Désirée von Annemarie Selinko

desireeDas Schuljahr ist so gut wie zu Ende – Lektüren wie Lessings Minna von Barnhelm und Emilia Galotti oder Der geteilte Himmel von Christa Wolf sind interpretiert, benotet und hoffentlich noch nicht vergessen, die Sommerferien fangen bald an.

„Was kann ich lesen, Mum?“, fragte mich meine fast erwachsene Tochter. Es darf keinesfalls langweilig sein, nicht zu schwer und durchaus romantisch. Nach dem überstandenen „Bis(s)-Hype, machte ich mich natürlich gerne auf die Suche nach „Ferien-Lesestoff“,  und prompt fiel mir meine angestaubte Ausgabe von Désirée von Annemarie Selinko in die Hände.

Ich glaube, eine Frau kann viel leichter bei einem Mann etwas erreichen, wenn sie einen runden Busen hat. Deshalb habe ich mir vorgenommen, mir morgen vier Taschentücher in den Ausschnitt zu stopfen um wirklich erwachsen auszusehen. In Wirklichkeit bin ich natürlich schon ganz erwachsen, aber das weiß nur ich, und man sieht es mir noch nicht richtig an.

Mit diesen Zeilen beginnt Annemarie Selinkos, in Form eines fiktiven Tagebuches, geschriebener Roman Désirée. Er erschien 1951, wurde in 25 Sprachen übersetzt und gehört mit einer Gesamtauflage von über 2,8 Millionen Exemplaren zu den  größten Unterhaltungsromanen der deutschen Literatur.

Annemarie Selinko wurde 1914 in Wien geboren, studierte einige Semester Sprachen und Geschichte an der Universität Wien, war dann als Journalistin tätig, unter anderem als Österreich-Korrespondentin für die französische Zeitschrift L`Intransigeant. Mit der Veröffentlichung des  Unterhaltungsromans  Ich war ein häßliches Mädchen wurde sie bekannt, die Kritiker stellten sie auf eine Stufe  mit Vicky Baum. Als sie sich 1937 in Genf aufhielt, um einige Politiker-Interviews aufzunehmen, lernte sie dort bei einer internationalen Studentenkonferenz Erling Kristiansen kennen. Nach der Heirat mit dem dänischen Diplomaten Kristiansen 1938 lebte sie in Kopenhagen, Stockholm, Paris und London. Durch ihre Heirat wurde sie dänische Staatsbürgerin.

Als im Zweiten Weltkrieg Dänemark von den Deutschen besetzt wurde, schloss sich Selinko der Widerstandsbewegung an und wurde 1943 für kurze Zeit von der Gestapo inhaftiert. Mit ihrem Mann konnte sie in einem offenen Fischerboot nach Schweden flüchten und arbeitete in Stockholm bei einer Nachrichtenagentur. Gegen Kriegsende war sie als Dolmetscherin beim Hilfswerk des Roten Kreuzes tätig.

Annemarie Selinko starb 1986 im Alter von 72 Jahren in ihrer Wahlheimat Dänemark.

Ihr letztes Werk, den Roman Désirée über Désirée Clary, die ehemalige Verlobte Napoleons und spätere schwedische Königin, widmete sie ihrer Schwester Liselotte, die von den Nazis ermordet wurde.

Annemarie Selinko ÜBER MICH SELBST
Ich wurde am 1. September 1914 in Wien geboren. Solange ich denke kann, hatte ich den Wunsch, Schriftstellerin zu werden. Mit 13 Jahren veröffentlichte ich eine Kurzgeschichte in einer Zeitschrift. Als ich zur Redaktion ging, um mein Honorar abzuholen, fragte man mich, ob meine Mutter mich ermächtigt hätte, es in Empfang zu nehmen. Man glaubte, meine Mutter sei die Autorin. Ich wagte nicht zu sagen, daß ich die Geschichte geschrieben hatte, die ich sehr spitzfindig und ein bißchen sündhaft fand. Am Tage meines Abiturs bat ich einen Wiener Zeitungsverleger um einen Job. Ich zeigte ihm mein Abiturzeugnis und erklärte bescheiden: „Ich fürchte, in Latein und Mathematik bin ich nicht sehr tüchtig.“
Um mich loszuwerden, beauftragte er mich, eine Geschichte über arbeitslose Frauen zu schreiben. Da ich eine sehr behütete Kindheit verbracht hatte, machte diese erste Begegnung mit einer schrecklichen Armut einen ungeheuren Eindruck auf mich, und erschüttert schrieb ich einen Artikel, durch den ich ständige Mitarbeiterin der Redaktion dieser Zeitung wurde. Ich war damals 17 Jahre alt. Mein Vater wünschte, daß ich zur Universität ging, und so war ich gleichzeitig Journalistin und Studentin.

