Quasikriminelle literarische Energie: Die ganze Wahrheit von Norbert Gstrein

Die ganze Wahrheit von Norbert Gstrein

[…]“Wie Gstrein die Auswüchse dieses philosemitisch überhöhten Dichterkults beschreibt, macht ihm so schnell keiner nach. Dazu bedarf es einer quasikriminellen literarischen Energie, über die im deutschen Sprachraum nicht (mehr) viele verfügen.

Auf kaum ein Buch wartet der Literaturbetrieb mit solcher Spannung wie dieses: Norbert Gstrein hat mit „Die ganze Wahrheit“ einen Schlüsselroman zu Suhrkamp vorgelegt. Oder doch nicht? Was das Werk leistet, geht über bloße Enthüllungen weit hinaus“, sagt Richard Kämmerlings in seiner am 14.08.2010 in der FAZ veröffentlichten Rezension über Gstreins neuen Roman.

Kurzbeschreibung
Heinrich Glück, Verleger in Wien, lernt die junge, exzentrische Dagmar kennen und lässt sich scheiden, um seine letzten Jahre mit ihr zu verbringen. Immer ausschließlicher ergreift sie Besitz von seiner Existenz. Als er stirbt, soll er endgültig ihr Eigentum werden: Sie schreibt ein Buch über seinen Tod. Kann eine Frau behaupten, die ganze Wahrheit über ihren Mann zu wissen? Der langjährige Verlagslektor jedenfalls weigert sich, Dagmars Buch zu publizieren. In einem ironischen, brillanten Vexierspiel zeichnet der aus Österreich stammende Norbert Gstrein das Porträt einer Frau, die nur an eine Wahrheit glauben will: ihre eigene.

Die gebundene Ausgabe umfasst 302 Seiten und ist im August 2010 im Hanser Verlag erschienen.

Über den Autor
Norbert Gstrein, geboren 1961, lebt zur Zeit in Hamburg. Er veröffentlichte u.a. die Erzählungen Andertags, Einer, den Bericht Der Kommerzialrat, die Novelle O 2, die Romane Das Register sowie Das Handwerk des Tötens und gemeinsam mit Jorge Semprun die Reden Was war und was ist. Eng verbunden mit dem Roman Die englischen Jahre ist sein Buch Selbstportrait mit einer Toten. Er erhielt unter anderem den Berliner Literaturpreis, den Alfred-Döblin-Preis, den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung und den Uwe-Johnson-Preis.

Dostojewskis Idiot über die Todestrafe und die Praxis in den USA

Dostojewskis Idiot über die Todestrafe und die Praxis in den USA

Washington – Ob er letzte Worte sprechen wolle, wurde Ronnie Lee Gardner gefragt. „Will ich nicht, nein“, antwortete der 49-Jährige, der gefesselt auf einem Stuhl im Exekutionsraum des Staatsgefängnisses von Utah saß. Er trug einen orangefarbenen Overall mit einer Zielmarkierung über seinem Herz. Eine dunkle Maske wurde ihm über den Kopf gezogen. Die fünf Freiwilligen des Exekutionskommandos, die in rund acht Meter Entfernung hinter Schießscharten Aufstellung genommen hatten, feuerten präzise. Eines der Gewehre des Kalibers 30 war ungeladen. Am Freitagmorgen, 20 Minuten nach Mitternacht, war die Hinrichtung ausgeführt. Richter und der Gouverneur von Utah hatten die Umwandlung der Strafe in lebenslange Haft abgelehnt.

Anders als bei der Hinrichtung am 18.06.2010 in den USA, berichtet der Protagonist Fürst Myschkin in Dostojewskis Roman „Der Idiot“ über eine Exekution mittels Guillotine. „Wenn man jemanden, der getötet hat, dafür tötet, so ist die Strafe unverhältnismäßig größer als das Verbrechen. Die Tötung auf Grund eines Urteilsspruches ist unverhältnismäßig schrecklicher als die von einem Räuber begangene.“

Auszug aus Fjodr Michailowitsch Dostojewski „Der Idiot“

Der Idiot (Идиот), Dostojewskis zweites großes Werk, erschien 1868. Es handelt von der Geschichte des Fürsten Myschkin, der wie Dostojewski selbst unter Epilepsie leidet und aufgrund seiner Güte, Ehrlichkeit und Tugendhaftigkeit in der St. Petersburger Gesellschaft scheitert.

