Little Brother von Cory Doctorow: Kapitel 8

Little Brother

Kapitel 8

Dieses Kapitel ist Borders gewidmet, dem globalen Buchhandelsriesen, den man in Städten rund um die Welt finden kann †“ ich werde nie vergessen, wie ich einmal in den gigantischen Borders-Laden auf der Orchard Road in Singapur spaziert bin und ein Regal voll mit meinen Romanen gefunden habe! Viele Jahre lang war der Borders in Londons Oxford Street Gastgeber für Pat Cadigans monatliche Science-Fiction-Abende, bei denen ansässige und angereiste Autoren aus ihren Werken lasen, über Science Fiction sprachen und ihre Fans trafen. Wenn ich in einer fremden Stadt bin †“ und das passiert häufig †“ dann ist eigentlich immer ein Borders mit großartiger Auswahl in der Nähe.; aber ganz besonders schätze ich den Borders auf dem Union Square in San Francisco.

Borders weltweit:

http://www.bordersstores.com/locator/locator.jsp

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Ich war nicht der Einzige, der den Histogrammen zum Opfer fiel. Jede Menge Leute haben unnormale Bewegungs- und Nutzungsmuster. Unnormal ist so verbreitet, dass es praktisch schon wieder normal ist.

Das Xnet war voll von solchen Geschichten, ebenso die Zeitungen und die Fernsehnachrichten. Ehemänner wurden dabei erwischt, ihre Frauen zu betrügen; Ehefrauen wurden dabei erwischt, ihre Männer zu betrügen; und Kinder wurden mit heimlichen Freunden oder Freundinnen erwischt. Ein Junge, der seinen Eltern nichts von seiner AIDS-Erkrankung gesagt hatte, wurde dabei erwischt, in die Klinik zu fahren, wo er seine Medikamente bekam.

Das also waren die Leute, die was zu verbergen hatten †“ nicht schuldige Menschen, sondern Menschen mit Geheimnissen. Und noch viel mehr Leute hatten überhaupt nichts zu verbergen, sondern bloß was dagegen, abgegriffen und verhört zu werden. Stell dir einfach mal vor, du wirst auf dem Rücksitz eines Polizeiautos festgehalten und hast zu beweisen, dass du kein Terrorist bist.

Und es war nicht bloß der öffentliche Nahverkehr. Die meisten Autofahrer in der Bay Area haben einen FasTrak-Pass an der Sonnenblende hängen. Das ist so ne kleine Funk-†Brieftasche†, die deine Maut bezahlt, wenn du eine Brücke passierst, und dir so das lästige stundenlange Warten in der Schlange vor den Mauthäuschen erspart. Erst hatten sie die Gebühren fürs Barzahlen an den Brücken verdreifacht (was sie aber immer abstritten und behaupteten, FasTrak sei billiger, nicht etwa anonyme Barzahlung teurer). Und was dann noch an Barzahlern übrig blieb, verschwand, als sie die Barzahler-Spuren auf eine pro Brückenkopf eindampften, wodurch die Warteschlangen noch länger wurden.

Egal also, ob du hier wohnst oder bloß einen Mietwagen einer örtlichen Agentur fährst †“ du hast immer einen FasTrak. Aber wie sich rausstellte, sind Mauthäuschen nicht der einzige Ort, an dem dein FasTrak gelesen wird. Das DHS hatte FasTrak-Leser in der ganzen Stadt installiert †“ wenn du dran vorbeifuhrst, zeichneten sie die Zeit und deine ID-Nummer auf und trugen so ein immer perfekteres Bild dessen zusammen, wer wann wohin fuhr, das in einer Datenbank landete, die zusätzlich von Ampelblitzern und Tempoüberwachungsanlagen gespeist wurde und von all den anderen Nummernschild-Erkennungskameras, die hier wie Pilze aus dem Boden schossen.

Bisher hatte niemand groß darüber nachgedacht. Aber jetzt, da die Leute anfingen, darauf zu achten, bemerkten wir alle irgendwelche Kleinigkeiten, wie etwa den Umstand, dass der FasTrak keinen Ausschalter hat.

Wenn du also Auto fuhrst, konntest du jederzeit von einer SFPD-Kutsche rausgewunken werden, und die fragten dich dann, warum du in letzter Zeit so häufig bei Home Depot warst oder wozu dieser mitternächtliche Trip nach Sonoma letzte Woche gut war.

Die kleinen Wochenend-Demonstrationen überall in der Stadt wurden größer. Nach einer Woche dieser Überwachungsmaßnahmen marschierten fünfzigtausend Menschen über Market Street. Mir wars egal: Den Leuten, die meine Stadt eingenommen hatten, wars ja auch egal, was die Bürger wollten. Sie waren eine Besatzerarmee. Und sie wussten, wie wir darüber dachten.

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Eines Morgens kam ich grade rechtzeitig zum Frühstück runter, um zu hören, wie Dad Mom erzählte, dass die zwei größten Taxiunternehmen eine †œErmäßigung† für Leute einführten, die spezielle Karten zum Bezahlen der Fahrt verwendeten, angeblich im Sicherheitsinteresse der Fahrer, die dann nicht mehr so viel Bargeld bei sich hatten. Ich fragte mich, was wohl mit den Informationen passierte, wer mit welchem Taxi wohin fuhr.

Ich merkte, wie knapp es geworden war. Der neue indienet-Client war als automatisches Update verteilt worden, als die ganze Sache grade anfing, richtig übel zu werden, und Jolu erzählte, dass jetzt 80 Prozent des Datenverkehrs bei Pigspleen verschlüsselt war. Das Xnet dürfte im letzten Moment gerettet worden sein.

Aber Dad machte mich langsam wahnsinnig.

†œDu bist ja paranoid, Marcus†, sagte er einmal beim Frühstück, als ich ihm davon erzählte, wie ich am Tag zuvor gesehen hatte, wie Polizisten ein paar Leute aus der BART pflückten.

†œDad, das ist doch lächerlich. Die fangen überhaupt keine Terroristen, oder etwa doch? Das alles jagt den Leuten bloß Angst ein.†

†œVielleicht haben sie noch keine Terroristen geschnappt, aber sie kriegen auf jeden Fall eine Menge Gesindel von den Straßen. Denk mal an die Drogenhändler †“ angeblich haben sie Dutzende eingesperrt, seit das alles angefangen hat. Weißt du noch, wie diese Junkies dich ausgeraubt haben? Wenn wir ihre Dealer nicht schnappen, wird das immer noch schlimmer.†

Im Jahr zuvor war ich beraubt worden, allerdings noch ziemlich zivilisiert. Ein hagerer Typ mit strengem Geruch sagte mir, er habe eine Knarre, der andere verlangte meine Brieftasche. Sie ließen mir sogar meinen Ausweis, behielten allerdings meine Kreditkarte und den Fast Pass. Ich hatte trotzdem fürchterlich Angst gehabt und noch wochenlang paranoid über meine Schulter geguckt.

†œAber die meisten Leute, die sie festhalten, haben doch überhaupt nichts Falsches gemacht, Dad†, sagte ich. Das ging mir an die Nieren. Mein eigener Vater! †œDas ist doch verrückt. Auf jede schuldige Person, die sie schnappen, müssen sie Tausende Unschuldige bestrafen. Das ist einfach nicht in Ordnung.†

†œUnschuldig? Typen, die ihre Frau betrügen? Drogendealer? Die verteidigst du, aber was ist mit all den Leuten, die gestorben sind? Wenn du nichts zu verbergen hast…†

†œAlso dich würde es nicht stören, wenn sie dich anhalten?† Die Histogramme meines Vaters waren bislang deprimierend normal.

†œIch würde es als meine Pflicht betrachten†, sagte er. †œIch wäre stolz. Und ich würde mich sicherer fühlen.† Der hatte gut reden.

Vanessa mochte es nicht, wenn ich über diese Sachen sprach, aber sie war zu klug diesbezüglich, als dass ich das Thema lange vermeiden konnte. Wir trafen uns ständig, redeten übers Wetter, die Schule und so Zeug, und dann kam ich irgendwie auf dieses Thema zurück. Vanessa blieb dann cool †“ noch einmal rastete sie nicht mehr aus -, aber ich merkte, dass es sie aufregte.

Trotzdem.

†œUnd dann sagt mein Vater, ,ich würde es als meine Pflicht betrachten†™. Kannst du dir das vorstellen? Ich mein, hallo? Ich hab ihm in dem Moment fast davon erzählt, wie ich im Knast war und ob er meint, dass das auch unsere Pflicht†™ wäre.†

Wir saßen nach der Schule in Dolores Park im Gras und sahen den Hunden dabei zu, Frisbees zu fangen.

Van war zu Hause reingesprungen und hatte sich umgezogen †“ sie trug jetzt ein altes T-Shirt einer ihrer brasilianischen Lieblings-Techno-Brega-Bands, Carioca Proibidão, †œder verbotene Typ aus Rio†.

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Das T-Shirt hatte sie bei einer Live-Show gekauft, wo wir alle vor zwei Jahren waren, ein heimlicher Ausflug zu einem großen Abenteuer im Cow Palace; und seither war sie ein, zwei Zoll gewachsen, deshalb saß es knapp überm Bauch und erlaubte Blicke auf ihren flachen kleinen Nabel.

Sie lag zurückgelehnt in der Sonne, die Augen hinter den Brillengläsern geschlossen, und wackelte in ihren Flip-Flops mit den Zehen. Ich kannte Van schon ewig, und wenn ich an sie dachte, sah ich gewöhnlich das kleine Mädchen mit Hunderten klirrender Armreifen aus aufgeschlitzten Limo-Dosen, das Klavier spielte und ums Verrecken nicht tanzen konnte. Als sie heute in Dolores Park saß, sah ich sie plötzlich so, wie sie war.

Sie war total h31ß †“ im Klartext: heiß. Es war so, wie wenn man diese Vase anguckt und plötzlich merkt, dass das ja auch zwei Gesichter sind. Ich sah zwar, dass Van ja eigentlich nur Van war, aber ich konnte jetzt auch sehen, dass sie ne echte Schönheit war, und das war mir bisher noch nie aufgefallen.

Okay, Darryl hatte das die ganze Zeit schon gewusst, und glaubt mal nicht, dass ich nicht enttäuscht war, das jetzt zu begreifen.

†œDeinem Dad kannst dus nicht erzählen, ist ja klar†, sagte sie. †œDu würdest uns alle in Gefahr bringen.† Ihre Augen waren geschlossen, und ihre Brust hob und senkte sich im Takt ihres Atems, was mich doch ziemlich aus dem Konzept brachte.

†œJa†, sagte ich düster, †œdas Problem ist bloß: Ich weiß, dass er totalen Blödsinn redet. Wenn du meinen Dad rauswinkst und von ihm Beweise verlangst, dass er kein kinderschändender, drogendealender Terrorist ist †“ der würde amoklaufen. Er hasst es schon, in der Warteschleife zu hängen, wenn er wegen seiner Kreditkartenabrechnung telefoniert. Sperr ihn eine Stunde auf einem Autorücksitz ein und verhör ihn, dann kriegt der nen Infarkt.†

†œDie kommen ja bloß damit durch, weil die Normalen sich für was Besseres halten als die Unnormalen. Wenn sie jeden rauswinken würden, das wär eine Katastrophe. Niemand würde mehr irgendwo hinkommen, alle würden bloß noch drauf warten, von den Bullen verhört zu werden. Der totale Stau.†

Wow.

†œVan, du bist echt genial†, sagte ich.

†œErzähl mir mehr davon†, antwortete sie. Sie lächelte abwesend und blickte mich durch halb geschlossene Augen an, dass es fast schon romantisch war.

†œEhrlich. Wir können das schaffen. Wir können die Profile ganz einfach durcheinanderbringen. Leute rauswinken zu lassen ist kein Problem.†

Sie setzte sich auf, wischte ihr Haar aus dem Gesicht und sah mich an. Ich spürte einen kleinen Hüpfer im Bauch, weil ich dachte, sie sei schwer beeindruckt von mir.