desiree1Kurzbeschreibung
Annemarie Selinkos großer historischer Roman, beschreibt die Geschichte der Désirée Clary, Seidenhändler-Tochter aus Marseille, die es tatsächlich zu etwas bringen und in die Weltgeschichte eingehen sollte. Sie war die erste Verlobte Napoleons, heiratete später den französischen Marschall Bernadotte, lebte in der Gunst des Kaisers in Paris und verließ Frankreich schließlich mit ihrem Mann, als der den schwedischen Thron bestieg. Das Buch erreichte in kurzer Zeit Millionenauflagen. Der Hollywood-Film mit Jean Simmons als Désirée und und Marlon Brando als Napoleon wurde ebenfalls ein Welterfolg, und auch heute noch hat dieser historische Liebesroman nichts von seinem Zauber verloren.

Der Roman besticht durch seine große Authenzitität der Beschreibung über das Ende der französischen Monarchie Er ist bunt, farbenprächtig und voller Gefühle, die natürlich auch nicht zu kurz kommen.  Désirée, die Protagonistin, verliebt sich unglücklicherweise in einen kleinen dahergelaufenen korsischen Soldaten mit großen Ambitionen – eine schicksalhafte Begegnung.

Tote Mädchen lügen nicht von Jay Asher

Erst kürzlich hat ein 12-jähriges Mädchen aus meinen Stadtteil sich mit einem Seil an ihrem Hochbett erhängt. Es war der letzte Ferientag, sie telefonierte noch am Abend mit einer Mitschülerin und erzählte, am nächsten Tag nicht in die Schule gehen zu wollen. Nachdem gegen 21 Uhr noch Licht im Kinderzimmer brannte, schaute die Mutter nach und fand ihr totes Kind.

tote-madchen-lugen-nicht1In den USA ist jetzt ein Jugendroman zu dem Thema Suizid auch ohne Verlagswerbung überraschend erfolgreich. „Tote Mädchen lügen nicht“ lautet der Titel des 33-jährigen Autors Jay Asher. Seit das Buch im Oktober 2007 in den Vereinigten Staaten erschienen ist, hat es sich dort gut hundertsechzigtausendmal verkauft. Die Rechte an „Thirteen Reasons Why†œ, so der Originaltitel, wurden mittlerweile in 14 Länder verkauft; in Deutschland ist der Roman seit Mitte März im Handel.

In „Tote Mädchen lügen nicht†œ geht es laut der FAZ (Was treibt junge Mädchen in den Tod) um einen jungen Menschen, der sich isoliert fühlt, jedes Vertrauen verliert und irgendwann beschließt, in den Tod zu gehen – aber nicht ohne noch zu dokumentieren, welche Signale es für diesen Selbstmord gegeben hat. Ihr hättet es erkennen können, diese Botschaft hinterlässt die junge Hannah Baker dreizehn Menschen aus ihrem Umfeld: zwölf Mitschülern und einem Lehrer. Ihr hättet mich aufhalten können, denn die Signale waren da, als ich mir die Haare abschnitt und auf Gängen herum geschrien habe. Ihr hättet nur hinsehen, hinhören müssen, ihr hättet nur einmal nachdenken müssen, was ihr mir antut. Dann hättet ihr vielleicht verhindern können, dass es so weit kommt und ich Tabletten nehme.