[…]Was mag mit der Seele in diesem Augenblick vorgehen? In was für krampfhafte Zuckungen wird sie versetzt? Es ist eine Peinigung der Seele, weiter nichts! Es gibt ein Gebot: †ºDu sollst nicht töten!†¹, und da tötet man nun, weil jemand getötet hat, auch ihn? Nein, das darf nicht sein! Es ist jetzt schon einen Monat her, daß ich das gesehen habe; aber es ist mir bis heute, als ob ich es vor Augen hätte. Ich habe fünfmal davon geträumt.«

Der Fürst war beim Sprechen aufgelebt, eine leichte Röte war auf sein blasses Gesicht getreten, obgleich er äußerlich so still und ruhig redete wie vorher. Der Kammerdiener hörte ihm mit teilnahmsvollem Interesse zu und wünschte, wie es schien, nicht mehr, sich von dem Gespräch loszumachen; vielleicht war auch er ein Mensch mit Einbildungskraft und einem Hange zum Nachdenken.

»Es ist wenigstens noch gut, daß nicht viel Quälerei dabei ist, wenn der Kopf abfliegt«, bemerkte er.

»Wissen Sie was?« erwiderte der Fürst lebhaft. »Da sagen Sie das nun, und alle Leute sagen es ebenso wie Sie, und die Maschine, die Guillotine, ist ja auch zu diesem Zweck erfunden. Aber mir ging gleich damals ein gewisser Gedanke durch den Kopf: wie, wenn das sogar noch schlimmer wäre? Das scheint Ihnen lächerlich und seltsam; aber wenn man etwas Einbildungskraft besitzt, so kann einem wohl auch ein solcher Gedanke in den Kopf kommen. Überlegen Sie nur: nehmen wir zum Beispiel die Folter; dabei gibt es Schmerzen und Verwundungen, das heißt körperliche Qualen, und daher lenkt dies alles den Gefolterten von dem seelischen Leiden ab, so daß er nur von den Wunden Qualen empfindet bis zu dem Augenblick, wo er stirbt. Aber der ärgste, stärkste Schmerz wird vielleicht nicht durch Verwundungen hervorgerufen, sondern dadurch, daß man mit Sicherheit weiß: nach einer Stunde, dann: nach zehn Minuten, dann: nach einer halben Minute, dann: jetzt in diesem Augenblick wird die Seele aus dem Körper hinausfliegen, und man wird aufhören, ein Mensch zu sein, und daß das sicher ist; die Hauptsache ist, daß das sicher ist. Wenn man so den Kopf gerade unter das Messer legt und hört, wie es über dem Kopf herabgleitet, dann muß diese Viertelsekunde das Allerschrecklichste sein. Wissen Sie wohl, daß das nicht eine Phantasie von mir ist, sondern daß das schon viele gesagt haben? Ich glaube das so bestimmt, daß ich Ihnen gegenüber diese meine Ansicht offen ausspreche. Wenn man jemanden, der getötet hat, dafür tötet, so ist die Strafe unverhältnismäßig größer als das Verbrechen. Die Tötung auf Grund eines Urteilsspruches ist unverhältnismäßig schrecklicher als die von einem Räuber begangene. Derjenige, den Räuber töten, wird bei Nacht gemordet, im Walde, oder sonst auf irgendeine Weise; in jedem Falle hofft er noch bis zum letzten Augenblick auf Rettung. Es hat Beispiele gegeben, daß einem schon die Kehle durchgeschnitten war und er doch noch hoffte und entweder davonzulaufen suchte oder um sein Leben bat. Aber hier ist einem diese ganze letzte Hoffnung, mit der das Sterben zehnmal so leicht ist, mit Sicherheit genommen. Hier ist ein Urteilsspruch, und die ganze schreckliche Qual besteht in dem Bewußtsein, daß man mit Sicherheit dem Tode nicht entgehen kann, und eine schlimmere Qual als diese gibt es auf der Welt nicht. Man führe einen Soldaten in der Schlacht einer Kanone gerade gegenüber und stelle ihn dorthin und schieße auf ihn; er wird noch immer hoffen; aber man lese diesem selben Soldaten das Urteil vor, das ihn mit Sicherheit dem Tode weiht, und er wird den Verstand verlieren oder zu weinen anfangen. Wer kann denn glauben, daß die menschliche Natur imstande sei, dies zu ertragen, ohne in Irrsinn zu geraten? Wozu eine solche gräßliche, unnütze, zwecklose Marter? Vielleicht gibt es auch einen Menschen, dem man das Todesurteil vorgelesen hat, den man sich hat quälen lassen, und zu dem man dann gesagt hat: †ºGeh hin; du bist begnadigt!†¹ Ein solcher Mensch könnte vielleicht erzählen. Von dieser Qual und von diesem Schrecken hat auch Christus gesprochen. Nein, so darf man mit einem Menschen nicht verfahren!« […]

