Es war in einem Winter in den siebziger Jahren, einen Tag nach St. Nikolaus.
Herr und Knecht von Leo Tolstoi
Wir alle haben Schwächen und wir alle haben auch unsere Masken, hinter denen wir unser wahres Ich zu verbergen suchen, wenn es die Situation verlangt. Die Art dieser Schwächen und Masken hängt auch mit unserer Biographie zusammen: Wer sind wir? Wie ist unser sozialer Status, unser Umfeld? Was tun wir? Wer sind und was tun unsere Vertrauten, Freunde und Bekannten? Wie und wann können wir unsere Schwächen und Masken aber überwinden und ablegen, wenn sie uns unser ganzes Leben begleitet und wenn sie so eng mit unserer Biographie verknüpft sind? Die Antwort: Wenn wir in höchster Not sind, wenn wir wissen, das unser Leben sehr bald enden wird und wenn wir aus diesem Grund über uns und unser bisheriges Schaffen nachdenken.
Und genau einer solchen Extremsituation setzt Lew Nikolajewitsch (1828-1910) – kurz: Leo Tolstoi – in seiner Erzählung „Herr und Knecht“ den Kaufmann Wassilij Andrejitsch Brechunow geraten. Brechunow lebt für seine Geschäfte, denkt pausenlos darüber nach, wie er sein Vermögen vermehren kann und nutzt seine Machtposition gegenüber Bediensteten, Kunden und Geschäftspartnern scham- und skrupellos aus. Dabei glaubt er aber selbst immer noch, er wäre gerecht und würde seine Mitmenschen fair behandeln. Sein armer Knecht Nikita sieht das natürlich ganz anders. So wundert es auch niemanden, dass Brechunow den Schlitten anspannen lässt, um Nachts einen Wald zu kaufen, obwohl es stark schneit und die Temperaturen weit unter Null liegen. Geschäft ist schließlich Geschäft. Und die einmalige Möglichkeit, diesen Wald für ein Schnäppchen zu erwerben, kann Brechunow sich nicht entgehen lassen. Es kommt wie es kommen muss: Die Markierungen am Wegesrand sind eingeschneit und sehr bald haben sich Brechunow und Nikita verfahren, wissen nicht mehr wo sie sind. Und das bei eisigen Temperaturen, die diese Geschäftsreise bald zu einer Fahrt auf Leben und Tod werden lassen…
Die Situation in Tolstois gerade einmal 71 Seiten umfassenden Erzählung ist denkbar einfach und trotzdem bis ins kleinste Detail durchdacht und sehr gut ausgearbeitet: Mit dem geldgierigen und skrupellosen Geschäftsmann Brechunow und dem stillen, folgsamen Knecht Nikita können die Hauptpersonen kaum unterschiedlicher sein. Weitere Personen gibt es kaum und wenn, tauchen sie lediglich am Rande auf. Die Tatsache der begrenzten Anzahl von Figuren (in Romanen von Dostojewski beispielsweise tauchen bekanntlich so viele Charaktere auf, dass man sie sehr bald kaum noch auseinander halten kann) sowie Tolstois leicht verständliche Sprache, ermöglichen auch ein flüssiges und entspanntes lesen.Der Fokus bei „Herr und Knecht“ liegt ganz klar auf Brechunow und Nikita und gezeigt werden soll Brechunows Wandlung vom skrupellosen, scheinbar allmächtigen Geschäftsmann zu einem fürsorglichen, ängstlichen Menschen, der in größter Not erkennt, wie weit er sich von der Welt entfernt hat. Und nicht zu vergessen: Es geht auch um Nächstenliebe – ein Motiv, das in Tolstois Spätwerk, wozu „Herr und Knecht“ (erschienen: 1895) zählt, immer wichtiger wurde.
Beschreibungen des Herr-Knecht-Verhältnisses sind allerdings nichts Neues und tauchen nicht nur bei Hegel und Marx auf. Tolstoi beschränkt sich in seiner Erzählung zwar stark auf den Aspekt der Nächstenliebe, den Brechunow erst kennen lernen muss, trotzdem wird auch deutlich, dass der Knecht irgendwann von seinem Herrn, der bisher immer die Macht hatte, eben diese übernimmt und selbst zum Denker und Lenker wird, während der Herr sich ganz auf seinen Knecht verlässt. Deutlich wird das vor allem, als Brechunow Nikita – durchaus symbolisch – die Zügel für das Pferd gibt und seinen Knecht schalten und walten lässt.
Don Farrago am 25. November, 2007 00:50