Der schönste erste Satz von Dorothy L. Sayers

Dorothy L. SayersSehr geehrter Sir Gilbert, ich danke für Ihren Brief gestrigen Datums und beeile mich, Ihnen die erbetene Zusammenstellung aller Dokumente zu übersenden.

Die Akte Harrison von Dorothy L. Sayers

†œDie Akte Harrison† (The documents in the case, erschienen 1930) von Dorothy L. Sayers ist sicherlich nicht ihr bekanntester Krimi, aber ich finde ihn von der Konstruktion her sehr gelungen.

Sayers war die Tochter eines anglikanischen Pfarrers und sehr religiös. Sie war außerdem auch eine der ersten Frauen, die ein Examen in Oxford ablegten, und sehr bildungseitel. Das merkt man der Mehrzahl ihrer zum Teil sehr geistreichen Kriminalromane an. Die Pointe von †œDie Akte Harrison† besteht darin, dass die Überführung des Täters im Zuge eines naturwissenschaftlich geführten Gottesbeweises
(jeder Theologe und alle anderen Leute, die was davon verstehen, wird einem sagen, dass es keinen Gottesbeweis gibt, aber egal)
geschieht, mit dem gleichzeitig dann wieder die Verurteilung des Täters in Gottes Namen gerechtfertigt wird.

Der Mord, um den es in diesem Buch geht, wird mit Muscarin, dem Gift des Fliegenpilzes, an einem leidenschaftlichen Pilzsammler ausgeführt. Der Täter, Liebhaber der Gattin des Opfers, beschafft sich dafür künstlich hergestelltes Muscarin aus einem Labor und gibt es in eine Fleischbrühe, die das Opfer zur Zubereitung seiner Pilzmahlzeit verwendet. Deshalb wird der Mord zunächst für einen Unfall gehalten, zumal der Täter sich ein Alibi beschafft hat, durch das er nachweislich zur fraglichen Zeit außerstande war, dem Opfer eventuell vergiftete Pilze unter die Mahlzeit zu mischen.

In einem Gespräch, das eine Gruppe von Naturwissenschaftlern und Theologen über die Möglichkeit eines Schöpfergottes im Rahmen eines naturwissenschaftlichen Weltbildes führen, erfährt ein Freund des Täters dann von den sogenannten Razematen: künstlich erzeugten Verbindungen, die ihrem molekularen Aufbau nach auch in der Natur vorkommen, dort aber eine andere, asymmetrische kristalline Struktur bilden, wodurch sie optisch aktiv sind (kann man in einem sogenannten Polariskop testen, was dann im Buch auch geschieht).

Rechtsdrehende Verbindungen werden also nur auf irgendwie †œlebendige† Weise erzeugt, und aus dieser Tatsache schließen die maßgeblichen Wissenschaftler bei Sayers, daß im Übergang von anorganischer zu organischer Materie eine ordnende Intelligenz (= Schöpfergott) erkennbar wird. Man kann also zumindest im Rahmen des Buches bzw. im Rahmen des Sayers†™schen Weltbildes von einem naturwissenschaftlichen Gottesbeweis sprechen, auch wenn der keineswegs Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit erheben kann.

Jedenfalls führt dieses Gespräch über die Existenzmöglichkeit Gottes im Rahmen eines modernen naturwissenschaftlichen Weltbildes dann auch zur direkten Überführung des Täters, weil anhand der Giftspuren nachgewiesen werden kann, daß der Tote ermordet worden sein muß, da ein natürlicher Pilz kein Razemat produziert hätte.

Die †œentsprechende Strafe† für Mord war in Großbritannien bis 1964 die Todesstrafe durch Erhängen.

Anjelka am 01. November 2007