65 Prozent der Amerikaner befürworten nach einer Gallup-Umfrage vom vergangenen Oktober die Todesstrafe. Seit 2002 ist dieser Wert nahezu konstant geblieben. Die Zahl der Gegner ist seit damals von 26 auf 31 Prozent leicht gestiegen. 1936 war die Zahl der Todesstrafenbefürworter mit 59 Prozent noch geringer. Mit 80 Prozent erreichte sie 1994 einen Spitzenwert. Und obwohl 59 Prozent glauben, dass in den letzten fünf Jahren mindestens einmal ein Unschuldiger hingerichtet wurde, ist jeder Zweite (49 Prozent) der Ansicht, es gebe zu wenige Exekutionen. 2009 wurden in den USA 52 Menschen hingerichtet (2008: 37).

Quellen: Projekt Gutenberg, Welt Online

Radischs Lesetipp: Drei starke Frauen von Marie NDiaye

Radischs Lesetipp: Drei starke Frauen von Marie NDiaye

Von der Zerrissenheit zwischen Afrika und Europa erzählt die französische Autorin Marie NDiaye

Der Roman der französischen Autorin Marie NDiaye „Drei starke Frauen“ ist das Buch, das Iris Radisch in diesem Frühjahr am stärksten beeindruckt hat, sagt die Literaturkritikerin in ihrem aktuellen Video auf Zeit Online. Die Französin Marie NDiaye ist eine ganz besondere Autorin mit einer ungewöhnlichen Lebensgeschichte. Ihr Vater kommt aus dem Senegal und hat die Familie verlassen, als sie erst ein Jahr alt. Schon immer wollte Marie NDiaye Schriftstellerin werden. Bereits ihr erstes Buch, das sie im Alter von 17 Jahren schrieb, ist sofort in den berühmten Éditions de Minuit in Frankreich angenommen worden. Inzwischen ist Marie NDiaye 43 Jahre alt und gondelt mit ihrer Familie, sie hat drei Kinder, durch die Welt, lebt mal in der Karibik, mal in der Normandie. Seit drei Jahren lebt sie in Berlin.

Die Wahl-Berlinerin erhielt in 2009 den renommierten französischen Literaturpreis Prix Goncourt für †œTrois femmes puissantes†, der am 21.06.2010 im Suhrkamp Verlag in der deutschen Übersetzung unter dem Titel Drei starke Frauen erscheint. Der preisgekrönte Roman beschreibt die Lebensgeschichte dreier Frauen im Spannungsfeld zwischen Afrika und Frankreich, deren Schicksale von Familiengeheimnissen, Demütigungen und Verrat geprägt sind.