†œWir brauchen bloß RFID-Kloner†, sagte ich. †œUnd das ist total einfach. Wir müssen bloß die Firmware auf einen Zehn-Dollar-Leser von Radio Shack flashen. Dann laufen wir rum und vertauschen wahllos die Marker irgendwelcher Leute und überschreiben ihre Fast Passes und FasTraks mit den Codes von anderen Leuten. Dann sieht jeder plötzlich ziemlich merkwürdig aus, und ziemlich kriminell. Und schwupp: der totale Stau!†

Van verzog die Lippen und setzte die Sonnenbrille wieder auf; ich merkte, dass sie so wütend war, dass sie kein Wort rausbrachte.

†œMachs gut, Marcus†, sagte sie und stand auf. Ehe ich mich versah, ging sie davon †“ so schnell, dass sie fast rannte.

†œVan†, rief ich, sprang auf und stürzte hinter ihr her. †œVan! Warte doch!† Sie legte noch einen Zahn zu, und ich musste rennen, um ihr zu folgen.

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†œVan, was zum Teufel soll das?†, sagte ich und schnappte sie am Arm. Sie riss ihn so heftig weg, dass ich mir selbst ins Gesicht schlug.

†œDu bist völlig durchgeknallt, Marcus. Du bringst all deine kleinen Xnet-Kumpel in Lebensgefahr, und außerdem willst du die ganze Stadt in Terrorverdächtige verwandeln. Kannst du nicht aufhören, bevor du den Leuten wehtust?†

Ich machte den Mund ein paarmal auf und zu. †œVan, ich bin nicht das Problem, die sind es. Ich verhafte schließlich keine Leute, steck sie in den Knast und lass sie verschwinden. Die Heimatschutzbehörde, die tut das. Und ich kämpfe dagegen, um sie aufzuhalten.†

†œAber wie, wenn dus doch nur schlimmer machst?†

†œVielleicht muss es ja erst schlimmer werden, bevor es besser wird, Van. Wars nicht das, was du meintest? Wenn jetzt jeder rausgewunken würde …†

†œDas hab ich aber nicht gemeint. Ich hab nicht gemeint, dass du dafür sorgen sollst, dass sie jeden verhaften. Wenn du protestieren willst, dann geh doch zur Protestbewegung. Mach irgendwas Positives. Hast du denn überhaupt nichts von Darryl gelernt? Gar nichts?†

†œDu hast verdammt Recht†, sagte ich, schon halb aus der Fassung. †œIch hab gelernt, dass man denen nicht trauen kann. Dass jeder ihnen hilft, der sie nicht bekämft. Und dass sie das Land in einen Knast verwandeln, wenn wir sie nur lassen. Und was hast du gelernt, Van? Immer nur ängstlich zu sein, stillzusitzen und den Mund zu halten und zu hoffen, dass dich keiner bemerkt? Glaubst du, das wird noch mal besser? Wenn wir nichts unternehmen, dann ist das das Beste, was wir noch zu erwarten haben. Dann wirds in Zukunft immer nur noch schlimmer werden. Willst du Darryl helfen? Dann hilf mir, die zu stoppen!†

Da war er wieder, mein Schwur. Nicht Darryl zu befreien, sondern das gesamte DHS in die Knie zu zwingen. Dass das Wahnsinn war, wusste ich selbst nur zu gut. Aber es war genau das, was ich zu tun gedachte, da gabs gar kein Vertun.

Van schubste mich mit beiden Händen grob von sich. Sie hatte mächtig Kraft vom Schulsport †“ Fechten, Lacrosse, Hockey, all diese Mädchenschul-Sportarten -, und ich landete mit dem Hintern auf dem grässlichen San Franciscoer Bürgersteig. Sie verschwand, und ich folgte ihr nicht.

> Der entscheidende Aspekt bei Sicherheitssystemen ist nicht, wie sie arbeiten, sondern wie sie versagen.

Das war die erste Zeile meines ersten Blog-Eintrags auf Open Revolt, meiner Xnet-Site. Ich schrieb als M1k3y, und ich war bereit, in den Krieg zu ziehen.

> Mag ja sein, all diese automatische Durchleuchtung ist wirklich dafür gedacht, Terroristen zu fangen. Und es mag sogar sein, sie fangen damit früher oder später tatsächlich einen Terroristen. Das Problem ist bloß, es fängt uns alle auch, obwohl wir überhaupt nichts Falsches tun.

> Je mehr Leute sie damit fangen, desto fragwürdiger wird das System. Wenn es zu viele Leute fängt, dann ist das sein Tod.

> Ist die Sache klar?

Dann kopierte ich meine Anleitung zum Bau eines RFID-Kloners rein, dazu ein paar Tips, wie man nah genug an Leute rankommt, um ihre Marker zu lesen und überschreiben zu können. Meinen eigenen Kloner steckte ich in die Tasche meiner Original-Motocross-Jacke aus schwarzem Leder mit den verstärkten Taschen und ging dann zur Schule. Zwischen daheim und Chavez High schaffte ich es, sechs Marker zu klonen.

Sie wollten Krieg. Sie würden Krieg bekommen.

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Wenn du jemals auf die Schnapsidee kommen solltest, einen automatischen Terrordetektor zu bauen, dann solltest du erst mal eine bestimmte Mathematik-Lektion lernen. Sie heißt †œParadoxon vom Falsch-Positiven†, und sie ist ein Prachtstück.

Nimm an, es gibt diese neue Krankheit, sagen wir, Super-AIDS. Nur einer von einer Million Menschen bekommt Super-AIDS. Du entwickelst einen Test, der eine Genauigkeit von 99 Prozent hat. Damit meine ich, er liefert in 99 Prozent der Fälle das korrekte Ergebnis: †œja†, wenn der Proband infiziert ist, und †œnein†, wenn er gesund ist. Dann testest du damit eine Million Leute.

Einer von einer Million Leuten hat Super-AIDS. Und einer von hundert Leuten, die du testest, wird ein †œfalsch-positives† Ergebnis generieren †“ der Test wird ergeben, dass der Proband Super-AIDS hat, obwohl er es in Wahrheit nicht hat. Das nämlich bedeutet †œ99 Prozent genau†: ein Prozent falsch.

Was ist ein Prozent von einer Million?

1.000.000/100 = 10.000

Einer von einer Million Menschen hat Super-AIDS. Wenn du wahllos eine Million Leute testest, wirst du wahrscheinlich einen echten Fall von Super-AIDS ausfindig machen. Aber dein Test wird nicht genau eine Person als Träger von Super-AIDS identifizieren. Sondern zehntausend Leute.

Dein zu 99 Prozent genauer Test arbeitet also mit einer Ungenauigkeit von 99,99 Prozent.

Das ist das Paradoxon vom Falsch-Positiven. Wenn du etwas wirklich Seltenes finden willst, dann muss die Genauigkeit deines Tests zu der Seltenheit dessen passen, was du suchst. Wenn du auf einen einzelnen Pixel auf deinem Bildschirm zeigen willst, dann ist ein spitzer Bleistift ein guter Zeiger: Die Spitze ist viel kleiner (viel genauer) als die Pixel. Aber die Bleistiftspitze taugt nichts, wenn du auf ein einzelnes Atom in deinem Bildschirm zeigen willst.

Dafür brauchst du einen Zeiger †“ einen Test -, der an der Spitze nur ein Atom groß oder kleiner ist.

Das ist das Paradoxon vom Falsch-Positiven, und mit Terrorismus hängt es wie folgt zusammen: Terroristen sind wirklich selten. In einer 20-Millionen-Stadt wie New York gibt es vielleicht einen oder zwei Terroristen. Vielleicht zehn, allerhöchstens. 10/20.000.000 = 0.00005 Prozent. Ein zwanzigtausendstel Prozent.

Das ist wirklich verdammt selten. Und jetzt denk dir eine Software, die alle Bankdaten, Mautdaten, Nahverkehrs-Daten oder Telefondaten der Stadt durchgrasen kann und mit 99-prozentiger Genauigkeit Terroristen erwischt.

In einer Masse von 20 Millionen Leuten wird ein 99 Prozent genauer Test zweihunderttausend Menschen als Terroristen identifizieren. Aber nur zehn davon sind wirklich Terroristen. Um zehn Schurken zu schnappen, muss man also zweihunderttausend Unschuldige rauspicken und unter die Lupe nehmen.

Jetzt kommts: Terrorismus-Tests sind nicht mal annähernd 99 Prozent genau. Eher so was wie 60 Prozent. Manchmal sogar nur 40 Prozent genau.

Und all das bedeutete, dass die Heimatschutzbehörde zum Scheitern verdammt war. Sie versuchte, unglaublich seltene Ereignisse †“ eine Person ist ein Terrorist †“ mit unpräzisen Systemen zu erkennen.

Kein Wunder, dass wir es schafften, so ein Chaos zu verbreiten.

Eines Dienstagmorgens, eine Woche nach Beginn der Operation Falsch-Positiv, kam ich pfeifend aus der Haustür. Ich hörte neue Musik, die ich in der Nacht zuvor aus dem Xnet geladen hatte †“ eine Menge Leute schickten M1k3y kleine digitale Geschenke, um sich dafür zu bedanken, dass er ihnen wieder Hoffnung gab.

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Ich bog auf die 23. Straße ein und nahm vorsichtig die paar schmalen Steinstufen in der Flanke des Hügels. Auf dem Weg runter kam ich an Herrn Dackel vorbei. Herrn Dackels richtigen Namen kenne ich nicht, aber ich sehe ihn fast täglich, wenn er seine drei schnaufenden Dackel die Treppe hoch zu dem kleinen Park führt. Es ist praktisch unmöglich, sich auf der Treppe an dieser Meute vorbeizuquetschen, und so verheddere ich mich regelmäßig in einer Leine, werde in einen Vorgarten abgedrängt oder bleibe an der Stoßstange eines der am Straßenrand parkenden Autos hängen.

Herr Dackel ist offensichtlich sehr wichtig, denn er hat eine schicke Uhr und trägt immer einen eleganten Anzug. Ich ging davon aus, dass er im Finanzdistrikt arbeitete.

Als ich heute an ihm entlangschubberte, löste ich meinen RFID-Kloner aus, der in der Tasche meiner Lederjacke bereit lag. Der Kloner saugte sich die Nummern seiner Kreditkarten, der Autoschlüssel, seines Passes und die der Hundert-Dollar-Noten in seiner Brieftasche.

Während das noch geschah, flashte ich ein paar davon mit neuen Nummern, die ich im Gedränge von anderen Leuten gesaugt hatte. Das war so, wie ein paar Nummernschilder auszutauschen, aber unsichtbar und in Echtzeit. Ich lächelte Herrn Dackel entschuldigend an und ging weiter die Treppe runter. Neben drei Autos blieb ich lange genug stehen, um ihre FasTrak-Nummern gegen die Nummern von Wagen zu tauschen, an denen ich am Tag zuvor vorbeigekommen war.

Man mag das für ziemlich rüpelig halten, aber im Vergleich mit vielen Xnettern war ich noch zurückhaltend und konservativ. Ein paar Mädels im Verfahrenstechnik-Programm an der UC Berkeley hatten ausgetüftelt, wie man aus Küchenartikeln eine harmlose Substanz erzeugt, die Sprengstoff-Sensoren anschlagen ließ. Sie hatten ihren Spaß dabei, das Zeug auf die Aktentaschen und Jacken ihrer Profs zu streuen, um sich dann zu verstecken und zu beobachten, wie diese Profs versuchten, Auditorien und Bibliotheken auf dem Campus zu betreten, nur um von den mittlerweile allgegenwärtigen Sicherheitsdiensten in die Mangel genommen zu werden.

Andere wollten ausprobieren, wie man Umschläge so mit Substanzen pudern könnte, dass sie positiv auf Anthrax getestet würden, aber alle anderen hielten das für bescheuert. Zum Glück hatten sies wohl auch nicht hingekriegt.

