Höllenspektakel: Unterwegs im Namen des Herrn von Thomas Glavinic

Unterwegs im Namen des Herrn von Thomas Glavinic

Die Pilgerfahrt auf den Balkan soll eigentlich zur Erleuchtung führen. Doch die bleibt aus. Thomas Glavinic und der Fotograf Ingo stehen kurz vor dem Nervenzusammenbruch: Die vierzehnstündige Busfahrt nach Bosnien mit den kauzigen Mitreisenden war schlimm genug. Im Pilgerort Medjugorje landen die beiden in einer perfekten Abfertigungsmaschinerie für gläubige Touristen. Zermürbt von den endlosen Gebeten der Religionsanhänger, versuchen sie zu fliehen, doch schon bald wünschen sie sich, sie wären bei den Predigern geblieben. Mit seinem neuen, brillanten Buch beweist Glavinic: Er ist böse – vor allem sich selbst gegenüber.

Gebundene Ausgabe: 208 Seiten; Verlag: Carl Hanser (29. August 2011)

Leseprobe „Unterwegs im Namen des Herrn“ von Thomas Glavinic © Hanser Verlag 

2. Kapitel

Die Pilgerpässe †“ Botschaft der Gospa †“ Ingo stellt sich schlafend †“ Erweckungserlebnisse †“ Der Rosenkranz †“ Es gibt Würstel!
In Leibnitz, etwa zwanzig Kilometer vor der slowenischen Grenze, steigen weitere Pilger zu, und damit sind wir vollständig. Der Reiseleiter nimmt sich wieder das Mikrophon.
»Ich werde jetzt die Pilgerpässe und eine Botschaft der Gospa verteilen. Ich sag die Namen, der Besitzer meldet sich, dann bring ich ihm die Sachen. Die Pilgerpässe hängts euch bitte um, damit man den Namen sieht. Vorher noch eine Kleinigkeit: Während der Pilgerreise wollen wir uns als Brüder und Schwestern im Glauben begegnen und uns duzen. Und dann muss in Slowenien Rosenkranz gebetet werden, da brauchen wir einen Vorbeter oder eine Vorbeterin. Könnts euch schon überlegen, wer von euch will.«
Wir wollen was? Rosenkranz? Vorbeter? Botschaft von wem? Ich schaue zu Ingo zurück, der nickt nur, und unter seinem Auge zuckt es. Ich denke darüber nach, dass der Reiseleiter nie von beten
spricht, er sagt immer »betten«. »Vorbetten«. »Vorbetter«.
»Es muss Rosenkranz gebettet werden.« Das gefällt mir sehr. Lange dauert es nicht, da höre ich meinen Namen. Der Reiseleiter schaut über mich hinweg, als er mir den Pilgerpass und einen losen Zettel reicht.
Der Pilgerpass ist eine Art Visitenkarte, an die eine Schnur befestigt ist. Neben einem Bild der Jungfrau Maria steht mein Name. Auf dem Zettel ist links das Logo des Reisebüros, rechts ebenfalls das Bild der Jungfrau zu sehen, und über dem Bild der Muttergottes findet man kleingedruckt die genaue Anschrift des Reisebüros. Unter der Überschrift »Botschaft der Königin des Friedens in Medjugorje« steht:

Lieber Thomas,
Von neuem rufe ich dich auf, mir mit Freude zu folgen. Ich möchte euch alle zu meinem Sohn und eurem Erlöser führen. Bist du dir nicht bewusst, dass du ohne Ihn weder Freude noch Frieden und keine Zukunft, sowie kein ewiges Leben hast. Deshalb, mein lieber Thomas, nutze diese Zeit des frohen Gebetes und der Hingabe.
Danke, lieber Thomas, dass du meinem Ruf gefolgt bist.

Darunter, kleiner gedruckt: Botschaft der Gospa an Mirjana, am 2. August 2010

Liebe Kinder!
Heute lade ich euch ein gemeinsam, mit mir, zu beginnen, das Himmelreich in euren Herzen zu errichten, zu vergessen, was für euch persönlich ist und, durch das Beispiel meines Sohnes geleitet, an das zu denken, was Gottes ist. Was erwartet er von euch? Erlaubt Satan nicht, euch die Wege des irdischen Wohlergehens zu öffnen, die Wege ohne meinen Sohn. Meine Kinder, sie sind trügerisch und von kurzer Dauer. Denn mein Sohn existiert. Ich biete euch ewiges Glück und den Frieden, die Einheit mit meinem Sohn, mit Gott. Ich biete euch das Reich Gottes. Ich danke euch.