Laut Iris Radisch hat der neue Roman von Marie NDiaye die Qualität ihrer früheren Bücher. Er ist von großer magischer Rätselhafigkeit. Die Autorin interessiert sich immer für die Nachtseite der Vernunft, sie interessiert sich dafür, was passiert, wenn Leben aus den Angeln brechen, wenn sie den Boden unter den Füßen verlieren. Hier ist diese Rätselhaftigkeit nicht mehr ganz so vage wie es in ihren früheren Romanen manchmal war. Sie kehrt darin das erste Mal literarisch in die Heimat ihres Vaters zurück. In den drei Geschichten, die einen Roman ergeben und jeweils in Afrika spielen, oder mit dem afrikanischen Kontinent verbunden sind, geht es über Gewalt, Brutalität, über das Auseinanderbrechen von Familien, über unheimliche Eltern-Kind-Beziehungen, Mann-Frau-Beziehungen. Dahinter ist jeweils diese nicht zu rettende Zerrissenheit zwischen Afrika und Europa das große Thema.

Das ganz Besondere an diesem Roman, so Radisch, ist der unvergleichbare literarische Stil. Sie sieht in der deutschen Gegenwartsliteratur nichts, was sie diesem Stil an die Seite stellen könnte; in seiner Raffinesse, in seiner Leichtigkeit, aber auch in seiner Akkuratesse.

NDiaye schafft es, in einem einzigen Satz, mehrere Schichten der Wirklichkeit klar einzufangen und vermittelt die Wichtigkeit, dass die drei starken Frauen, um deren Geschichte es hier geht, jeweils ihre Würde bewahren. NDiaye sagt, die größte Herausforderung in der Literatur ist lange nicht mehr das Böse, das war einmal, das ist die alte Zeit, es ist inzwischen das Gute. Ihr geht es darum, dass Menschen, egal durch welche Tragödie sie gehen, daran nicht zerbrechen, sondern ihre Würde das ist, was am Ende übrig bleibt. Ein starker Roman von Marie NDiaye.

Quelle: Radischs Lesetipp auf Zeit Online Quelle Foto: Flickr †“ Michael Ferrier, Tokyo

Anmeldung: Literarisches Schreiben an der Volkshochschule München

4. Jahreslehrgang Literarisches Schreiben an der Volkshochschule München

Der Jahreslehrgang bietet die Möglichkeit, sich über einen längeren Zeitraum intensiv mit dem Schreiben in Theorie und Praxis zu beschäftigen und in Zusammenarbeit mit erfahrenen Autoren in Seminaren und Tutorien ein literarisches Projekt vorwärts zu bringen. Bewerben können sich alle, die Ideen oder Vorstellungen zu einem noch ungeschriebenen Buch haben. Vorkenntnisse sind hilfreich, aber nicht Voraussetzung.

Bewerbungsunterlagen:
Eine literarische Textprobe von max. 2 Seiten (1800 Zeichen pro Seite), Kurzbiografie inkl. einer Begründung Ihres Interesses (max. eine Seite).

Diese Unterlagen schicken Sie bitte bis zum 15. Juni 2010 an die
Münchner Volkshochschule
Fachgebiet Wort & Text †“ Schreibwerkstätten
Postfach 80 11 64
81611 München

Anmeldung und Information:
Fachgebiet Wort & Text †“ Schreibwerkstätten
Tel.: (0 89) 44 47 80-30/31
E-Mail: elisabeth.herrmann-brandt@mvhs.de
Jahresgebühr: EUR 790.- (keine Ermäßigung)

Quelle: literatur-muenchen.de

Island im Wandel: Kristín Steinsdóttir „Eigene Wege“

Menschen wie wir

Siegtrud K. Ólafsdóttir, auf der Suche nach den eigenen Wurzeln, in Kristín Steinsdóttir „Eigene Wege“

Rebelliert hat Siegtrud ihr Leben lang nicht, obwohl sie allen Grund dazu gehabt hätte.
Kaum auf der Welt verliert sie ihre Mutter, wächst als Ziehtochter bei der alten Hofherrin Hallfridur in Hafnir auf, die sich liebevoll um sie kümmert.