Ich kam am San Francisco General Hospital vorbei und nickte zufrieden, als ich die langen Schlangen am Haupteingang sah. Natürlich hatten sie dort auch einen Polizeiposten, und es arbeiteten da genügend Xnetter als Praktikanten, in der Caféteria und sonstwo, dass sie mittlerweile die Marken von allen Mitarbeitern wild durchgemischt hatten. Ich hatte gelesen, dass die Sicherheits-Checks für jeden die Arbeitszeit um eine Stunde pro Tag verlängerten, und die Gewerkschaften drohten mit Streik für den Fall, dass das Hospital nichts dagegen unternahm.

Ein paar Blöcke weiter sah ich eine noch längere Schlange am Zugang zur BART. Polizisten stapften die Schlange entlang und pickten Leute raus, um sie zu befragen, die Taschen zu durchsuchen und sie komplett zu filzen. Sie wurden zwar immer öfter deswegen verklagt, aber das schien sie nicht zu bremsen.

Ich war ein bisschen zu früh an der Schule und beschloss, noch mal zur 22. Straße zu gehen, um einen Kaffee zu trinken, und da kam ich an einem Polizeiposten vorbei, an dem sie Autos anhielten und penibel durchsuchten.

In der Schule wars nicht weniger bizarr †“ die Sicherheitsleute an den Metalldetektoren prüften auch unsere Schulausweise und griffen sich Schüler mit ungewöhnlichen Bewegungsprofilen zur Befragung raus. Natürlich hatten wir alle ungewöhnliche Bewegungsprofile. Und natürlich fing der Unterricht mindestens eine Stunde später an.

Und im Unterricht wars völlig verrückt. Ich glaub nicht, dass sich überhaupt jemand konzentrieren konnte. Ich hörte, wie zwei Lehrer drüber sprachen, wie lange sie am Tag zuvor für den Heimweg gebraucht hatten und dass sie heute heimlich früher loskommen wollten.

Ich konnte mich nur mit Mühe beherrschen, um nicht loszuplatzen. Das Paradoxon vom Falsch-Positiven hatte wieder zugeschlagen!

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Klar, dass sie uns früh aus dem Unterricht entließen; ich nahm den langen Weg nach Hause und stromerte durch Mission, um das Chaos zu begutachten. Endlose Autoschlangen. Anstehen vor BART-Stationen bis einmal um den Block rum. Leute, die Geldautomaten beschimpften, die kein Geld rausrückten, weil ihre Konten wegen ungewöhnlicher Aktivitäten eingefroren waren (das kommt dabei raus, wenn man sein Konto unmittelbar mit seinem FasTrak und FastPass koppelt!).

Ich kam heim, machte mir ein Sandwich und loggte mich ins Xnet ein. Es war ein guter Tag gewesen. Leute aus allen Ecken der Stadt bejubelten ihre Erfolge. Wir hatten die Stadt San Francisco zum Stillstand gebracht. Die Nachrichten bestätigten das †“ dort hieß es, das DHS sei übergeschnappt, und man machte die Pseudo-Sicherheitsmaßnahmen, die uns angeblich vor Terrorismus schützen sollten, für alles verantwortlich.

Der Wirtschaftsteil des San
Francisco Chronicle widmete die komplette Aufmacherseite einer Schätzung der volkswirtschaftlichen Kosten der DHS-Maßnahmen durch ausgefallene Arbeitsstunden, Besprechungen und so weiter. Laut dem Wirtschaftsexperten des Chronicle würde eine Woche dieses Blödsinns die Stadt mehr kosten als die Folgen der Sprengung der Bay Bridge.

Hahahahaha.

Und das Beste: Dad kam an diesem Abend später. Viel später. Drei Stunden später. Warum? Weil er rausgewunken, durchsucht und befragt worden war. Dann passierte das wieder. Zwei Mal.

Zwei Mal! – Fortsetzung Kapitel 9

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Hintergründe, Handlung und weitere Informationen zu Little Brother findet ihr unter: Jugendthriller: Little Brother von Cory Doctorow komplett im Netz

Hier handelt es sich um die deutsche Übersetzung von Christian Wöhrl

Little Brother ist unter einem Creative Commons Namensnennung-Keine kommerzielle Nutzung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenzvertrag lizenziert.

Das Original wurde unter: http://craphound.com/littlebrother veröffentlicht.

Little Brother von Cory Doctorow: Kapitel 7

Little Brother

Kapitel 7

Dieses Kapitel ist Books of Wonder in New York City gewidmet, der ältesten und größten Kinderbuchhandlung in Manhattan. Sie liegt nur ein paar Blöcke entfernt vom Büro von Tor Books im Flatiron Building, und jedes Mal, wenn ich dort bin, um mich mit den Leuten von Tor zu treffen, nehme ich mir die Zeit, bei Books of Wonder durch die neuen, gebrauchten und die seltenen Kinderbücher zu stöbern.

Ich bin leidenschaftlicher Sammler von Alice-im-Wunderland-Raritäten, und bei Books of Wonder finde ich garantiert immer eine aufregende, wunderschöne limitierte Alice-Ausgabe. Es gibt dort massig Veranstaltungen für Kinder, und die Atmosphäre ist so einladend, wie man sie selbst in einer Buchhandlung selten findet.

Books of Wonder:

http://www.booksofwonder.com/

18 West 18th St, New York, NY 1001 1 USA +1 212 989 3270

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Sie brachten mich raus und um die nächste Ecke zu einem ungekennzeichneten Polizeiwagen, der dort wartete.

Nicht dass irgendjemand in dieser Gegend Schwierigkeiten gehabt hätte, den Wagen als Bullenschleuder zu identifizieren. Nur die Polizei fährt heute noch riesige Crown Victorias, seit der Sprit bei sieben Dollar die Gallone liegt. Und außerdem konnten nur Bullen mitten auf Van Ness Street in der zweiten Reihe parken, ohne den Horden lauernder Abschleppunternehmen zum Opfer zu fallen, die hier ununterbrochen rumfuhren, allzeit bereit, San Franciscos unverständliche Parkregelungen umzusetzen und fürs Kidnappen deines Autos Lösegeld zu fordern.

Popel schneuzte. Ich saß auf der Rückbank, er auch. Sein Partner saß vorn und tippte mit einem Finger auf einem antiken, stoßfest ausgestatteten Laptop, der aussah, als ob er mal Fred Feuerstein gehört hatte.

Popel sah sich meinen Ausweis noch mal genau an. †œWir möchten dir lediglich ein paar Routinefragen stellen.†

†œKann ich mal Ihre Marken sehen?†, fragte ich. Die Typen waren eindeutig Bullen, aber es konnte nichts schaden, ihnen zu zeigen, dass ich meine Rechte kannte.

Popel hielt mir seine Marke so kurz hin, dass ich sie nicht genau sehen konnte, aber Pickel auf dem Fahrersitz ließ mich länger auf seine schauen. Ich las die Nummer ihrer Abteilung und merkte mir seine vierstellige Markennummer. Das war leicht: 1337 ist, wie Hacker †œleet†, also †œElite†, schreiben.

Sie waren beide sehr höflich, und keiner von ihnen versuchte mich so einzuschüchtern, wie das DHS es getan hatte, als ich in deren †œObhut† war.

†œBin ich verhaftet?†

†œDu wirst vorübergehend festgehalten, damit wir deine Sicherheit und die allgemeine öffentliche Sicherheit gewährleisten können†, sagte Popel.

Er reichte meinen Führerschein an Pickel weiter, der ihn langsam in den Computer tippte. Ich sah ihn einen Tippfehler machen und hätte ihn fast korrigiert, aber ich dachte mir, es sei vielleicht klüger, einfach den Mund zu halten.

†œGibt es irgendwas, das du mir erzählen möchtest, Marcus? Nennen sie dich Marc?†

†œMarcus ist schon recht†, sagte ich. Popel sah aus, als könne er ein netter Kerl sein. Mal abgesehen davon, dass er mich in seinen Wagen verschleppt hatte, natürlich.

†œMarcus. Irgendwas, das du mir erzählen möchtest?†

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†œWas denn? Bin ich verhaftet?†

†œIm Moment bist du nicht verhaftet†, sagte Popel. †œWärst du gern?†

†œNö†, sagte ich.

†œGut. Wir haben dich beobachtet, seit du aus der BART kommst. Dein Fast Pass sagt, dass zu zu den merkwürdigsten Zeiten zu den merkwürdigsten Orten gefahren bist.†

Mir fiel ein Stein vom Herzen. Es ging also gar nicht ums Xnet, nicht wirklich. Die hatten bloß meine U-Bahn-Nutzung überprüft und wollten nun wissen, warum sie in letzter Zeit so merkwürdig war. Völlig bescheuert.

†œAlso folgen Sie jedem, der mit einem merkwürdigen Nutzungsprofil aus der BART kommt? Na, da haben Sie gut zutun.†

†œNicht jedem, Marcus. Wir erhalten eine Warnung, wenn jemand mit einem ungewöhnlichen Fahrprofil rauskommt, und das hilft uns einzuschätzen, ob wir eine Ermittlung starten sollten. In deinem Fall kamen wir, weil wir wissen wollten, wie jemand wie du, der einen so vernünftigen Eindruck macht, zu so einem merkwürdigen Fahrprofil kommt.†

Da ich jetzt wusste, dass ich nicht in den Knast kam, wurde ich langsam sauer. Was hatten diese Typen hinter mir herzuschnüffeln? Und was hatte die BART ihnen dabei zu helfen? Warum zum Teufel musste meine U-Bahn-Fahrkarte mich wegen eines †œungewöhnlichen Fahrmusters† anpissen?

†œIch glaube, ich möchte jetzt verhaftet werden†, sagte ich.

Popel lehnte sich zurück und hob eine Augenbraue.

†œSoso? Unter welchem Verdacht?†

†œAch, ungewöhnliches U-Bahn-Fahren ist gar kein Verbrechen?†

Pickel schloss die Augen und rieb sie mit seinen Daumen.

Popel seufzte einen aufgesetzten Seufzer. †œHör mal, Marcus, wir sind auf deiner Seite. Wir verwenden dieses System, um die Bösen zu fangen. Terroristen und Drogenhändler. Vielleicht bist du ja ein Drogenhändler. Ziemlich gute Art und Weise, sich durch die Stadt zu bewegen, so ein Fast Pass. Anonym.†

†œWas ist denn so falsch an anonym? Für Thomas Jefferson wars gut genug. Bin ich jetzt übrigens verhaftet?†

†œBringen wir ihn heim†, sagte Pickel. †œWir können mit seinen Eltern sprechen.†

†œNa, das ist doch mal ne dufte Idee†, sagte ich. †œIch bin sicher, meine Eltern findens interessant zu erfahren, wo ihre Steuerdollars bleiben …†

Ich hatte mein Blatt überreizt. Popel hatte schon die Hand am Türgriff gehabt, aber jetzt stürzte er sich auf mich wie ein Berserker. †œWarum hältst du nicht einfach die Schnauze, solange du noch darfst? Nach allem, was in den letzten zwei Wochen passiert ist, würde es dir nicht schaden, mit uns zu kooperieren. Weißt du was, vielleicht sollten wir dich wirklich verhaften. Dann kannst du einen Tag oder zwei im Knast sitzen, während dein Anwalt nach dir sucht. Und in der Zeit kann eine Menge passieren. Eine Menge. Wie wäre das?†

Ich sagte gar nichts. Ich war albern und wütend gewesen. Jetzt hatte ich nur noch Schiss.

†œTut mir Leid†, sagte ich dann und hasste mich gleich wieder dafür.

Popel setzte sich nach vorn und Pickel setzte den Wagen in Gang. Wir fuhren die 24. Straße rauf und über Potrero Hill. Sie kannten meine Adresse von meinem Ausweis.

Mom kam an die Tür, als sie klingelten, und ließ die Kette noch eingehängt. Sie schaute durch den Spalt, sah mich und fragte: †œMarcus? Wer sind diese Leute?†

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†œPolizei†, sagte Popel. Er zeigte ihr seine Marke und gewährte ihr einen ausgiebigen Blick †“ nicht bloß so husch-husch, wie ers mit mir gemacht hatte. †œKönnen wir reinkommen?†

Mom schloss die Tür, um die Kette zu entriegeln, und ließ sie dann rein. Sie brachten mich in die Wohnung, und Mom betrachtete uns alle mit einem ihrer typischen Blicke.

