Headset mit irgendeinem armen Yorkshireman sprach, der mit seiner Familie Hilfe dabei benötigte, sich an das Leben in Louisiana zu gewöhnen.

Ich trat durch die Tür und Ange hinterher, grinsend wie wahnsinnig, aber zugleich meine Hand so fest drückend, dass ich spüren konnte, wie ihre Knochen aufeinanderschabten. Ich wusste nicht, worüber sie sich solche Sorgen machte. War ja nicht so, dass sie nach dem heutigen Tag noch mal allzu viel Zeit mit meinen Eltern würde verbringen müssen, selbst wenn es schlecht lief.

Mom beendete das Gespräch mit dem Yorkshireman, als wir hereinkamen.

†œHallo, Marcus†, sagte sie und gab mir einen Kuss auf die Wange. †œUnd wer ist das?†

†œMom, darf ich dir Ange vorstellen? Ange, das ist meine Mom, Lillian.†

Mom stand auf und nahm Ange in die Arme.

†œEs ist sehr schön, dich kennen zu lernen, Liebes†, sagte sie und musterte sie von Kopf bis Fuß. Ange sah ziemlich vorzeigbar aus, fand ich. Sie zog sich anständig und dezent an, und man konnte ihr ansehen, dass sie ein heller Kopf war.

†œEine Freude, Sie kennen zu lernen, Mrs. Yallow†, sagte sie. Sie klang sehr souverän und selbstbewusst. Viel mehr als ich, als ich ihre Mom zum ersten Mal traf.

†œSag doch Lillian, meine Liebe.† Mom achtete erkennbar auf jedes Detail. †œBleibst du zum Essen?†

†œSehr gern†, sagte Ange.

†œIsst du Fleisch?† Mom hat sich ans Leben in Kalifornien echt gut angepasst.

†œIch esse alles, das mich nicht zuerst isst.†

†œSie ist süchtig nach scharfer Sauce†, sagte ich. †œDu kannst ihr auch alte Reifen anbieten, und Ange wird sie essen, solange sie sie nur in Salsa ertränken kann.†

Ange knuffte mich zärtlich in die Schulter.

†œIch hatte Thai ordern wollen†, sagte Mom. †œDann bestelle ich noch ein paar von ihren Fünf-Chili-Gerichten dazu.†

Ange dankte ihr höflich, und Mom wuselte in der Küche rum, stellte uns Saftgläser und einen Teller Kekse hin und fragte uns drei Mal, ob wir Tee haben wollten. Ich wurde allmählich hibbelig.

†œDanke, Mom†, sagte ich. †œAber wir würden erst mal für einen Moment zu mir raufgehen wollen.†

Moms Augen verengten sich einen Moment lang, aber dann lächelte sie wieder. †œNa sicher†, sagte sie. †œDein Vater wird in einer Stunde daheim sein, wir essen dann alle zusammen.†

Mein Vampirzeug hatte ich im hintersten Winkel des Kleiderschranks verstaut.

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Ich ließ Ange durchgucken, während ich meine Klamotten durchflöhte. Ich musste ja bloß bis L.A. kommen. Da gab es Geschäfte für all die Bekleidung, die ich dann noch brauchte. Ich musste bloß drei, vier Lieblings-T-Shirts und eine Lieblings-Jeans zusammensuchen, einen Deo-Roller und eine Rolle Zahnseide.

†œGeld!†, sagte ich dann.

†œOh ja†, sagte sie. †œIch wollte mein Konto beim Geldomaten auf dem Weg nach Hause leerräumen. Ich hab vielleicht fünfhundert zusammengespart.†

†œEcht?†

†œWofür sollte ichs denn ausgeben? Seit dem Xnet hab ich ja noch nicht mal mehr Provider-Gebühren.†

†œIch glaube, ich hab so was um dreihundert.†

†œNa guck. Heb das morgen auf dem Weg zum Civic Center ab.† Ich hatte eine große Schultasche, die ich dazu benutzte, größere Mengen Ausrüstung durch die Stadt zu schleppen. Die war unauffälliger als mein Campinggepäck. Ange ging gnadenlos durch meine Stapel durch und dampfte sie auf ihre Lieblingsstücke ein.

Als alles gepackt und unterm Bett verstaut war, setzten wir uns hin.

†œWir müssen morgen richtig früh aufstehen†, sagte sie.

†œOh ja, großer Tag.†

Unser Plan sah vor, dass wir morgen früh Nachrichten mit diversen falschen VampMob-Locations versenden würden, um die Leute an mehrere stille Orte im Umkreis von ein paar Gehminuten um das Civic Center zu schicken. Wir wollten noch eine Sprühschablone ausschneiden, mit der wir gegen fünf Uhr morgens einfach VAMPMOB CIVIC CENTER ->-> an diesen Plätzen auf die Straße sprühen würden. Auf diese Weise wollten wir vermeiden, dass das DHS das Civic Center abriegelte, bevor wir einträfen. Ich hatte den Mail-Bot so eingestellt, dass die Nachrichten um sieben Uhr rausgingen †“ ich musste nur die Xbox eingeschaltet lassen, wenn ich ging.

†œWie lange…† Sie brach ab.

†œDas hab ich mich auch schon gefragt†, sagte ich. †œSchätze mal, das könnte eine ganze Weile dauern. Aber wer weiß? Wenn Barbaras Artikel erscheint† †“ ich hatte auch eine Mail für sie in der Pipeline †“ †œund all das, vielleicht sind wir in zwei Wochen Helden.†

†œVielleicht.† Sie seufzte.

Ich legte meinen Arm um sie. Ihre Schultern bebten.

†œIch habe Angst†, sagte ich. †œIch glaube, es wäre wahnsinnig, keine Angst zu haben.†

†œJa†, sagte sie. †œJa.†

Mom rief uns zum Essen. Dad schüttelte Anges Hand. Er war unrasiert und sah besorgt aus, so wie er immer aussah, seit wir zu Barbara gefahren waren, aber das Treffen mit Ange brachte ein bisschen was von dem alten Dad zum Vorschein. Sie küsste ihn auf die Wange, und er bestand darauf, dass sie ihn Drew nennen möge.

Das Abendessen war wirklich ein Erfolg. Das Eis war gebrochen, als Ange ihren Zerstäuber mit der scharfen Sauce hervorholte, ihr Essen damit behandelte und die Sache mit den Scoville-Einheiten erklärte. Dad probierte eine Gabelvoll von ihrem Teller und flitzte dann in die Küche, um einen oder zwei Liter Milch zu trinken. Ob ihrs glaubt oder nicht, Mom kostete danach trotzdem und sah dabei so aus, als genieße sie es rundum. Mom, so stellte sich heraus, war ein unentdecktes Wunderkind des scharfen Essens, ein Naturtalent.

Bevor sie ging, drückte Ange meiner Mutter den Zerstäuber in die Hand. †œIch habe noch einen daheim†, sagte sie.

Ich hatte gesehen, wie sie ihn eingepackt hatte. †œUnd ich denke, du bist die Art Frau, die so einen haben sollte.† – Fortsetzung Kapitel 19

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Hintergründe, Handlung und weitere Informationen zu Little Brother findet ihr unter: Jugendthriller: Little Brother von Cory Doctorow komplett im Netz

Hier handelt es sich um die deutsche Übersetzung von Christian Wöhrl

Little Brother ist unter einem Creative Commons Namensnennung-Keine kommerzielle Nutzung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenzvertrag lizenziert.

Das Original wurde unter: http://craphound.com/littlebrother veröffentlicht.