Ihre linke Hand ist verkrüppelt. Die Finger sind nicht ausgeprägt, dazwischen liegen Schwimmhäute, flossenähnlich. Ihr Haar ist rot, im Gesicht hat sie Sommersprossen. Schon rein äußerlich passt sie nicht in die Welt Islands, als sie 1938 das Licht der Welt erblickt, passenderweise „in jenem Frühjahr als Hitler Österreich ins dritte Reich eingliederte†œ (S.14).

Eingegliedert hat sich Siegtrud trotzdem – als Schülerin, als Arbeiterin auf dem Hof, als Arbeiterin in einer Fischfabrik. Klaglos, trotz der Hänseleien über ihr Aussehen, das Naheliegende nutzend, sich anpassend ohne eine eigene Spur zu hinterlassen. Hilfreich ist dabei die Phantasie, die sich an den Gegenständen entzündet, die ihr die Mutter Petrina in einem Schrankkoffer hinterlassen hat: ein Bild des Großvaters, der geerbte Seidenschal, die Mundharmonika, ein Fotoalbum mit der Aufschrift „La France†œ.

Da sie keine Verwandten hat, die ihr den Bezug erklären könnten, denkt sie sich im Geiste die passenden Geschichten aus, setzt sich in den Koffer und „flog davon†œ (S. 24).
In ihren Geschichten lebt die Mutter noch, bekleidet mit der isländischen Tracht und der Troddelkappe, direkt unter dem Eiffelturm in Paris. Der Vater ist Kapitän auf dem größten Lastkahn und spielt Mundharmonika. Siegtrud „das einzige Kind in ganz Frankreich†œ (S.25) fühlt sich in dieser Scheinwelt geborgen und geliebt. Ihren richtigen Vater kennt sie nicht. Auf einen Brief erhält sie keine Antwort, als der Vater nach langen Jahren des Schweigens den Kontakt sucht, stirbt er, bevor sie ihn besuchen kann.

Als sie ihren Mann Tómas kennenlernt, versucht sie es auch ihm recht zu machen. Von Liebe ist nicht die Rede, aber „natürlich hatte sie Tomás gern gehabt. Er war rechtschaffen und zuverlässig, wusste was für sie beide am besten war, und regelte alles einwandfrei†œ (S.58).

Nach seinem Tod kann sie ein Leben führen, das ihren Interessen entspricht. Sie ist erfüllt von einem „Freiheitsgefühl†œ (S.58), trennt sich von ungeliebten Gewohnheiten, kann den Quark pur essen, und geerbtem Mobiliar. Langjährige Freunde hat sie nicht, also sucht sie sich Situationen aus, in denen sie mit Menschen unverbindlich Umgang hat: auf Beerdigungen, Vernissagen, Wohnungsbesichtigungen in Reykjavik. Wenn es nötig ist und ihr die Menschen zu nahe kommen, gibt sie sich eine andere Identität, erzählt „die Familie warte zu Hause auf sie. Die Urenkel seien nachmittags oft bei ihr, und die Enkel schneiten auch häufig herein (S.33)

Und wirklich allein ist sie sowieso nicht: die Personen aus ihrer Vergangenheit – die Großmutter, Mutter, Ziehmutter begleiten sie und tauchen in bestimmten Situationen auf. Das verstärkt sich, als sie ihrer Vergangenheit mehr Raum gibt und den Deckel zu dem Koffer hebt, der noch von ihrem Großvater stammen soll. „Es öffneten sich Pforten, und atemlos traf sie alte Bekannte…schloss sie die Augen und ging mit ihren imaginären Verwandten auf die Reise.†œ Diese Vergangenheit bereichert ihr Leben. Wie in einem Puzzle setzt sie aus all den verschiedenen Vorfahren ihre eigene Identität zusammen und recherchiert in öffentlichen Datenbanken und alten Zeitungen. Am Schluß fehlt noch ein Mosaiksteinchen. Um nach ihren französischen Wurzeln zu suchen, lernt sie die Sprache des Großvaters und bucht mutig eine Gruppenreise. Im Bus sitzt sie nicht alleine, neben ihr nimmt eine dunkelhaarige Frau mit langen Zöpfen Platz (S.126). Wunschbild und Realität treffen zum letzten Mal aufeinander, „als sie wieder aufschaute, war die Frau verschwunden†œ (S.127).