†œWas hat das zu bedeuten?†

Popel zeigte auf mich. †œWir wollten ihrem Sohn ein paar Routinefragen über sein Bewegungsverhalten stellen, aber er hat sich geweigert, sie zu beantworten. Deshalb dachten wir, es sei am besten, ihn hierher zu bringen.†

†œIst er verhaftet?† Moms Akzent schlug heftig durch. Gute alte Mom.

†œSind Sie eine Bürgerin der Vereinigten Staaten?†, fragte Pickel.

Sie würdigte ihn eines Blicks, der Lack zum Abplatzen gebracht hätte. †œNa klar, und wie†, sagte sie dann in breitestem Südstaaten-Akzent. †œBin ich verhaftet?†

Die beiden Bullen tauschten Blicke.

Pickel ging in die Offensive. †œDas scheint ein bisschen unglücklich gelaufen zu sein. Ihr Sohn ist uns aufgefallen als jemand mit einem ungewöhnlichen Bewegungsprofil in öffentlichen Verkehrsmitteln. Das ist Teil eines neuen proaktiven Strafverfolgungsprogramms. Wenn wir Leute finden, die ungewöhnliche Fahrtmuster zeigen oder die auf ein verdächtiges Profil passen, dann ermitteln wir weiter.†

†œMoment†, sagte Mom. †œWoher wissen Sie denn, wie mein Sohn die öffentlichen Verkehrsmittel benutzt?†

†œDurch den Fast Pass†, sagte er. †œDer zeichnet die Fahrten auf.†

†œAch so†, sagte Mom und verschränkte die Arme. Das war ein ganz schlechtes Zeichen. Schlimm genug, dass sie ihnen keine Tasse Tee angeboten hatte †“ in Mom-Land war das ungefähr dasselbe, als hätte sie sich mit ihnen durch den Briefkastenschlitz unterhalten -, aber sobald sie die Arme verschränkte, war klar, dass die beiden nicht ungeschoren hier rauskommen würden. In diesem Moment hätte ich losgehen mögen, um ihr einen riesigen Blumenstrauß zu kaufen.

†œMarcus hier hat es abgelehnt, uns zu erklären, wie sein Fahrtenprofil zustande gekommen ist.†

†œSie sagen also, sie halten meinen Sohn wegen seiner Art, Bus zu fahren, für einen Terroristen?†

†œTerroristen sind nicht die einzigen Verbrecher, die wir auf diese Weise fangen†, sagte Pickel. †œDrogenhändler. Gang-Kids. Oder auch Ladendiebe, die clever genug sind, sich für jeden Beutezug ein anderes Revier zu suchen.†

†œSie denken also, mein Sohn sei ein Drogenhändler?†

†œWir sagen nicht, dass -†, fing Pickel an.

Mit einem Händeklatschen brachte Mom ihn zum Schweigen.

†œMarcus, gib mir bitte mal deinen Rucksack.†

Das tat ich.

Mom zippte ihn auf und schaute ihn durch, zunächst mit dem Rücken zu uns.

†œMeine Herren, ich kann Ihnen nun versichern, dass sich in der Tasche meines Sohnes weder Drogen noch Sprengstoffe oder gestohlene Waren befinden. Ich denke, damit wäre das erledigt. Bevor Sie gehen, darf ich noch um Ihre Personalnummern bitten.†

Popel lachte höhnisch. †œGute Frau, die ACLU hat gerade Klagen gegen dreihundert Polizisten der Stadt laufen; da werden Sie sich hinten anstellen müssen.†

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Mom machte mir einen Tee und schimpfte dann mit mir, weil ich schon gegessen hatte, obwohl ich wusste, dass sie Falafel gemacht hatte. Dad kam heim, während wir noch am Tisch saßen, und Mom und ich erzählten ihm abwechselnd die Geschichte. Er schüttelte den Kopf.

†œLillian, die haben doch nur ihren Job gemacht.† Er trug immer noch den blauen Blazer und die Khakis, die er an den Tagen trug, an denen er als Berater im Silicon Valley war. †œDie Welt ist nicht mehr dieselbe wie noch vor einer Woche.†

†œMom setzte ihren Teebecher ab. †œDrew, werd nicht albern. Dein Sohn ist kein Terrorist. Seine Fahrten im Nahverkehr können kein Grund für polizeiliche Ermittlungen sein.†

Dad zog seinen Blazer aus. †œIn meinem Job machen wir das ständig. So kann man Computer dazu einsetzen, alle Arten von Fehlern und Unregelmäßigkeiten zu entdecken. Du sagst dem Computer, er soll ein Profil eines durchschnittlichen Datenbankeintrags erstellen und dann rausfinden, welche Einträge in der Datenbank am stärksten vom Durchschnitt abweichen. Das gehört zur Bayesschen Statistik, und das gibt†™s schon seit Jahrhunderten. Ohne so was hätten wir keine Spamfilter -†

†œSoll das heißen, die Polizei sollte genauso schlecht arbeiten wie mein Spamfilter?†, fragte ich.

Dad wurde nie wütend, wenn ich mit ihm diskutierte, aber ich konnte sehen, dass er heute sehr kurz davor war. Trotzdem konnte ichs mir nicht verkneifen. Mein Vater stellte sich auf die Seite der Polizei!

†œIch sage nur, es ist völlig vernünftig, dass die Polizei ihre Untersuchungen damit anfängt, Daten durchzugrasen, und erst dann mit der Lauferei anfängt, wenn sie Abnormalitäten haben, um herauszufinden, wo die herkommen. Ich denke nicht, dass ein Computer der Polizei vorgeben sollte, wen sie verhaften soll, aber er kann ihnen dabei helfen, den Heuhaufen nach der Nadel zu durchflöhen.†

†œAber indem sie all diese Daten aus dem Verkehrssystem abgreifen, erzeugen sie doch überhaupt erst den Heuhaufen†, sagte ich. †œDas ist ein monströser Datenberg, und es ist aus Polizeisicht fast nichts drin, was eine Untersuchung lohnt. Das ist die totale Verschwendung.†

†œIch versteh ja, dass du das System nicht magst, weil es dir Unbequemlichkeiten verursacht hat, Marcus. Aber du zuallererst solltest den Ernst der Lage begreifen. Und es ist dir doch nichts passiert, oder doch? Sie haben dich doch sogar nach Hause gefahren.†

Sie haben gedroht, mich in den Knast zu stecken, dachte ich, aber mir war klar, dass es keinen Zweck hatte, das auszusprechen.

†œUnd übrigens hast du uns immer noch nicht erklärt, wo zum Teufel du eigentlich warst, um ein so ungewöhnliches Bewegungsmuster zu erzeugen.†

Das hatte mir grade noch gefehlt.

†œIch dachte, ihr hättet Vertrauen in mich und wolltet mir nicht hinterherschnüffeln.† Das hatte er oft genug gesagt.

†œWillst du wirklich, dass ich dir für jede einzelne Bahnfahrt meines Lebens Rechenschaft ablege?†

Sobald ich in mein Zimmer kam, stöpselte ich die Xbox ein. Ich hatte den Projektor an der Decke befestigt, um das Bild an die Wand über meinem Bett werfen zu können (dafür hatte ich meinen prächtigen Wandschmuck aus Punkrock-Handzetteln abnehmen müssen, die ich von Telefonmasten abgepult und auf große Blätter weißen Papiers geklebt hatte).

Ich schaltete die Xbox ein und sah ihr beim Hochfahren zu. Zuerst wollte ich Van und Jolu anmailen, um ihnen von meinem Ärger mit den Bullen zu berichten, aber als ich die Finger schon auf der Tastatur hatte, hielt ich inne.

Da war plötzlich so ein merkwürdiges Gefühl, ganz ähnlich wie das, als ich merkte, dass sie meinen guten alten Salmagundi in einen Verräter verwandelt hatten.

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Diesmal war es das Gefühl, dass mein geliebtes Xnet die Koordinaten jedes einzelnen seiner Nutzer ans DHS übertragen könnte.

Was hatte mein Vater gleich gesagt? †œDu sagst dem Computer, er soll ein Profil eines durchschnittlichen Datenbankeintrags erstellen und dann rausfinden, welche Einträge in der Datenbank am stärksten vom Durchschnitt abweichen.†

Das Xnet war sicher, weil seine Benutzer nicht direkt mit dem Internet verbunden waren. Sie hüpften von Xbox zu Xbox, bis sie eine fanden, die mit dem Internet verbunden war, und dann speisten sie ihr Material als unentzifferbare, verschlüsselte Daten ein. Niemand konnte unterscheiden, welche Internet-Datenpakete zum Xnet gehörten und welche ganz normale Bank-, Shopping- oder andere verschlüsselte Kommunikation war. Es war niemandem möglich, herauszufinden, wer das Xnet geknüpft hatte, geschweige denn, wer es benutzte.

Aber was war mit Dads †œBayesscher Statistik†? Mit Bayesscher Mathematik hatte ich schon mal rumgespielt. Darryl und ich hatten mal versucht, unseren eigenen, besseren Spamfilter zu schreiben, und wenn man Spam filtern will, braucht man Bayessche Mathe. Thomas Bayes war ein britischer Mathematiker des 18. Jahrhunderts, an den nach seinem Tod erst mal niemand mehr dachte, bis Computerwissenschaftler hundert Jahre später entdeckten, dass seine Methode, große Datenmengen statistisch zu analysieren, für die Informations-Gebirge der modernen Welt unglaublich nützlich sein könnten.

Ganz kurz was darüber, wie Bayessche Statistik funktioniert. Mal angenommen, du hast hier einen Haufen Spam. Dann nimmst du jedes Wort in jeder Mail und zählst, wie oft es vorkommt. Das nennt man ein †œWortfrequenz-Histogramm†, und es verrät dir die Wahrscheinlichkeit dafür, dass eine beliebige Ansammlung von Wörtern Spam ist. Dann nimmst du eine Tonne Mails, die kein Spam sind (Experten nennen das †œHam†), und machst mit denen das gleiche.

Jetzt wartest du auf eine neue E-Mail und zählst die Wörter, die darin vorkommen. Dann benutzt du das Wortfrequenz-Histogramm in der fraglichen Nachricht, um die Wahrscheinlichkeit zu berechnen, dass sie auf den †œSpam†- oder auf den †œHam†-Stapel gehört. Wenn sich herausstellt, dass sie tatsächlich Spam ist, passt du das †œSpam†-Histogramm entsprechend an. Es gibt massenhaft Möglichkeiten, diese Technik noch zu verfeinern †“ Worte paarweise betrachten, alte Daten wieder löschen -, aber im Prinzip funktionierts so. Es ist eine von diesen einfachen, großartigen Ideen, die völlig offensichtlich zu sein scheinen, sobald man das erste Mal davon hört.

Es gibt dafür ne Menge Anwendungen †“ man kann einen Computer anweisen, die Linien in einem Foto zu zählen und herauszufinden, ob es eher ein †œHunde†-Linienfrequenz-Histogramm ergibt oder eher ein †œKatzen†œ-Histogramm. Man kann damit Pornografie, Bankbetrügereien oder Flamewars erkennen. Gute Sache.

Zugleich wars eine schlechte Nachricht für das Xnet. Mal angenommen, du hast das gesamte Internet angezapft †“ und das DHS hat das natürlich. Dann kannst du zwar, Krypto sei Dank, nicht durch bloßes Anschauen von Daten rausfinden, wer Xnet-Daten versendet.

Aber was du rausfinden kannst, ist, wer viel, viel mehr verschlüsselten Datenverkehr erzeugt als alle anderen. Bei einem normalen Internet-Benutzer kommen in einer Online-Session vielleicht 95 Prozent Klartext und 5 Prozent Chiffretext zusammen. Wenn nun jemand zu 95 Prozent Chiffretext versendet, dann könnte man ja computererfahrene Kollegen von Popel und Pickel hinschicken, um nachzufragen, ob er vielleicht ein terroristischer drogendealender Xnet-Benutzer ist.

