1958 zu sexistisch: Lolita von Vladimir Nabokov

Jerry Tallmer, Kritiker der Zeitschrift The Voice, war vom Stoff etwas überfordert. „300 Seiten Sex“ habe er nun im Kopf, schrieb Tallmer, als er im Blatt 1958 Vladimir Nabokovs Erzählung Lolita besprach. Das sei ihm bei weitem „zu viel“. Auch bei anderen Kritikern fiel das Buch erstmal durch.
Lolita ist der bekannteste Roman von Vladimir Nabokov, erschienen 1955.

Der Roman, der zu den bedeutendsten des 20. Jahrhunderts gehört, war lange Zeit wegen seines Themas umstritten: Der parthenophile Ich-Erzähler Humbert Humbert zwingt seine zu Beginn der Erzählung zwölfjährige Stieftochter Dolores („Lolita†œ) zu einer zweijährigen Reise durch die USA. Von ihm als „Vater und Tochter†œ ausgegeben leben sie für mehrere Jahre auf einer Odyssee durch die USA in einer †“ zunehmend gewaltsamen †“ sexuellen Beziehung, aus der Dolores schließlich flieht.

Lolitas Entstehung beanspruchte mehrere Jahre, beginnend mit der Emigration der Nabokovs nach Amerika 1941. Das Romanmanuskript Lolitas hat Nabokov in einem Anfall künstlerischen Suizids im Herbst 1948 zu verbrennen versucht. Nabokovs Frau, Vera, entriss das Manuskript in letzter Minute den Flammen. Das Scheitern, einen amerikanischen Verleger zu finden, führte dazu, dass der Roman zuerst in Europa veröffentlicht wurde.

Wegen des, besonders in den prüden 1950er Jahren, heiklen Sujets, fand Nabokov anfänglich keinen amerikanischen Verleger für seinen Roman. Die erste Ausgabe von Lolita erschien deshalb bei dem englischsprachigen, aber in Paris angesiedelten Verlag Olympia Press, der sich auf erotische Literatur spezialisiert hatte. Eine sehr positive Besprechung des Romans durch Graham Greene führte dann dazu, dass 1958 auch eine amerikanische Ausgabe des Buchs erschien. In der Folge wurde der Roman schnell zum Bestseller und machte Nabokov, der zuvor nur wenigen Insidern bekannt gewesen war, zu einem berühmten Autor.

Die erste deutsche Ausgabe des Romans erschien 1959 bei Rowohlt, übersetzt von Helen Hessel unter Mitarbeit von Maria Carlsson, Gregor von Rezzori, Kurt Kusenberg und Heinrich Maria Ledig-Rowohlt. 1989 brachte Rowohlt eine von Dieter E. Zimmer revidierte Fassung heraus.

Kurzbeschreibung
Der Roman schildert die unselige Leidenschaft des 1910 in Frankreich geborenen Literaturwissenschaftlers und Privatlehrers Humbert Humbert zu der kindhaften und gleichzeitig frühreifen 12-jährigen Dolores (Lolita) Haze. Humbert Humbert ist Mädchen zwischen neun und vierzehn Jahren verfallen; deren vollkommene Inkarnation findet er in Lolita. Um in ihrer Nähe bleiben zu können, heiratet er ihre Mutter, die Witwe Charlotte Haze; er verursacht indirekt deren Tod und beginnt mit Lolita – aus Furcht vor Entdeckung seiner verbotenen Leidenschaft – ein unstetes Reiseleben durch die USA. Humbert Humbert stellt bald fest, dass sie verfolgt werden, und eines Tages ist Lolita, offenbar mit dem Verfolger im Bunde, verschwunden. Als er sie nach Jahren wiedersieht – verheiratet, schwanger und in ärmlichen Verhältnissen lebend -, weigert sie sich, zu ihm zurückzukehren, doch gelingt es ihm, den Namen des damaligen Nebenbuhlers zu erfahren. Es ist der Dramatiker Clare Quilty, den er in einer furiosen Racheszene erschießt. Mit sprachlicher und stilistischer Virtuosität geschrieben, zahlreiche literarische Anspielungen aufweisend und mit distanzierender Ironie unterlegt, ist der Roman weder Schilderung der Überschreitung moralischer Schranken noch Diagnose einer dekadenten Epoche, sondern am ehesten die Geschichte einer tragischen Leidenschaft, die ihren Gegenstand – wenn überhaupt – nur um den Preis der Zerstörung erreichen kann. Versuche, den Roman allegorisch zu deuten, wonach sein Thema v. a. in der Konfrontation des alten Europa (Humbert Humbert) mit dem jungen Amerika (Lolita) zu sehen sei, hat Nabokov zurückgewiesen.