Aber dazu ist es nun zu spät. Und daher müssen die dreizehn Menschen, die Anteil am Schicksal Hannahs hatten, dem Mädchen zwei Wochen nach seinem Freitod so genau zuhören, wie sie es vorher eben nicht taten: Hannah Baker hat vor ihrem Tod Kassetten besprochen, dreizehn Stück, für jeden eine: für den Jungen, der sie zum ersten Mal küsste und danach bei seinen Freunden damit prahlte; für das Mädchen, das sie benutzte, um selbst heller strahlen zu können; für einen anderen Jungen, der ihr Briefgeheimnis brach; für einen dritten Jungen, der ungefragt ein Gedicht von ihr druckte und an der Schule verteilte; für eine Freundin, die keine war; und schließlich für den Lehrer, der ihr riet, doch einfach auf sich beruhen zu lassen, was sie umtrieb, und der in seinem Büro sitzen blieb, als Hannah aufstand und sagte: Ich schließe jetzt mit meinem Leben ab. Dreizehn größere und kleinere Verletzungen kommen so zusammen. Erst in der Summe der Teile wird ein Bild daraus, das nur Hannah erkannte, die anderen aber nicht, aus Teilnahmslosigkeit, Arroganz, Dummheit – oder weil es zu schwer war, die Verletzung überhaupt zu erkennen.

Über den Autor
Jay Asher bekam die Idee zu dem Buch während einer Audioführung in einem Museum. Er war fasziniert von der Stimme in seinem Ohr, die ihm erklärte, was er sah. „Tote Mädchen lügen nicht“ ist sein erster Roman und wurde in den USA zu einem sensationellen Erfolg. Der Autor lebt in Kalifornien.

Jay Asher hat es weder sich noch seinen Figuren leicht gemacht. Er hat auch Hannah Baker als ungerecht, unfair und unzugänglich beschrieben: Das bewahrt sein Buch davor, eine banale Anleitung zum Seelenklempnern zu sein. Das ist vielleicht auch das Geheimnis, warum das Buch an amerikanischen Highschools von Hand zu Hand wanderte. Es ist nicht pädagogisch, nicht altklug, nicht berufsjugendlich, es ist kompliziert. Was hat „Tote Mädchen lügen nicht†œ inspiriert, warum rückt einem das Buch so nah? „Mich hat die Geschichte einer jungen Verwandten beschäftigt, die sich das Leben zu nehmen versucht hat†œ, erzählt Jay Asher im F.A.Z.-Gespräch.

Und dass er sich mit seiner Frau und anderen Freundinnen hingesetzt hat und sie fragte, was in deren Schulzeit geschehen sei, das sie nicht bewältigen konnten. Gerüchte, antworteten sie, Gerede, Rufmord und Klatsch. Als er selbst noch in der Highschool war, hat Asher an einem Präventivkurs zur Verhinderung von Selbstmorden teilgenommen. Auch im Buch wird eine Broschüre verteilt, die „Warnsignale suizidgefährdeter Menschen†œ heißt. „Ich wollte, dass es kein zu großes Ereignis ist, das Hannah umtreibt†œ, sagt Asher. „Ich wollte, dass es viele kleine Dinge sind.†œ Ein Herz, das immer wieder bricht, und mit jedem Mal wird der Knacks größer.

Liest Jay Asher aus seinem Debüt an Schulen oder in Buchläden vor, stehen nachher Jungs und Mädchen bei ihm an, um davon zu erzählen, wie sie die Lektüre verändert habe. Einige gründeten Diskussionsrunden und Buchclubs an ihren Schulen. Andere sendeten E-Mails: „Ich habe bestimmte Stellen in Hannahs Geschichte angestrichen†œ, schrieb ein Mädchen, „und meinem Cousin geschickt. Er hat mir dann die Hilfe besorgt, die ich brauchte, um mit meiner Depression fertig zu werden.†œ Ein anderes Mädchen gestand: „In den letzten Jahren habe ich mit dem Gedanken an Selbstmord gekämpft, alles, was Sie erwähnt und gezeigt haben, war so genau: die Gerüchte, die Jungs, das Drama, alles. Und ich habe mich so viel besser gefühlt, weil ich wusste, dass jemand es versteht.†œ Und ein Junge schrieb: „Ich war sehr gemein zu anderen, ein Schwein. Seit Ihrem Buch habe ich begonnen, anderen zuzuhören und höflicher zu sein.†œ