In China passiert genau das permanent. Irgendein cleverer Dissident kommt auf die Idee, die Große Chinesische Firewall, die die gesamte Internetanbindung des Landes zensiert, zu umgehen, indem er eine verschlüsselte Verbindung zu einem Computer in einem anderen Land herstellt.

Dann kann die Partei zwar nicht herausfinden, was er überträgt †“ vielleicht Pornos, vielleicht Bombenbauanleitungen, schmutzige Briefe von seiner Freundin auf den Philippinen, politische Materialien oder gute Nachrichten über Scientology. Aber was es ist, müssen sie auch nicht wissen.

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Es genügt, wenn sie wissen, dass dieser Typ viel mehr verschlüsselten Datenverkehr hat als seine Nachbarn. Und dann schicken sie ihn in ein Zwangsarbeitslager, bloß um ein Exempel zu statuieren, damit jeder sehen kann, was mit Klugscheißern passiert.

Für den Moment hätte ich wetten mögen, dass das DHS das Xnet noch nicht auf dem Radar hatte, aber das würde nicht ewig so bleiben. Und nach diesem Abend war ich mir nicht mehr sicher, ob ich wirklich noch besser dran war als ein chinesischer Dissident. Ich setzte alle Leute, die sich am Xnet anmeldeten, enormen Risiken aus. Vor dem Gesetz war es gleichgültig, ob du tatsächlich irgendwas Schlimmes tatest; sie würden dich schon unters Mikroskop legen, bloß weil du statistisch gesehen unnormal warst. Und ich konnte das Ganze nicht mal mehr stoppen †“ jetzt lief das Xnet, und es hatte ein Eigenleben entwickelt.

Ich musste die Sache irgendwie anders gradebiegen.

Wenn ich nur mit Jolu drüber reden könnte. Er arbeitete bei einem Internetanbieter namens Pigspleen Net, seit er zwölf Jahre alt war, und er wusste viel mehr übers Internet als ich. Wenn irgendjemand eine Ahnung hatte, wie wir unsern Hintern aus dem Knast draußenhalten konnten, dann er.

Zum Glück waren Van, Jolu und ich für den folgenden Abend nach der Schule zum Kaffee in unserem Lieblingsplatz in der Mission verabredet. Offiziell wars unser wöchentliches Harajuku-Fun-Madness-Teamtreffen, aber seit das Spiel abgebrochen und Darryl verschwunden war, wars hauptsächlich wöchentliches gemeinsames Flennen, ergänzt um rund ein halbes Dutzend Telefonate und Textnachrichten im Stil von †œBist du okay? Ist das wirklich passiert?† Es würde gut tun, mal über was anderes sprechen zu können.

†œDu spinnst ja komplett†, sagte Vanessa. †œBist du jetzt endgültig total übergeschnappt?† Sie war in ihrer Mädchenschul-Uniform gekommen, weil sie auf dem langen Weg nach Hause, ganz bis runter zur San Mateo Bridge und wieder rauf in die Stadt, mit dem Zubringerbus, den die Schule betrieb, im Verkehr steckengeblieben war. Sie hasste es, in der Öffentlichkeit in ihrer Schuluniform gesehen zu werden, weil die total Sailor Moon war: ein Faltenrock, Tunika und Kniestrümpfe. Sie war schon schlecht gelaunt, seit sie ins Café gekommen war, das voll war mit älteren, cooleren, zotteligen Emo-Kunststudenten, die in ihre Lattes grinsten, als sie zur Tür reinkam.

†œWas denkst denn du, was ich machen sollte, Van?†, fragte ich. Ich fing selbst langsam an, ärgerlich zu werden. In der Schule wars unerträglich, seit das Spiel nicht mehr lief und seit Darryl nicht mehr da war. Den ganzen Tag lang hatte ich mich im Unterricht damit getröstet, dass ich mein Team sehen würde oder besser gesagt das, was davon übrig war. Und jetzt hatten wir uns in der Wolle.

†œIch will, dass du aufhörst, solche Risiken einzugehen, M1k3y.† Meine Nackenhaare stellten sich auf. Okay, wir verwendeten bei Team-Treffen immer unsere Team-Nicks, aber jetzt, da mein Nick auch mit meinem Xnet-Profil zusammenhing, machte es mir Angst, ihn laut in der Öffentlichkeit zu hören.

†œSag den Namen nicht noch mal in der Öffentlichkeit†, platzte ich heraus.

Van schüttelte den Kopf. †œGenau das ist es, worüber ich rede. Du könntest dich im Knast wiederfinden, Marcus, und nicht bloß du. Eine Menge Leute. Nach dem, was mit Darryl passiert ist…†

†œIch tu das doch für Darryl!† Ein paar Kunststudenten drehten sich nach uns um, und ich dämpfte die Stimme wieder. †œIch mach das, weil die Alternative wäre, sie mit all dem ungeschoren davonkommen zu lassen.†

†œUnd du glaubst, du kannst sie aufhalten? Du bist wirklich übergeschnappt. Die sind die Regierung.†

†œAber es ist immer noch unser Land†, entgegnete ich. †œUnd wir haben immer noch das Recht, das zu tun.†

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Van sah aus, als würde sie gleich losheulen. Sie atmete ein paar Mal tief durch und stand dann auf. †œIch kann das nicht, sorry. Ich kann dir nicht dabei zuschauen. Das ist ja wie ein Autounfall in Zeitlupe. Du bist auf dem besten Weg, dich zugrunde zu richten, und ich liebe dich viel zu sehr, als dass ich dir dabei zuschauen könnte.†

Sie neigte sich runter, umarmte mich heftig und gab mir einen harten Kuss auf die Wange, der noch meinen Mundwinkel erwischte. †œPass auf dich auf, Marcus†, sagte sie. Mein Mund brannte dort, wo sie ihre Lippen draufgepresst hatte. Für Jolu hatte sie dieselbe Behandlung parat, allerdings glatt auf die Wange. Dann ging sie.

Als sie weg war, starrten Jolu und ich einander an.

Ich verbarg mein Gesicht in den Händen. †œVerdammt†, sagte ich schließlich.

Jolu klopfte mir auf den Rücken und bestellte dann einen neuen Latte für mich. †œWird schon wieder†, sagte er.

†œIch hätte gedacht, dass Van es versteht; gerade sie.† Die Hälfte von Vans Familie lebte in Nordkorea. Ihre Eltern hatten nie vergessen, dass all diese Verwandten unter der Herrschaft eines wahnsinnigen Diktators lebten und keine Chance hatten, nach Amerika zu entkommen, wie es ihnen selbst, Vans Eltern, gelungen war.

Jolu zuckte die Achseln. †œVielleicht ist sie ja deshalb so ausgerastet. Weil sie genau weiß, wie gefährlich das werden kann.†

Ich wusste, was er meinte. Zwei von Vans Onkeln waren ins Gefängnis gebracht worden und nie wieder aufgetaucht.

†œJa†, sagte ich.

†œUnd wieso warst du letzte Nacht nicht im Xnet?† Ich war dankbar für die Ablenkung. So erklärte ich ihm alles, das Bayes-Zeug und meine Angst, wir könnten das Xnet nicht mehr weiter nutzen wie bisher, ohne erwischt zu werden. Er hörte aufmerksam zu.

†œIch versteh, was du meinst. Das Problem ist, dass jemand, der zu viel Krypto in seinen Internet-Verbindungen hat, als ungewöhnlich auffällt. Aber wenn du nicht verschlüsselst, dann machst dus den bösen Jungs leichter, dich abzuhören.†

†œGenau†, sagte ich. †œIch versuch schon den ganzen Tag, mir da was auszudenken. Vielleicht könnten wir die Verbindungen abbremsen, über mehr Benutzerkonten verteilen …†

†œKlappt nicht†, sagte er. †œUm sie langsam genug zu machen, dass sie im Hintergrundrauschen verschwinden, müsstest du das Netzwerk de facto dicht machen, und das wollen wir ja nicht.†

†œDu hast Recht†, sagte ich. †œAber was können wir sonst machen?†

†œWie wäre es, wenn wir die Definition von ,normal†™ ändern?†

Und genau deshalb war Jolu schon mit zwölf bei Pigspleen angestellt worden. Gib ihm ein Problem mit zwei schlechten Lösungen, und er denkt sich eine komplett neue dritte Lösung aus, die damit anfängt, dass er alle Grundannahmen übern Haufen wirft.

Ich nickte begeistert. †œNa los, sag schon.†

†œWenn jetzt der durchschnittliche Internetnutzer in San Francisco an einem durchschnittlichen Tag im Internet eine Menge mehr Krypto anhäuft? Wenn wir die Verteilung so hinbiegen können, dass Klartext und Chiffretext bei etwa fifty-fifty liegen, dann sehen die Leute, die das Xnet versorgen, plötzlich wieder normal aus.†

†œAber wie kriegen wir das hin? Den Leuten ist ihre Privatsphäre doch viel zu egal, als dass sie plötzlich mit verschlüsselten Links surfen. Die begreifen doch nicht, warum es nicht egal ist, wenn jemand mitlesen kann, was sie so alles googeln.†

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†œSchon, aber Webseiten sind nur kleine Datenpakete. Wenn wir die Leute jetzt dazu bringen, jeden Tag routinemäßig ein paar riesige verschlüsselte Files runterzuladen, dann würde das genauso viel Chiffretext erzeugen wie Tausende von Webseiten.†

†œDu redest übers indienet†, sagte ich.

†œVolltreffer†, sagte er.

Das indienet †“ komplett kleingeschrieben †“ war es, was Pigspleen Net zu einem der erfolgreichsten unabhängigen Provider der Welt gemacht hatte. Damals, als die großen Label angefangen hatten, ihre Fans fürs Herunterladen ihrer Musik zu verklagen, waren etliche der unabhängigen Label und ihre Künstler entgeistert. Wie kann man denn bitte Geld verdienen, indem man seine Kunden verklagt?

Pigspleens Gründerin hatte die Antwort. Sie machte Verträge mit allen Acts, die mit ihren Fans arbeiten wollten, statt sie zu bekämpfen. Du gibst Pigspleen eine Lizenz, deine Musik unter deren Kunden zu verbreiten, und bekommst dafür einen Anteil an den Abogebühren, der sich danach richtet, wie populär deine Musik ist. Für einen Indie-Künstler ist nicht Raubkopieren das Problem, sondern Unbekanntheit: Niemand interessiert sich auch nur genug für deine Musik, um sie zu klauen.

Es funktionierte. Hunderte unabhängiger Künstler und Plattenfirmen unterzeichneten bei Pigspleen, und je mehr Musik es gab, desto mehr Fans wechselten zu Pigspleen als Internet-Anbieter und desto mehr Geld gab es für die Künstler. Binnen eines Jahres hatte der Provider hunderttausend neue Kunden, und inzwischen hatte er eine Million †“ mehr als die Hälfte aller Breitband-Anschlüsse in der Stadt.

†œIch hab schon seit Monaten auf dem Zettel, den indienet-Code zu überarbeiten†, sagte Jolu. †œDie ursprünglichen Programme waren schnell zusammengekloppt, und mit nem bisschen Arbeit könnten sie viel effizienter gemacht werden. Aber ich hatte noch keine Zeit dafür. Einer der Punkte ganz oben auf der Liste ist, die Verbindungen zu verschlüsseln, weil Trudy das gern so möchte.†

Trudy Doo war die Gründerin von Pigspleen. Außerdem war sie eine alte Punk-Legende in San Francisco, Frontfrau der anarcho-feministischen Band Speedwhores, und Privatsphäre war ihre fixe Idee. Ich glaubte sofort, dass sie schon aus Prinzip ihren Musik-Dienst verschlüsselt haben wollte.

†œWird das schwer? Ich mein, wie lange dauert das?†

†œNa ja, massenweise Krypto-Code gibt†™s schon online für lau†, sagte Jolu. Jetzt tat er wieder das, was er immer tat, wenn er an einem kniffligen Programmierproblem kaute: Er bekam diesen abwesenden Blick, trommelte mit den Händen auf dem Tisch und ließ den Kaffee überschwappen. Mir war nach Lachen zumute †“ und wenn alles um ihn rum den Bach runterginge, Jolu würde diesen Code schreiben.