Autorenporträt
Nabokov, Vladimir russ.-US-amerikan Schriftsteller, geboren am 23.4.1899 in Petersburg, gestorben am 2.7.1977 in Montreux, Schweiz

In seinem vielseitigen Werk Lolita, das Romane, Theaterstücke und Erzählungen umfasst, wies sich Vladimir Nabokov als fantasievoller Romancier und virtuoser Erzähler aus. Ein Skandal und dann ein internationaler Erfolg wurde dieser ironisch-frivoler Roman. Nabokov wuchs in einer großbürgerlichen russischen Familie auf, die 1919 nach Deutschland emigrierte. Er studierte französische Literatur sowie Entomologie in Cambridge (England). Ab 1922 lebte er als Staatenloser in Berlin. Nach ersten Gedichten verfasste er unter dem Pseudonym Sirin Prosaschriften, die schon bald die Aufmerksamkeit der Kritik auf sich zogen. 1937 verließ Nabokov Deutschland, lebte bis 1940 in Paris und übersiedelte schließlich in die USA. Dort war er 1941-48 „Poet in residence“ am Wellesley College bei Boston und beschäftigte sich daneben mit Schmetterlingskunde am Museum für Zoologie der Harvard University. 1948-59 war Nabokov Professor für russische und europäische Literatur an der Cornell University; anschließend lebte er als freier Schriftsteller in Montreux.

†œThe Origianl of Laura† heißt das unveröffentlichte Manuskript von Vladimir Nabokov, das eigentlich schon vor 30 Jahren hätte verbrannt werden sollen, erscheint nun voraussichtlich im September 2009.

Tod eines Kritikers von Martin Walser

Der meist diskutierte Roman des Jahres 2002

Tod eines Kritikers von Martin Walser

Gestern nacht vom Mord geträumt, wieder vom längst geschehenen. Nichts vom Opfer. Nur die Angst, entdeckt zu werden. Diesmal das Opfer im eigenen Haus vergraben. Einzige Chance, nicht entdeckt zu werden: ausgraben und irgendwo weit weg loswerden. Das ist doch vorrstellbar. Das muß gehen. Aber eben dabei kann man, muß man entdeckt werden. Die Angst quält so, daß man sich wünscht, das Entdecktwerden endlich hinter sich zu haben. Aufwachen. Wie immer, froh, weil es doch nur ein Traum war.

Martin WalserMartin Johannes Walser, geboren am 24. März 1927 in Wasserburg am Bodensee, ist ein deutscher Schriftsteller. Bekannt wurde Walser durch seine Darstellung innerer Konflikte der Antihelden in seinen Romanen und Erzählungen.

Die Eltern Walsers betrieben die Bahnhofsrestauration und eine Kohlenhandlung in Wasserburg am Bodensee. Das Milieu seiner Kindheit wird im Roman Ein springender Brunnen geschildert. Von 1938 bis 1943 besuchte er die Oberrealschule in Lindau und wurde anschließend als Flakhelfer eingezogen. Nach Unterlagen des Berliner Bundesarchivs ist Walser in der Zentralkartei der NSDAP mit dem Eintrittsdatum 30. Januar 1944 verzeichnet. Walser bestreitet jedoch jemals einen Aufnahmeantrag ausgefüllt zu haben. Nach dem Reichsarbeitsdienst erlebte er das Ende des Zweiten Weltkrieges als Soldat der Wehrmacht. Nach Kriegsende machte er 1946 in Lindau das Abitur und studierte an den Universitäten Regensburg und Tübingen Literaturwissenschaft, Geschichte und Philosophie. Mit einer Dissertation zu Franz Kafka wurde er 1951 in Tübingen promoviert.

Während des Studiums arbeitete Walser als Reporter für den Süddeutschen Rundfunk und schrieb erste Hörspiele. Zusammen mit Helmut Jedele bildete er den Kern der „Genietruppe†œ des Hörfunks. 1950 heiratete er Katharina „Käthe† Neuner-Jehle. Aus dieser Ehe gingen die Töchter Franziska, Alissa, Johanna und Theresia hervor.

Seit 1953 wurde Walser regelmäßig zu den Tagungen der Gruppe 47 eingeladen, die ihn 1955 für die Erzählung Templones Ende auszeichnete. Sein erster Roman Ehen in Philippsburg erschien 1957 und wurde ein großer Erfolg. Walser lebte von da an mit seiner Familie als freier Schriftsteller erst in Friedrichshafen dann in Nußdorf am Bodensee.