Empfohlen ab 13 Jahre

Quelle: FAZ – Was treibt junge Mädchen in den Tod

Gebundene Ausgabe: 288 Seiten, erschienen im Pantheon Verlag am 16. März 2009 – 14,95 Euro

Geschenktipp: Ilias von Raoul Schrott

[…]agamemnon jedoch gefiel das ganz und gar nicht – er lehnte ab beschimpfte ihn und jagte ihn davon wie einen räudigen hund: hör auf, bei unseren schiffen herumzuschleichen – laß dich hier nicht noch mal blicken! denn dann nützt dir auch der lorbeer am stab da nichts mehr – das mädel freilassen? mit nach argos nehm ich sie – da soll sie mir mein bett warm halten und zuhause am webstuhl stehen bis sie alt und grau ist! hau ab wenn du hier mit heiler haut davonkommen willst![…]

So hört sich Homer, der wohl berühmteste Dichter des Abendlandes an, wenn ihn ein heutiger Dichter übersetzt.

Raoul Schrotts Neu-Übersetzung der Ilias, die im September 2008 im Hanser Verlag erschienen ist, räumt auf mit Hexameter und geflügelten Worten und versetzt den Dichter sprachlich in unsere Zeit.

Die Auseinandersetzungen der Helden und Götter aus Homers Epos vom trojanischen Krieg lesen sich  spannend wie ein Abenteuerroman.

Kurt Flasch, ein deutscher Philosophiehistoriker, spezialisiert auf die Philosophie der Spätantike und des Mittelalters, ist das neue, lebendige, zeitgemäße Gewand hundertmal lieber als alle altertümelnden Übersetzertricks. Gut, „bürgerliche Leser“ sollen sich festhalten, rät Flasch, allen Lausbuben aber verspricht er das „ungeheure Geschehen der Ilias“ überlebensgroß und „rund und schön“. Flaschs Überzeugung geht so weit, dass er sich den Text als Schullektüre wünscht. Und sei’s bloß, weil der Band sich selbst, so wunderbar zur Diskussion reizend, konterkariert.
Die Rezension von Kurt Flasch erschien am 15. Oktober 2008 unter dem Titel Ihr habt meinen Palast leergeklaut in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Der österreichische Literaturwissenschaftler, Komparatist und Schriftsteller Raoul Schrott, geboren am 17. Januar 1964 in Landeck, arbeitete ab 2005 an der Neuübersetzung von Homers Ilias. Sie wurde von den Hörspielredaktionen des Hessischen Rundfunks und von Deutschlandfunk in Auftrag gegeben, als Hörspiel mit dem alleinigen Sprecher Manfred Zapatka und in der Regie von Klaus Buhlert produziert und ausgestrahlt.

Dazu befasste er sich mit neueren internationalen Veröffentlichungen der komparativen Literaturwissenschaft, die seiner Meinung nach vielfache Bezüge zwischen Homer und assyrischen Texten aufgezeigt haben. Er stellte die These weiterer Parallelen zwischen altorientalischen und den homerischen Schriften auf, zudem von Verbindungen zur Genesis des „Alten Testaments“. Dazu stellte er fest: „Die Gräzisten und die Assyrologen nehmen bisher kaum Notiz voneinander, Okzident und Orient werden in der Literaturwissenschaft im Unterschied zur Archäologie oder Ethnologie noch immer ideologisch und kulturell getrennt.“

Homer, der überlieferte Verfasser der Ilias; römische Kopie aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. eines hellenistischen Originals. British Museum, London.
Homer

Die von Schrott angeführten Bezüge zwischen Homer und Assyrischen Texten führten dazu, dass er ein zunächst geplantes literaturwissenschaftliches Vorwort der Übersetzung zu einer separaten Veröffentlichung erweiterte, in der er seine These zur Homerischen Frage darlegt, dass der Grieche Homer im assyrischen Kulturraum gelebt haben müsse. Er verglich die Landschaftsbeschreibungen der Ilias mit den westlichsten Teilen des assyrischen Einflussgebietes und fand („hunderte“) Verweise auf die antike Kulturlandschaft Karatepe in Kilikien.