†œKann ich helfen?†

Er schaute mich an. †œWas, glaubst du nicht, dass ichs allein hinkriege?†

†œWas?†

†œNa ja, du hast das ganze Xnet-Ding allein aufgezogen, ohne mir auch bloß was zu erzählen; ohne mit mir drüber zu reden. Und dann dachte ich so, wahrscheinlich brauchst du bei so was meine Hilfe gar nicht.†

Jetzt hatte er mich kalt erwischt. †œWas?†, wiederholte ich. Jolu sah mittlerweile richtig aufgebracht aus. Es war klar, dass das schon eine ganze Weile an ihm genagt hatte. †œJolu …†

Er sah mich wieder an, und jetzt merkte ich, dass er richtig sauer war. Wie hatte ich das übersehen können? Oh Gott, manchmal war ich echt so ein Idiot.

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†œWeißt du, Kumpel, es ist keine große Sache …† †“ womit er eindeutig meinte, dass es eine verdammt große Sache war †“ †œich meine, du hast mich nicht mal gefragt. Hey, ich hasse das DHS. Darryl war auch mein Freund. Ich hätte dir wirklich dabei helfen können.†

Ich wollte den Kopf zwischen den Knien vergraben. †œHey, Jolu, das war echt bescheuert von mir. Ich hab das halt so um zwei Uhr morgens gemacht. Ich war irgendwie rasend, als das passierte. Ich …† Ich konnte es nicht erklären. Er hatte Recht, und das war das Problem. Okay, es war nachts um zwei Uhr gewesen, aber ich hätte ihm am nächsten oder übernächsten Tag davon erzählen können. Aber ich hatte es nicht getan, weil ich wusste, was er sagen würde †“ dass es ein hässlicher Hack war und dass ich das besser durchdenken sollte.

Jolu wusste immer, wie man meine Zwei-Uhr-Nachts-Ideen in sauberen Code umsetzen konnte, aber das, womit er dann rumkam, war immer ein bisschen anders als das, was ich mir ursprünglich ausgedacht hatte. Dieses Projekt hatte ich für mich allein haben wollen. Ich war voll in meiner Rolle als M1k3y aufgegangen.

†œTut mir Leid†, sagte ich schließlich. †œTut mir wirklich, wirklich Leid. Du hast völlig Recht. Ich bin irgendwie durchgedreht und hab dummes Zeug gemacht. Aber ich brauche wirklich deine Hilfe †“ ohne dich kriege ich das nicht hin.†

†œMeinst du das ernst?†

†œUnd wie†, sagte ich. †œMann, du bist der beste Programmierer, den ich kenne. Du bist ein verdammtes Genie, Jolu. Es wäre echt eine Ehre, wenn du mir dabei helfen würdest.†

Er trommelte weiter mit seinen Fingern. †œEs ist bloß … du weißt schon. Du bist der Teamchef. Van ist die Clevere. Darryl war … er war dein Stellvertreter, der Typ, der alles organisiert hat und ein Auge auf die Details hatte. Der Programmierer, das war mein Job. Und es war so, als hättest du gesagt, dass du mich nicht brauchst.†

†œOh Mann, ich bin son Idiot. Jolu, du bist der Beste für den Job, den ich kenne. Ich bin echt, echt, …†

†œLass gut sein, ja? Stopp. Ich glaub dir ja. Wir sind doch alle grade ziemlich neben der Spur. Also: Klar kannst du helfen. Wahrscheinlich können wir dich sogar bezahlen †“ ich hab ein kleines Budget für freie Programmierer.†

†œEcht jetzt?† Fürs Programmieren hatte mich noch nie jemand bezahlt.

†œLogisch. Wahrscheinlich bist du gut genug, um das Geld wert zu sein.† Er grinste und boxte mich in die Schulter. Jolu ist eigentlich meistens total entspannt, und eben deshalb hatte er mich grade so aus der Bahn geworfen.

Ich zahlte die Kaffees, und wir gingen. Dann rief ich meine Eltern an, um ihnen zu berichten, was ich vorhatte. Jolus Mom bestand drauf, uns Sandwiches zu machen. Wir schlossen uns mit seinem Computer und dem Code fürs indienet in seinem Zimmer ein, und dann begann eine der großen Marathon-Programmiersitzungen der Weltgeschichte. Nachdem Jolus Familie um halb zwölf ins Bett gegangen war, entführten wir die Kaffeemaschine in sein Zimmer, um unser Koffeinlevel auf konstant hohem Niveau zu halten.

Wenn du noch nie einen Computer programmiert hast, solltest du es mal tun. Es gibt nichts Vergleichbares auf der Welt. Wenn du einen Computer programmierst, tut er exakt das, was du von ihm verlangst. Es ist, als ob man eine Maschine gestaltet †“ irgendeine Maschine: ein Auto, ein Absperrventil, eine Gasdruckfeder für eine Tür -, indem man Mathematik und Anweisungen verwendet. Es ist Ehrfurcht gebietend im Wortsinn: Es kann dich mit Ehrfurcht erfüllen.

Ein Computer ist die komplizierteste Maschine, die du je benutzen wirst. Er besteht aus Milliarden winzigwinzig kleiner Transistoren, die so eingestellt werden können, dass sie jedes Programm ablaufen lassen, das du dir vorstellen kannst. Aber wenn du an der Tastatur sitzt und eine Zeile Code schreibst, dann tun diese Transistoren genau das, was du ihnen sagst.

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Die meisten von uns werden niemals ein Auto bauen. Die allerwenigsten von uns werden ein Fluggerät entwickeln, ein Gebäude gestalten, eine Stadt am Reißbrett entwerfen.

Das sind schon ziemlich komplizierte Maschinen, und sie sind für Leute wie dich und mich weit außerhalb unserer Reichweite. Aber ein Computer ist vielleicht noch zehn Mal komplizierter, und doch tanzt er zu jeder Melodie, die du ihm vorspielst. Einfaches Programmieren kannst du an einem Nachmittag lernen. Fang mit einer Sprache wie Python an, die extra dafür geschrieben wurde, Programmieranfängern dabei zu helfen, dass die Maschine nach ihrer Pfeife tanzt.

Und wenn du bloß einen Tag lang, nur einen Nachmittag lang programmierst: einmal zumindest musst du es tun. Computer können dich kontrollieren, oder sie können dir deine Arbeit erleichtern †“ wenn du deine Maschinen unter deiner Kontrolle haben willst, musst du lernen, Code zu schreiben.

In dieser Nacht schrieben wir ne Menge Code. – Fortsetzung Kapitel 8

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Hintergründe, Handlung und weitere Informationen zu Little Brother findet ihr unter: Jugendthriller: Little Brother von Cory Doctorow komplett im Netz

Hier handelt es sich um die deutsche Übersetzung von Christian Wöhrl

Little Brother ist unter einem Creative Commons Namensnennung-Keine kommerzielle Nutzung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenzvertrag lizenziert.

Das Original wurde unter: http://craphound.com/littlebrother veröffentlicht.

Little Brother von Cory Doctorow: Kapitel 6

Little Brother

Kapitel 6

Dieses Kapitel ist Powell†™s Books gewidmet, der legendären †œStadt der Bücher† in Portland, Oregon. Powell†™s ist die größte Buchhandlung der Welt, ein endloses Universum von Papiergerüchen und turmhohen Regalen über mehrere Etagen. Dort stellen sie neue und gebrauchte Bücher in dieselben Regale †“ das ist etwas, das ich schon immer mochte -, und jedes Mal, wenn ich dort bin, hatten sie einen ordentlichen Berg meiner Bücher vorrätig und waren unglaublich liebenswürdig, wenn es darum ging, meine vorrätigen Bücher zu signieren. Die Angestellten sind freundlich, die Auswahl überwältigend, und es gibt sogar einen Powell†™s am Flughafen in Portland, für meinen Geschmack der beste Flughafen-Buchladen der Welt!

Powell†™s Books:

http://www.powells.com/cgi-bin/biblio?isbn=9780765319852

1005 W Burnside, Portland, OR 97209 USA +1 800 878 7323

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Ob ihrs glaubt oder nicht, meine Eltern bestanden drauf, dass ich am nächsten Tag zur Schule ging. Erst um drei war ich in fiebrigen Schlaf gefallen, aber um sieben stand mein Dad am Fußende des Bettes und drohte mich an den Knöcheln rauszuziehen. Irgendwie schaffte ichs, aufzustehen †“ etwas musste in meinem Mund gestorben sein, nachdem es mir die Augenlider zugekleistert hatte †“ und die Dusche zu finden.

Ich erlaubte meiner Mom, eine Scheibe Toast und eine Banane in mich reinzuzwingen, und wünschte mir nichts mehr, als dass meine Eltern mich daheim mal Kaffee trinken ließen. Ich konnte mir zwar einen auf dem Weg zur Schule besorgen, aber ihnen dabei zuzusehen, wie sie ihr schwarzes Gold schlürften, während ich meinen Hintern durchs Haus schleppte, mich anzog und meine Bücher in die Tasche packte, das war mies.

Ich bin den Weg zur Schule schon tausend Mal gegangen, aber dieses Mal wars anders. Ich ging über die Hügel runter ins Mission-Viertel, und überall waren Trucks. Ich sah, dass an vielen Stoppschildern neue Sensoren und Verkehrsüberwachungskameras installiert waren. Irgendjemand hatte eine Menge Schnüffelzeug rumliegen gehabt und nur auf die erste Gelegenheit gewartet, es installieren zu können. Der Anschlag auf die Bay Bridge war genau das gewesen, was diese Leute brauchten.

Das alles machte die Stadt irgendwie gedämpfter, wie in einem Fahrstuhl, die erhöhte Aufmerksamkeit deiner Nachbarn und die allgegenwärtigen Kameras waren bedrückend.

Der türkische Coffeeshop auf der 24. Straße peppte mich mit einem Türkischen Kaffee zum Mitnehmen auf. Im Grunde ist Türkischer Kaffee Schlamm, der behauptet, Kaffee zu sein. Er ist dickflüssig genug, dass ein Löffel drin stehenbleibt, und hat viel mehr Koffein als Red Bull und diese ganze Kinderbrause. Glaubt es jemandem, der den Wikipedia-Eintrag gelesen hat: Das Ottomanische Reich wurde erobert von wildgewordenen Reitern, die von tödlich-tiefschwarzem Kaffeeschlamm angetrieben waren.

Ich zog meine Kreditkarte zum Zahlen raus und er zog ein Gesicht. †œKein Kredit mehr†, sagte er.

†œWas? Warum nicht?† Meine Kaffeesucht hatte ich beim Türken schon seit Jahren mit der Kreditkarte gezahlt. Er zog mich ständig auf, behauptete, ich sei noch zu jung, das Zeug zu trinken, und weigerte sich komplett, mir während der Unterrichtszeit was zu verkaufen, weil er sicher war, ich würde die Schule schwänzen. Aber im Lauf der Jahre hatten der Türke und ich so eine Art stillschweigendes Einvernehmen entwickelt.

Er schüttelte traurig den Kopf. †œDas würdest du nicht verstehen. Geh zur Schule, Junge.† Der sicherste Weg, mich dazu zu bringen, etwas verstehen zu wollen, ist zu behaupten, das würde ich nicht verstehen. Ich beschwätzte ihn und bestand drauf, dass ers mir erzählte. Erst guckte er, als sei er drauf und dran, mich rauszuwerfen, aber als ich ihn fragte, ob ich ihm als Kunde nicht mehr gut genug sei, taute er auf.

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†œSicherheit†, sagte er und schaute über seinen kleinen Laden mit den Packungen voll getrockneter Bohnen und Samen, den Regalen mit türkischem Obst und Gemüse. †œDie Regierung. Überwachen jetzt alles; stand in der Zeitung. PATRIOT Act II hat Kongress gestern beschlossen. Jetzt können sie immer sehen, wenn du deine Karte benutzt. Ich sage nein. Ich sage, mein Laden hilft ihnen nicht dabei, meine Kunden auszuschnüffeln.†

Meine Kinnlade klappte runter.