In den sechziger Jahren setzte sich Walser wie viele andere linke Intellektuelle für die Wahl von Willy Brandt zum Bundeskanzler ein. 1964 war er Zuhörer beim Auschwitz-Prozess in Frankfurt. Er engagierte sich gegen den Vietnamkrieg, reiste nach Moskau und galt (auch seinem Verleger Siegfried Unseld) in den sechziger und siebziger Jahren als Sympathisant der DKP, der er aber nie als Mitglied angehörte; er war mit Ernst Bloch, Robert Steigerwald u.a. befreundet. 1988 hielt Walser im Rahmen der Reihe Reden über das eigene Land eine Rede, in der er deutlich machte, dass er die deutsche Teilung als schmerzende Lücke empfindet, mit der er sich nicht abfinden will. Diesen Stoff machte er auch zum Thema seiner Erzählung Dorle und Wolf. Auch wenn Walser ausdrücklich betonte, dass sich seine Haltung über die Zeit nicht verändert habe, sprechen einige Beobachter von einem Sinneswandel des Autors.

Eine in Verlagsverträgen ungewöhnliche Klausel ermöglichte es Walser, nach dem Tod von Siegfried Unseld mit allen seinen Werken 2004 vom Suhrkamp Verlag zum Rowohlt Verlag zu wechseln. Insbesondere spielte laut eigener Aussage dabei die fehlende Positionierung des Verlags im Streit um seinen umstrittenen Roman Tod eines Kritikers eine Rolle.

Walser ist Mitglied der Akademie der Künste (Berlin), der Sächsischen Akademie der Künste, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (Darmstadt) und Mitglied des deutschen P.E.N.

Tod eines KritikersTod eines Kritikers
Der Roman beginnt als Erzählung eines gewissen Michael Landolf, der beweisen möchte, dass Hans Lach, dessen letztes Buch in André Ehrl-Königs (Vorbild: Marcel Reich-Ranicki) Literatursendung SPRECHSTUNDE verrissen worden ist, nicht für den Tod des von der Bildfläche verschwundenen Starkritikers verantwortlich ist, obwohl er sich nach seiner Verhaftung selbst beschuldigt und in Mordphantasien hineingesteigert hat. Zu diesem Zweck recherchiert Landolf innerhalb des deutschen Literaturbetriebs, unterhält sich mit Kriminalhauptkommissar Wedeking über Lachs letztes Buch Wunsch, Verbrecher zu sein, besucht Hans Lach in der Psychiatrie und beginnt eine Affäre mit der Verlegergattin Julia Pelz-Pilgrim. Der vermisste Ehrl-König nimmt dabei in den Erzählungen von Professor Silbenfuchs und Rainer Heiner Henkel immer deutlicher die Gestalt eines machtbesessen „Großkaspars“ an, der keine seriöse Literaturkritik betreibt, sondern Selbstinszenierung auf Kosten der Schriftsteller. Es zeigt sich, dass der Kritiker auch in der vermeintlichen Todesnacht nur die Gelegenheit einer Inszenierung wahrgenommen hat, um sich der Affäre mit einer jungen Schriftstellerin widmen zu können. Weiter ist am Ende des Romans klar, dass Michael Landolf und Hans Lach ein- und dieselbe Person sind. Die Erzählung nimmt dadurch Züge eines literarischen Selbstgesprächs an und die Tatsache, dass Anfang und Ende in einer Ringkomposition zusammenfallen, riegelt den literarischen Kosmos nach außen hin weiter ab.

Tod eines Kritikers ist ein für Walser untypisch postmoderner Roman. Er ist nicht nur Krimi-Farce, Medienbetriebssatire und Seitensprunggeschichte, sondern enthält auch eine psychologische Studie, welche die Identitätsproblematik der Schriftsteller im Medienzeitalter behandelt. Darüber hinaus enthält das Buch vor allem auch ein Spiel mit den Realitätsebenen in Form eines Schlüsselromans, bei dem reale Personen in literarische Figuren überführt werden. Kritiker Walsers halten gerade aus diesem Grund den Roman für misslungen. Jan Philipp Reemtsma konstatierte, Walsers Wunsch, Marcel Reich-Ranicki durch sein Buch zu schaden, habe bei ihm zu einem „Kontrollverlust†œ und einem Schreibprozess „im Zustand autosuggestiver Verstörung†œ geführt. „Das Grundanliegen Martin Walsers, Marcel Reich-Ranicki in absurder und bizarrer Gestalt mit höchstem Beleidigungswert in seinem Roman auftreten zu lassen, macht alle Bemühungen um eine annähernd komplexe Erzählstruktur zunichte.†œ Aufgrund eines offenen Briefs des FAZ-Herausgebers Frank Schirrmacher ist dieser Aspekt des Romans in der öffentlichen Wahrnehmung besonders hervorgetreten. Interessant dabei ist, dass die öffentliche Diskussion über Walsers Werk in vielen Punkten dem Drehbuch des Romans folgte, weswegen dieser aus heutiger Sicht beinahe prophetisch wirkt.

Hier und hier findet man zwei gute Rezensionen dazu, und hier gibt es noch eine komplette Abhandlung zur Mediendebatte um diesen Roman.