Sie hat ihre Wurzeln gefunden und es ist Siegtrud zu wünschen, dass sie auf ihrem eigenen Weg auch sich selbst entdecken wird. Denn mit dem Wissen um ihre Herkunft, kann sie beruhigt den Fuß in die Zukunft setzen, sie wird wie es eingangs programmatisch in der Liedzeile heißt „auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann (S.7).

Kurzbeschreibung
Siegtrud ist Witwe geworden, lebt allein in Reykjavík von sehr wenig Geld und staunt, was man alles in dieser schönen Stadt erleben kann, auch wenn man gar nichts ausgibt. Sie trägt Zeitungen aus und bekommt das ‚Morgenblatt‘ daher umsonst, ist über alles informiert und muss an manchen Tagen sogar eine Prioritätenliste aufstellen. Da gibt es die Beerdigungen, zu denen sie gerne geht, um mitzusingen und sich beim anschließenden Leichenschmaus zu verköstigen, Wohnungsbesichtigungen, bei denen es Kaffee und Vernissagen, bei denen es Champagner gibt. Sie ist genügsam, mit dem Alleinsein vertraut und weiß das Leben mit allen Sinnen zu genießen. Aber da ist noch mehr: Ein Koffer mit Erinnerungsstücken ihrer Mutter, darin ein französischer Seidenschal, ein Bildband von Frankreich und ein Foto ihres exotisch wirkenden Großvaters Magnús, der Franzose gewesen sein soll. Schon als Kind hatte sich Siegtrud in den Koffer gesetzt und war in ihren Tagträumen in dieses geheimnisvolle Frankreich gereist. Eines Tages macht sie sich auf, in Archiven nach ihrer Lebensgeschichte und Herkunft zu suchen, lernt sogar Französisch, allerdings mit unnachahmlichem isländischem Akzent. Und am Ende trifft sie eine Entscheidung, packt den alten Koffer wirklich und macht sich auf den Weg nach Paris.

Auf anrührende und ganz und gar unsentimentale Weise erzählt Kristín Steinsdóttir in diesem poetischen kleinen Roman eine Lebensgeschichte, die zugleich den Weg Islands von einer Bauernnation zu einer modernen Gesellschaft illustriert. ‚Eigene Wege‘ ist eine Eloge auf die Zufriedenheit, die Phantasie und den Mut.

Über die Autorin
Kristín Steinsdóttir, 1946 geboren, lebt in Reykjavík und arbeitete zunächst als Grundschul- und Gymnasiallehrerin. Seit 1988 arbeitet sie als Schriftstellerin und ist eine der meistgelesenen, preisgekrönten Kinderbuchautorinnen Islands.

Über die Übersetzerin
Tina Flecken, geboren 1968 in Köln. Nach mehrjähriger Tätigkeit als Verlagslektorin arbeitet sie seit 2005 als freie Übersetzerin.

Die gebunden Ausgabe von „Eigene Wege“ von Kristin Steinsdottir umfasst 126 Seiten, ist im Juli 2009 im C.H. Beck Verlag erschienen und für 14,90 Euro im Buchhandel erhältlich.

Der Lesekreis bedankt sich bei Mamalinde für die anschaulichen Einblicke in das Leben der Protagonistin in „Eigene Wege“ und beim Verlag C.H. Beck für die freundliche Überlassung des Rezensionsexemplars.