†œDenkst du vielleicht, was macht das schon? Wo ist das Problem, wenn Regierung weiß, wann du Kaffee kaufst? Weil sie wissen, wo du bist und wo du warst. Warum denkst du, ich bin aus Türkei fort? Wo Regierung immer das Volk ausspioniert, ist nicht gut. Ich komme vor zwanzig Jahren wegen Freiheit hierher †“ ich helfe ihnen nicht, Freiheit wegzunehmen.†

†œAber Sie verlieren so viele Kunden†, stammelte ich. Ich wollte ihm sagen, dass er ein Held sei, und seine Hand schütteln, aber nur das kam raus. †œJeder benutzt Kreditkarten.†

†œVielleicht nicht mehr so viel. Vielleicht kommen meine Kunden hierher, weil sie wissen, ich liebe auch Freiheit. Ich mache Schild für Fenster. Vielleicht machen andere Läden auch. Ich höre, ACLU (2) will sie deshalb verklagen.†

(2) American Civil Liberties Union (ACLU), Amerikanische Bürgerrechts-Union, A.d.Ü.

†œIch komm ab jetzt jedenfalls nur noch zu ihnen†, sagte ich und meinte es so. Dann kramte ich in der Hosentasche.

†œOh, ich habe gar kein Geld dabei.†

Er deutete ein Lächeln an und nickte. †œViel Leute sagen dasselbe. Alles gut. Geld von heute kannst du der ACLU geben.†

Binnen zwei Minuten hatten der Türke und ich mehr Worte gewechselt als in all der Zeit, seit ich in seinen Laden kam. Ich hatte nie geahnt, dass er all diese Leidenschaft hatte. Ich hatte ihn immer nur als den freundlichen Koffein-Dealer von nebenan betrachtet. Jetzt schüttelte ich ihm die Hand und verließ den Laden. Ich hatte das Gefühl, er und ich seien nun ein Team. Ein geheimes Team.

Ich hatte zwei Tage Schule verpasst, aber anscheinend hatte ich nicht viel Unterricht verpasst. An einem der Tage, als die Stadt mühsam wieder zur Besinnung kam, hatten sie die Schule geschlossen. Am nächsten Tag hatten sie sich, wies schien, ausschließlich damit beschäftigt, um diejenigen von uns zu trauern, die vermisst wurden und wahrscheinlich tot waren. Die Zeitungen veröffentlichten Biografien der Vermissten und persönliche Erinnerungen. Das Web war voll mit Tausenden solcher Nachrufhülsen.

Blöderweise war ich einer von diesen Leuten. Kaum kam ich ahnungslos auf den Schulhof, war ein Schrei zu hören und sofort standen hundert Leute um mich rum, klopften mir auf die Schultern, schüttelten meine Hand. Ein paar Mädchen, die ich nicht mal kannte, küssten mich, und das waren nicht bloß freundschaftliche Küsse. Ich fühlte mich wie ein Rockstar.

Meine Lehrer waren kaum zurückhaltender. Ms. Galvez weinte fast so sehr wie meine Mutter und umarmte mich drei Mal, bevor sie mich an meinen Platz gehen ließ. Da war was Neues vorn im Klassenzimmer. Eine Kamera. Ms. Galvez sah, wie ich dorthin starrte, und gab mir eine Einverständniserklärung auf kopiertem, verschmiertem Schulbriefpapier.

Die übergeordnete Schulbehörde des Bezirks San Francisco hatte übers Wochenende eine Dringlichkeitssitzung einberufen und einstimmig beschlossen, von den Eltern jedes Schülers in der Stadt das Einverständnis einzuholen, in jeder Klasse und jedem Flur Überwachungskameras zu installieren.

Das Gesetz besagte zwar, dass man uns nicht zwingen konnte, eine komplett überwachte Schule zu besuchen, aber davon, dass wir unsere verfassungsmäßigen Rechte auch freiwillig aufgeben könnten, stand nichts drin.

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In dem Brief hieß es, dass die Behörde sicher sei, das Einverständnis aller Eltern der Stadt zu erhalten, dass man es aber auch einrichten wolle, Kinder nicht damit einverstandener Eltern in †œungeschützten† Klassenzimmern zu unterrichten.

Warum hatten wir jetzt Kameras in den Klassenzimmern? Terroristen, na klar. Weil sie damit, dass sie eine Brücke sprengten, angedeutet hatten, dass als Nächstes Schulen an der Reihe waren. Jedenfalls war das die Erkenntnis, zu der die Behörde gelangt war.

Ich las die Mitteilung drei Mal durch und hob dann die Hand.

†œJa, Marcus?†

†œMs. Galvez, eine Frage zu dieser Mitteilung.†

†œWas denn, Marcus?†

†œGeht es denn bei Terrorismus nicht darum, uns Angst zu machen? Das ist doch, warum es Terrorismus heißt, oder?†

†œIch glaube schon.† Die Klasse starrte mich an. Ich war nicht der beste Schüler dieser Schule, aber ich liebte anständige Diskussionen in der Klasse. Die anderen warteten gespannt drauf, was ich als Nächstes sagen würde.

†œTun wir dann also nicht genau das, was die Terroristen von uns erwarten? Die haben doch gewonnen, wenn wir völlig panisch sind und Kameras in Klassenräumen installieren und all so was, oder?†

Nervöses Tuscheln. Einer der anderen hob die Hand. Es war Charles. Ms. Galvez rief ihn auf.

†œKameras zu installieren macht uns sicherer, und das macht uns weniger ängstlich.†

†œSicher wovor?†, fragte ich, drauf zu warten, aufgerufen zu werden.

†œTerrorismus†, sagte Charles. Die anderen nickten mit den Köpfen.

†œAber wie denn? Wenn hier ein Selbstmordattentäter reinrauschen und uns alle hochjagen würde …†

†œMs. Galvez, Marcus verletzt die Schulregeln. Wir sollen doch keine Witze über Terroranschläge machen.†

†œWer macht hier Witze?†

†œVielen Dank, ihr beiden†, sagte Ms. Galvez. Sie sah ziemlich unglücklich aus, und es tat mir ein bisschen Leid, ihren Unterricht dafür beansprucht zu haben. †œIch denke, das ist eine wirklich interessante Diskussion, aber ich möchte sie auf später vertagen. Ich glaube, diese Dinge sind noch zu gefühlsbeladen, als dass wir sie heute schon diskutieren sollten. Jetzt also bitte zurück zu den Suffragisten, ja?†

Also verwendeten wir den Rest der Stunde darauf, über die Suffragisten zu sprechen und über die neuen Lobbyismus-Strategien, die sie entwickelt hatten: Wie sie vier Frauen ins Büro jedes einzelnen Kongressabgeordneten geschickt hatten, um ihm klarzumachen, was es für seine politische Zukunft bedeuten würde, wenn er Frauen auch weiterhin das Wahlrecht verweigern sollte.

Normalerweise mochte ich solche Sachen †“ kleine Leute, die die Großen, Mächtigen dazu brachten, ehrlich zu sein. Aber heute konnte ich mich nicht konzentrieren. Das musste an Darryls Fehlen liegen. Wir mochten Gesellschaftskunde beide gern, und wir hatten immer binnen Sekunden unsere SchulBooks draußen und eine Messaging-Session laufen, unseren Rückkanal, um über den Unterricht zu reden.

Ich hatte in der Nacht zuvor zwanzig ParanoidXbox-Scheiben gebrannt und hatte sie alle in meiner Tasche. Die gabe ich Leuten, von denen ich wusste, dass sie harte Spieler waren. Sie hatten alle letztes Jahr eine Xbox Universal oder zwei bekommen, aber die meisten hatten irgendwann aufgehört, sie zu benutzen. Die Spiele waren ziemlich teuer und nicht sonderlich gut.

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Ich nahm sie zwischen zwei Unterrichtsblöcken, beim Mittagessen oder im Studienraum beiseite und schwärmte ihnen in höchsten Tönen von ParanoidXbox-Spielen vor. Gratis und gut †“ Gemeinschaftsspiele mit Suchtpotenzial, bei denen man mit lauter coolen Leuten rund um die Welt spielte.

Etwas zu verschenken, um was anderes zu verkaufen, ist ein Rasierklingen-Geschäftsmodell †“ Firmen wie Gillette geben dir Rasierer gratis, um dir dann mit den teuren Klingen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Druckertinte ist da am schlimmsten †“ der teuerste Champagner der Welt ist billig im Vergleich zu Druckertinte, die zudem in der Herstellung lachhaft billig ist.

†œRasierklingen†-Firmen leben davon, dass du die †œKlingen† nirgendwo anders bekommst. Denn wenn Gillette neun Dollar an einer Zehn-Dollar-Ersatzklinge verdient, was liegt dann näher, als einen Wettbewerber zu gründen, der an einer identischen Klinge nur vier Dollar verdient? So eine 80-Prozent-Verdienstspanne ist etwas, das einen typischen Businesstypen ganz schon nervös macht.

Deshalb geben sich Rasierklingen-Firmen wie Microsoft so viel Mühe, es schwierig und/oder illegal zu machen, ihnen mit ihren Klingen Konkurrenz zu machen. In Microsofts Fall hatte jede Xbox einige Abwehrmechanismen eingebaut, die dich davon abhalten sollten, Software von Leuten drauf laufen zu lassen, die noch kein Blutgeld an Microsoft gezahlt hatten für das Recht, Xbox-Programme zu verkaufen.

Die Leute, die ich traf, dachten über so was nicht groß nach. Aber sie wurden hellhörig, als ich ihnen erzählte, dass die Spiele nicht kontrolliert wurden. Heutzutage ist jedes Online-Spiel voll mit allen möglichen unappetitlichen Typen. Zum einen gibt†™s die Perversen, die dich in irgendwelche abgelegenen Ecken zu locken versuchen, um dann bizarre Schweigen-der-Lämmer-Spielchen mit dir zu spielen. Dann sind da Bullen, die sich als naive Kiddies ausgeben, um die Perversen hochnehmen zu können.

Aber am schlimmsten sind diese Kontrolleur-Typen, die nichts anderes zu tun haben, unsere Diskussionen auszuhorchen und uns zu verpetzen, weil wir ihre Geschäftsbedingungen verletzt haben, in denen Flirten, Fluchen und †œSprache, die offen oder verdeckt dazu geeignet ist, jedweden Aspekt von sexueller Orientierung oder Sexualität herabzuwürdigen† streng verboten sind.

Ich bin nicht rund um die Uhr auf Sex fixiert, aber ich bin ein siebzehnjähriger Junge. Natürlich redet man dann und wann über Sex. Aber wehe, man redet im Chat während des Spielens drüber †“ dann ist sofort die Luft raus. Die ParanoidXbox-Spiele kontrollierte niemand, denn die wurden nicht von einer Firma betrieben; das waren bloß Spiele, die Hacker so zum Spaß geschrieben hatten.

Deshalb fanden diese Hardcore-Spieler die Nummer klasse. Sie nahmen die Scheiben liebend gern und versprachen, Kopien für all ihre Freunde zu brennen †“ Spiele machen nun mal den meisten Spaß, wenn du sie mit deinen Kumpels spielst.

Als ich heim kam, las ich, dass eine Gruppe von Eltern wegen der Überwachungskameras in den Klassenzimmern gegen die Schulbehörde klagte, aber dass sie mit ihrem Versuch, eine einstweilige Verfügung dagegen zu erwirken, bereits gescheitert waren.

Ich weiß nicht mehr, wer sich den Namen Xnet ausdachte, aber er blieb hängen. Man konnte die Leute im Nahverkehr drüber reden hören. Van rief mich an, um zu fragen, ob ich schon davon gehört hatte, und ich verschluckte mich fast, als ich begriff, worüber sie redete: Die Scheiben, die ich letzte Woche zu verteilen begonnen hatte, waren so oft kopiert und weitergereicht worden, dass sies in der Zeit ganz bis Oakland geschafft hatten. Machte mich etwas nervös †“ als ob ich eine Regel gebrochen hatte, und jetzt würde das DHS kommen und mich für immer wegsperrren.