Am österreichischen Grenzübergang gibt es keinen längeren Aufenthalt. Als wir kurz hinter einem anderen Bus zu stehen kommen, klebt Rudi ein riesiges Muttergottesbild vorn auf die Windschutzscheibe. Hinter mir sind seltsame Geräusche zu hören, es klingt, als hätte sich jemand verschluckt. Im Niemandsland zwischen Österreich und Slowenien machen wir Toilettenpause. Der Reiseleiter treibt uns bald wieder mit einem schrillen Pfiff zusammen und fragt schon in kleiner Runde an der Tür, wer sich zum Vorbetten meldet. Alle steigen stumm und mit gesenktem Kopf ein. Während wir im Bus auf Nachzügler warten, greift der Reiseleiter zum Mikrophon.
»An dieser Grenze ist es gewesen, da hat eine Pilgerin einmal eine Erweckung gehabt. Genau da drüben war es. Sie war eine Zweifelnde und Suchende. Sie ist neben mir gestanden. Plötzlich packt sie mich am Arm und sagt: †ºDu, ich spüre etwas, und ich möchte wissen, spürst du es auch?†¹ Na, ich hab nichts gespürt und ihr das auch gesagt. Sie ist fünf Minuten dagestanden, dann ist sie in Tränen ausgebrochen. Einen Monat später war sie Ordensschwester.«
»Jööööh«, sagt die schöne alte Bäuerin verzückt.
»Wow«, ruft Jim der Amerikaner und klatscht.
»Sie hat zu mir gesagt: †ºEigentlich muss ich nicht mehr mitfahren, denn ich weiß alles, was ich wissen wollte. Aber aus Dankbarkeit fahre ich mit.†¹ Schwester Antonia heißt sie jetzt. Vergangenes Jahr war sie zum fünfundzwanzigsten Mal unten.«
Der alte Kappenmann steigt ein und versucht mit dem Reiseleiter ein persönliches Gespräch zu beginnen, wird von diesem jedoch schroff nach hinten gescheucht. Wir rollen auf den slowenischen Grenzposten zu. Ein vollbärtiger Beamter winkt uns durch. Rudi steuert den Bus wieder auf die Autobahn, und der Reiseleiter gibt über Mikrophon bekannt, dass in Slowenien immer der Rosenkranz gebettet werden muss, weswegen wir jetzt sofort den Vorbetter brauchen. Schweigen. Auch die vier Frauen neben mir schauen aus
dem Fenster.
»Einen brauchen wir. Herr Thomalla! Ach so, Entschuldigung, Domweber. Nicht? Frau Josefa? Bitte, Frau Josefa!«
Schweigen. Der Reiseleiter steht im Gang und wirft durchdringende Blicke auf die Pilger.
»Herr Ludwig? Ach so, Leo, Entschuldigung. Herr Leo, doch! Kommen Sie! Nein? Herr Jim? No?«
Stille. Der Reiseleiter starrt nach hinten.
»Gar niemand? Einer muss doch. Frau Andrea, Sie können das. Aber sicher! Ach so, Anna! Am Anfang hab ich immer die Namen noch nicht so intus.«
Stille. Der Reiseleiter starrt nach hinten.
»Herr Stefan? Resi? Die Resi vielleicht diesmal? Ach so, Rosi, meiner Seel.«
Zwei, drei, vier Minuten unerträgliche Stille. Die Szene wird immer bizarrer. Seit fünf, seit sechs, seit sieben Minuten steht der Reiseleiter vor uns, der Bus wackelt, der Reiseleiter wackelt, der alte Reiseleiterkopf wackelt bekräftigend auf und ab, die dürren Hände krümmen sich zu einem flehenden Bittebitte um das Mikrophon. Wieder und wieder machen diese greisen Hände bitte-bitte. Bitte-bitte, bittebitte, bitte-bitte. Und der Kopf nickt: Ja! Ja! Ja! Oja! Und mir fällt plötzlich auf, dass er sich nur zwei Namen problemlos gemerkt hat: Thomas und Ingo. Nachdem eine weitere lange Minute vergangen ist,
verändert sich etwas an seiner Miene. Er fixiert jemanden, das merke ich. Er sagt nichts, schaut aber eine Person im hinteren Teil des Busses unverwandt an. Dabei geht der Kopf begütigend auf und ab, ja, oja, bitte-bitte. Es sieht so grotesk aus, dass ich nicht einmal einen Schluck Wasser nehmen kann, weil ich am Wackelgesicht des Reiseleiters hänge, dessen Blick irgendjemanden hinter mir gnadenlos durchbohrt. Wenn ich seinen Ausdruck beschreiben müsste, würde ich sagen, er will dieses Gebet trinken, er muss es
haben, unbedingt, sonst verhungert oder verdurstet er auf der Stelle.
»Ja, kommen Sie! Erwin. Sehr gut. Aber jetzt schnell!«
An mir vorbei taumelt der Postangestellte nach vorne, in der Hand einen Rosenkranz. Er bekommt das Mikrophon und muss sich in die erste Reihe setzen. Er und der Reiseleiter wechseln ein paar Worte, der Postangestellte fragt etwas, der Reiseleiter sagt: »Wie du willst.«
Ringsum werden Rosenkränze gezückt, und der Postmann beginnt, in das Mikrophon zu beten. Die übrigen Pilger wiederholen den Refrain. Es klingt wie ein Hexenchor. […] Fortsetzung der Leseprobe beim Hanser Verlag