Für Schrott war Homer ein griechischer Schreiber am Hof in Karatepe, der alte griechische Motive vom trojanischen Krieg in lokale Gegebenheiten und Erzähltraditionen kleidete. Schrotts Thesen zu Homer und Troja, die er am 22. Dezember 2007 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlichte, stießen auf den von Schrott erwarteten scharfen Widerspruch mehrerer Wissenschaftler, wie etwa des Gräzisten Joachim Latacz oder des Althistorikers Stefan Rebenich. Gleichwohl halten andere Wissenschaftler wie Robert Rollinger, Walter Burkert und Christoph Ulf  seine Thesen für diskussionswürdig und „horizonterweiternd“.

Kurzbeschreibung der Ilias
Das älteste Epos Europas und der Ursprungsmythos des Abendlandes in einer neuen, zeitgemäßen Übertragung von Raoul Schrott: Noch nie wurde dem heutigen Leser dieses große Epos vom Troianischen Krieg so nahe gebracht, in einer ebenso kraftvollen wie bildhaften Sprache. Ausgelöst von Paris‘ Raub der schönen Helena, schildert Homer blutige Schlachten zwischen Griechen und Troianern und erzählt von den Göttern, die den Menschen bei ihrer Selbstzerfleischung zuschauen. Homers Geschichte ist das gleichsam enzyklopädische Monument jener Kultur, von der unsere heutige sich ableitet.

Und hier eine Leseprobe mit freundlicher Genehmigung vom Hanser Verlag – © Carl Hanser Verlag, München

I LOIMÓS. M †“ENIS

DIE PEST. DER GROLL

1. †“ 21. tag

m¯enin áeide, theá, peleiádeo achil¯eos
ouloménen, hé myr톙 achaio¯Ä±s álge†™ étheken

von der bitternis sing, göttin – von achilleús, dem sohn des peleús
seinem verfluchten groll, der den griechen unsägliches leid brachte
und die seelen zahlloser krieger hinab in das haus des hades sandte
die blutvollen leben dann nur noch fleisch an dem die hunde fraßen
den vögeln ein festmahl – und wie zeus†™ wille sich dadurch erfüllte …
sing, muse, und beginn mit dem moment wo der göttliche achilleús
sich in einem streit mit seinem kriegsherrn agamemnon entzweite.
doch welcher der götter hatte sie gegeneinander aufgehetzt?
es war apollon, zeus†™ sohn mit leto: vor lauter ärger über agamemnon
hatte er im lager eine pest ausbrechen lassen die das heer dahinraffte;
apollons priester chr ´yses war nicht gebührend ehre erwiesen worden
als der bei den griechischen schiffen erschien, um für sehr viel gold
seine gefangene tochter freizukaufen. den goldenen stab in der hand
mit dem geweihten lorbeerkranz, als zeichen gottes und des friedens
hatte chr ´ yses für sie vor den versammelten truppen um gnade gebeten
und sich an deren zwei feldherren agamemnon und menélaos gewandt:

ihr söhne des atreús – und ihr zum kampf gerüsteten achaier:
die unsterblichen auf dem olymp, sie mögens euch gewähren
troia in schutt und asche zu legen und heil nach haus zu segeln!
mein kind aber, das laßt gehen: und nehmt dafür all mein gold
schon aus achtung vor zeus†™ sohn apollon und seinen pfeilen!
die achaier hatten ihm alle beifällig zugestimmt und gefordert
dem priester respekt zu erweisen und sein gold zu akzeptieren;
agamemnon jedoch gefiel das ganz und gar nicht – er lehnte ab
beschimpfte ihn und jagte ihn davon wie einen räudigen hund:
hör auf, bei unseren schiffen herumzuschleichen –
laß dich hier nicht noch mal blicken! denn dann
nützt dir auch der lorbeer am stab da nichts mehr –
das mädel freilassen? mit nach argos nehm ich sie –
da soll sie mir mein bett warm halten und zuhause
am webstuhl stehen bis sie alt und grau ist! hau ab
wenn du hier mit heiler haut davonkommen willst!
dem greis stockte der atem – schweigend machte er kehrt
und schritt die lärmend ans ufer rollende brandung entlang
und hob nach ein paar schritten an zu seinem herrn apollon
dem sohn der leto, der schutzgöttin allen lebens, zu beten:
hör mich, gott mit dem silberbogen, der du über unserer troás stehst
und über killa, ténedos und mein chryse herrschst
herr auch der ratten: hab ich deinem tempel da nicht ein dach errichtet
und dir zum opfer die fetten schenkel von stieren und ziegen verbrannt?
dann erfüll nun auch meine bitte, ich flehe dich an:
laß die danaer meine erniedrigung büßen durch das gift deiner pfeile!
und phoíbos apollon, der gott des lichts, erhörte sein gebet
und brach auf vom höchsten grat des olymp, zorn im herzen
den bogen um die schulter geschwungen, den köcher gefüllt –
und die pfeilspitzen auf seinem rücken, sie klirrten metallen
als er ausschritt und dem schatten der nacht gleich herabkam.
abseits der schiffe setzte er sich an den strand, legte an
und mit einem gellenden sirren der sehne gingen seine pfeile
nieder auf sie – maultiere und streunende köter traf er zuerst

danach die menschen: er zielte auf sie und schoß und schoß …
und scheiterhaufen brannten in engen reihen, ohne unterlaß.
neun tage lang hagelte es pfeile in die flanke des heeres.
am zehnten jedoch berief achilleús alle zu einer versammlung:
die idee hatte ihm hera eingegeben – die gattin des zeus wollte
ihre weißen arme vor dem dahinsiechen ihrer geliebten danaer
nicht mehr länger in den schoß legen. kaum saßen alle im kreis
da trat achilleús schon mit einem schnellen schritt in ihre mitte:
agamemnon! ich fürcht der krieg und die seuche zwingen uns
in die knie – soll der rest von uns hier dem sichren tod entgehn
bleibt uns nur, die belagerung aufzugeben und segel zu setzen.
doch warum fragen wir nicht irgendeinen seher oder priester –
am besten einen traumdeuter: zeus schickt ja auch die träume –
warum der sonst so lichte apollon in solch dunklen zorn geriet:
will er sich damit über ein gelübde oder ein opfer beschweren?
wenn ja, dann stimmt ihn vielleicht der opferrauch von ziegen
und lämmern um – und er hört auf uns weiter heimzusuchen.
die frage stehen lassend, setzte er sich – worauf kalchas
sich erhob, eines priesters sohn; keiner las besser als er
aus dem vogelflug das, was ist, sein wird und was war –
auch den weg nach ilios hatte er den achaiern gewiesen
kraft der ihm von apollon verliehenen gabe des sehens
mit der er nun alles ins rechte licht zu rücken versuchte:
o gott, achilleús – du als zeus†™ liebling hast ja leicht fordern
ich soll den zorn eines gottes deuten, der selbst von weitem
noch tödlich ist! aber ich tus – hörst du? dann schwör aber
daß du dich hinter mich stellst und mir den rücken stärkst
denn meine antwort erweckt sicher die wut jenes mannes
der nicht nur sein argos, sondern auch uns hier beherrscht.
eines herrschers ärger über seine untertanen ist gefährlich;
selbst wenn er ihn eine zeitlang runterschluckt, brennt er
in ihm doch ständig weiter: so lang bis er ihn stillen kann.
überleg also, ob du für mein leben wirklich geradestehst …
worauf der schnellfüßige achilleús kalchas aufrichtig versicherte:

nur mut! nenn mir das omen ruhig – was es auch sein mag!
ich schwöre – bei apollon, der in zeus†™ gunst steht und uns
dank deiner bittgebete all die zeichen der götter offenbart –
daß niemand – solang ich lebe und das licht der erde sehe –
hier im schutzwall dieser schiffe hand an dich legen wird!
kein einziger! auch nicht agamemnon, falls du den meinst –
der tut ja nur so als wär er von uns allen hier der wichtigste!
drauf faßte der weise kalchas sich ein herz und sagte laut und klar:
nicht gebrochener gelübde oder zuwenig opfergaben wegen
ist apollon etwa verärgert, nein: er ist zornig weil agamemnon
seinen priester gedemütigt hat, er seine tochter für sich behält
und kein gold für sie annimmt – deswegen sucht er uns heim
mit seinem bogen; und er wird uns erst von der pest erlösen
wenn wir dieses mandeläugige mädchen freigelassen haben –
aber das jetzt ohne irgendein lösegeld – und wir ihm in chryse
hundert rinder opfern: nur das könnt ihn vielleicht versöhnen.
kalchas hatte sich kaum gesetzt, war agamemnon schon aufgestanden
in all der fülle seiner macht; eines herrschers sohn durch und durch
sah jeder wie jetzt die zornesröte in ihm hochstieg, die blanke wut
in seinen augen aufblitzte – als würde ihm gleich schwarz davor –
und er sich mit einem drohenden blick zum weissager wandte:
du schwarzseher! du hast mir noch nie gutes verheißen –
das einzige was du kannst, ist schlechtes prophezeien;
kein wort kenne ich von dir, auf das man gerne hört!
und jetzt posaunst du vor versammelter truppe rum
daß ihnen apollon nur deshalb die pest geschickt hat
weil ich nicht einsehe, weshalb ich für das mädchen
lösegeld annehmen soll. warum auch? mit nach argos
will ich sie nehmen, da ist sie mir lieber als meine frau
die klytaimnéstra – jawohl! sie ist mindestens so schön
und klug und nicht weniger geschickt mit den händen!
doch da ich hier ein starkes heer brauche – und keines
das am sterben ist – laß ich sie frei: aber nur wenn ich
sofort ersatz kriege! als tribut an meine ehre steht mir

die trophäe zu: als einziger argeier ohne ehrengabe sein
ist gegen jeden brauch: und ihr seht ja, da geht sie dahin …
achilleús jedoch stemmte die arme in die hüfte und hielt dagegen:
hochherrscherlicher argeier, du habgierigster geier von allen:
so freigebig das heer ist – wo solls diese trophäe hernehmen?
am angesammelten beutegut haben sich alle bereits bedient –
was wir aus den städten ringsum raubten, ist längst verteilt …
gegen jeden brauch wäre es, das alles wieder einzusammeln:
nein – überlaß die da, deine chryseís, jetzt und hier dem gott!
dafür entschädigen wir dich später wieder drei- und vierfach –
sobald zeus es uns erlaubt, die paläste in ilios auszuplündern!
worauf ihm agamemnon sofort gebieterisch über den mund fuhr:
glaub nicht, du kannst – bloß weil du der sohn einer göttin bist –
mir alles vor der nase wegschnappen. ich laß mich von dir dran
nicht rumführen – du hast deinen anteil, ich aber soll verzichten?
sie einfach so hergeben – um dann mit leeren händen dazustehn?
nein! sind die achaier wirklich so freigebig, wie du behauptest
stellen sies mir aus ihrer beute: und zwar genau das, was ich will
und mindestens genauso viel – wenn nicht, nehm ichs mir selber;
ich hol mir deinen anteil – den des aías oder jenen des odysseús:
wenns sein muß, auch mit gewalt – ob euch das paßt oder nicht!
aber damit beschäftigen wir uns besser dann, wenn es soweit ist.

Gebundene Ausgabe: 672 Seiten, erschienen im Verlag: Hanser Belletristik (13. September 2008), 34,90 Euro

Quellen: Hanser Verlag, Wikipedia