Über den Autor

Thomas Glavinic, 1972 in Graz geboren, lebt in Wien. 1998 erschien sein Debüt Carl Haffners Liebe zum Unentschiedenen. Es folgten Herr Susi (2000), Der Kameramörder (2001) und Wie man leben soll (2004). Bei Hanser erschien 2006 der Roman Die Arbeit der Nacht, der in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde, Das bin doch ich (2007) und Das Leben der Wünsche (2009). Zuletzt erhielt er den Literaturpreis 2010 des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft.

Buchtrailer

Leipziger Buchmesse 2011: Thomas Glavinic und „Lisa“

Der 38-jährige österreichische Autor Thomas Glavinic schreibt seit 1991 Romane, Essays, Erzählungen, Hörspiele und Reportagen. Im Jahr 1998 veröffentlichte er seinen Debüt-Roman Carl Haffners Liebe zum Unentschieden. Der Roman beschreibt das Leben des Schachmeisters Carl Schlechter. Das Buch wurde mehrfach ausgezeichnet und in andere Sprachen übersetzt.

Im Jahr 2000 folgte der Roman Herr Susi, eine in deftiger Sprache geschriebene Abrechnung mit dem Fußball Vermarktungsgeschäft.  2001 erschien der Kriminalroman Der Kameramörder (mit dem Friedrich-Glauser-Preis auf der Criminale ausgezeichnet), der von den Feuilletons enthusiastisch für seine Medienkritik gefeiert wurde. 2004 gelang Glavinic  mit dem satirischen Entwicklungsroman ,Wie man leben soll der Sprung in die Bestsellerlisten. Im August 2006 erschien sein Roman Die Arbeit der Nacht.

Glavinic‘ im Sommer 2007 erschienener Roman Das bin doch ich wurde für den Deutschen Buchpreis nominiert und schaffte es nach der Longlist auf auch die Shortlist. Der Roman Das Leben der Wünsche war 2009 ebenfalls für den Deutschen Buchpreis nominiert.

Zuletzt erschien im Hanser Verlag im Februar 2011 sein Roman Lisa.

Kurzbeschreibung
Lisa, eine Schwerkriminelle, begeht auf der ganzen Welt rätselhafte Verbrechen. Die Zeichen mehren sich, dass ein Mann ihr nächstes Opfer wird: Sie ist bereits in seine Wohnung eingebrochen. Doch sie bleibt unsichtbar, außer ihrer DNA gibt es keine einzige Spur. Verschanzt in einem verlassenen Landhaus, mit reichlich Whiskey und Koks, spricht der Mann jeden Abend per Internet-Radio zu einem virtuellen Publikum. Komisch bis zum bitteren Ende erzählt Thomas Glavinic aus Österreich vom unsichtbaren Grauen der virtuellen Welt. „Lisa“ ist ein Meisterwerk zwischen Humor und Horror, ein Psychogramm des Grauens. Denn Lisa ist überall.

Am 18.03.2011 habe ich zwar die Signierstunde auf der Leipziger Buchmesse knapp verpasst, Thomas Glavinic mit meinem Fotoapparat aber gerade noch erwischt. 😉