Es waren harte Wochen. In der BART konnte man jetzt überhaupt nicht mehr bar bezahlen, sie hatten dafür †œkontaktlose† RFID-Karten eingeführt, die man an den Drehkreuzen rumwedelte, um durchzukommen. Die waren zwar cool und bequem, aber jedes Mal, wenn ich sie benutzte, dachte ich daran, wie man mich damit tracken konnte.

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Jemand postete im Xnet einen Link zu einem Infopapier der Electronic Frontier Foundation über die Möglichkeiten, mit diesen Dingern Bewegungsprofile von Menschen zu erstellen, und das Dokument enthielt einige winzige Meldungen über kleine Gruppen von Leuten, die an BART-Stationen demonstriert hatten.

Das Xnet nutzte ich jetzt für so ziemlich alles. Ich hatte mir eine Tarn-E-Mail-Adresse über die Piratenpartei eingerichtet, eine politische Partei in Schweden, die Internetüberwachung hasste und versprach, Mailaccounts bei ihr vor jedermann geheim zu halten, auch vor den Bullen. Ich griff darauf ausschließlich via Xnet zu, zappte von der Internetverbindung des einen Nachbarn zu der des nächsten und blieb dabei †“ hoffentlich †“ auf der ganzen Strecke bis Schweden anonym.

Ich war nicht mehr w1n5ton; wenn Benson dahinter kommen konnte, dann konnte das jeder. Mein neues, spontan ausgedachtes Alias war M1k3y, und ich bekam eine Menge E-Mails von Leuten, die in Chats und Foren gehört hatten, dass ich ihnen dabei helfen konnte, Probleme beim Einrichten und Verbinden mit dem Xnet zu lösen.

Harajuku Fun Madness fehlte mir. Die Firma hatte das Spiel für unbestimmte Zeit auf Eis gelegt. Sie sagten, es sei †œaus Sicherheitsgründen† keine gute Idee, Dinge zu verstecken und Leute loszuschicken, um sie zu finden. Wenn nun jemand dachte, das sei eine Bombe? Oder wenn jemand wirklich eine Bombe an derselben Stelle versteckte?

Wenn ich nun vom Blitz getroffen wurde, während ich mit einem Regenschirm unterwegs war? Verbietet Regenschirme! Kampf der Bedrohung durch Blitze!

Meinen Laptop benutzte ich weiter, aber ich hatte ein ungutes Gefühl dabei. Wer auch immer ihn angezapft hatte, würde sich wundern, warum ich ihn nicht mehr benutzte. Also surfte ich planlos damit herum, jeden Tag ein bisschen weniger, damit jeder Beobachter sehen würde, dass sich meine Gewohnheiten allmählich änderten und nicht von jetzt auf gleich. Hauptsächlich las ich diese grausamen Nachrufe †“ all die Tausende Freunde und Nachbarn, die nun tot am Grunde der Bay lagen.

Um ehrlich zu sein: Hausaufgaben machte ich jeden Tag wirklich weniger. Ich hatte andere Dinge zu tun. Jeden Tag brannte ich einen neuen Stapel ParanoidXbox-DVDs, fünfzig oder sechzig, und verteilte sie in der Stadt an Leute, von denen ich gehört hatte, dass sie bereit waren, auch wieder sechzig zu brennen und an ihre Freunde weiterzugeben.

Allzu viel Angst, deshalb geschnappt zu werden, hatte ich nicht, weil ich gute Krypto auf meiner Seite hatte. †œKrypto† bedeutet Kryptografie oder †œgeheimes Schreiben†, und es gab sie schon seit den alten Römern (wortwörtlich: Caesar Augustus war ein großer Fan und erfand gern seine eigenen Codes, von denen wir heute noch welche verwenden, um lustige Betreffzeilen in E-Mails zusammenzuwürfeln).

Krypto ist Mathematik. Höhere Mathematik. Ich werde erst gar nicht versuchen, sie im Detail zu erklären, denn in Mathe bin ich dafür nicht gut genug †“ wenn ihrs wirklich wissen wollt, schlagt in der Wikipedia nach.

Aber hier ist die Kurzfassung: Es gibt mathematische Berechnungen, die in die eine Richtung sehr leicht sind, aber in die entgegengesetzte Richtung unheimlich schwierig. Es ist zum Beispiel leicht, zwei große Primzahlen zu multiplizieren und als Ergebnis eine gigantisch große Zahl zu bekommen. Aber es ist unglaublich schwierig, für eine gegebene gigantisch große Zahl die Primzahlen zu ermitteln, deren Produkt sie ist.

Das bedeutet: wenn du einen Weg findest, einen Text unleserlich zu machen, der darauf beruht, große Primzahlen zu multiplizieren, dann wird es knifflig sein, das Ergebnis wieder leserlich zu machen, ohne diese Primzahlen zu kennen. Verdammt knifflig. So knifflig, dass alle jemals gebauten Computer rund um die Uhr daran arbeiten könnten und doch in einer Bilion Jahren noch nicht damit fertig wären.

Jede Krypto-Botschaft besteht aus vier Teilen: der ursprünglichen Botschaft, dem sogenannten Klartext. Dem unleserlichen oder †œchiffrierten† Text.

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Dem Buchstaben-Vermengungssystem, genannt †œChiffre†. Und schließlich dem Schlüssel: geheimem Zeug, das man mit dem Klartext in die Chiffre einspeist, um chiffrierten Text zu erhalten.

Früher mal versuchten Krypto-Leute, alle diese Bestandteile geheim zu halten. Jede Behörde und Regierung hatte ihre eigenen Chiffren und ihre eigenen Schlüssel. Die Nazis und die Alliierten wollten nicht, dass die jeweils Anderen wussten, wie sie ihre Nachrichten vermengten, und schon gar nicht, dass sie die Schlüssel kannten, mit denen man die Nachrichten wieder leserlich machen konnte. Klingt ja auch logisch, oder?

Falsch.

Als mir das erste Mal jemand von diesem Primfaktorierungs-Zeug erzählte, sagte ich sofort: †œWas soll der Scheiß? Okay, klar ist es schwierig, diese Primfaktorierungs-Berechnungen anzustellen, oder was auch immer es genau ist. Aber es war auch mal unmöglich, auf den Mond zu fliegen oder eine Festplatte mit mehr als ein paar Kilobyte Speicherplatz zu kaufen. Irgendjemand muss einen Weg gefunden haben, die Nachrichten wieder zu entschlüsseln.†

Ich stellte mir vor, wie in einem ausgehöhlten Berg lauter Mathematiker der Nationalen Sicherheitsbehörde jede E-Mail der Welt lasen und sich eins kicherten.

Und tatsächlich ist ziemlich genau das während des Zweiten Weltkriegs passiert. Deshalb ist das Leben ja auch nicht so wie in Schloss Wolfenstein, wo ich viele Tage damit verbracht hatte, Nazis zu jagen.

Das Ding ist: Chiffren lassen sich ganz schwer geheim halten. Eine Menge Mathe wird auf jede einzelne verwendet, und wenn sie weit verbreitet sind, dann muss jeder, der sie benutzt, sie ebenfalls geheim halten, und wenn jemand die Seiten wechselt, muss man eine neue Chiffrierung austüfteln.

Die Nazi-Chiffre hieß Enigma, und sie verwendeten einen kleinen mechanischen Rechner, die Enigma-Maschine, um ihre Botschaften zu ver- und entschlüsseln. Jedes U-Boot, jedes Schiff und jede Funkstation brauchte so eine Maschine, deshalb war es unvermeidlich, dass den Alliierten irgendwann eine in die Hände fiel.

Und als sie sie hatten, knackten sie sie. Diese Aufgabe lösten sie unter Führung meines größten Helden, eines Typen namens Alan Turing †“ praktisch der Erfinder des Computers, wie wir ihn heute kennen. Sein Pech war, dass er schwul war; deshalb zwang die dämliche britische Regierung ihn nach Kriegsende zu einer Hormontherapie, die seine Homosexualität †œheilen† sollte, und daraufhin brachte er sich um.

Darryl hatte mir eine Biografie von Turing zu meinem 14. Geburtstag geschenkt †“ in zwanzig Schichten Papier eingewickelt und in einem recycelten Spielzeug-Batmobil versteckt, das war Darryls Art, was zu verpacken -, und seither war ich ein Turing-Junkie.

Jedenfalls hatten die Alliierten jetzt also die Enigma-Maschine, und sie konnten eine Menge Nazi-Funksprüche abfangen; aber das hätte noch kein Problem sein dürfen, denn jeder Kapitän hatte ja seinen eigenen geheimen Schlüssel. Und weil die Alliierten die Schlüssel nicht hatten, hätte die Maschine ihnen noch nichts nützen dürfen.

Aber jetzt kommt der Punkt, an dem Geheimniskrämerei der Krypto schadet: Die Enigma-Chiffre war fehlerhaft. Als Turing sie sich näher anschaute, entdeckte er, dass die Nazi-Kryptografen einen mathematischen Fehler gemacht hatten. So konnte Turing nur dadurch, eine Enigma-Maschine in die Hände zu bekommen, austüfteln, wie man jede Nazi-Botschaft knacken konnte, egal welchen Schlüssel sie verwendeten.

Deshalb verloren die Nazis den Krieg. Nicht dass ihr das falsch versteht: Das ist eine gute Nachricht. Glaubt es einem Schloss-Wolfenstein-Veteranen: Ihr würdet es nicht mögen, wenn Nazis das Land regierten.

Nach dem Krieg dachten Kryptografen lange über diese Sache nach. Das Problem war gewesen, dass Turing klüger war als der Typ, der sich Enigma ausgedacht hatte.

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Jedes Mal, wenn du eine Chiffre hattest, warst du anfällig dafür, dass jemand, der klüger war als du, einen Weg fand, sie zu knacken.

Und je länger sie drüber nachdachten, desto mehr wurde ihnen klar, dass sich zwar jeder ein Sicherheitssystem ausdenken kann, das er selbst nicht knacken könnte. Aber niemand kann vorher wissen, was ein klügerer Mensch damit machen könnte.

Also musst du eine Chiffre veröffentlichen, um zu wissen, ob sie funktioniert. Du musst so vielen Leuten wie möglich sagen, wie sie funktioniert, damit sie mit all ihren Mitteln darauf los gehen und ihre Sicherheit auf die Probe stellen können. Je länger sie hält, ohne dass jemand einen Schwachpunkt findet, desto sicherer bist du.

Und so siehts heute aus. Wenn du auf Nummer Sicher gehen willst, dann verwendest du keine Krypto, die sich irgendein Genie letzte Woche ausgedacht hat. Du verwendest lieber das Zeug, das schon so lange wie möglich im Umlauf ist, ohne dass schon jemand einen Weg gefunden hätte, es zu knacken. Ob du ne Bank bist, ein Terrorist, eine Regierung oder ein Teenager, ihr benutzt alle dieselben Chiffren.

Wenn du also versuchen würdest, deine eigene Chiffre zu verwenden, dann wäre es ziemlich wahrscheinlich, dass irgendwer da draußen schon den Schwachpunkt gefunden hat, den du übersehen hast, und dass er dich drankriegt wie damals Turing; der könnte dann all deine †œgeheimen† Botschaften lesen und sich über dein dummes Geschwätz, deine Geldgeschäfte und deine militärischen Geheimnisse amüsieren.

Deshalb wusste ich, dass Krypto mich vor Mithörern schützte; aber auf Histogramme war ich nicht vorbereitet.

Ich stieg aus der BART und schwenkte meine Karte über dem Drehkreuz, rauf zur Station 24. Straße. Wie üblich hingen etliche Bekloppte in der Haltestelle ab, Betrunkene, Jesus-Freaks, finstere Mexikaner, die auf den Boden starrten, und ein paar Gang-Kids. Ich guckte stur an ihnen vorbei, als ich zur Treppe ging und dann nach oben joggte. Meine Tasche war jetzt leer, nicht mehr übervoll mit den ParanoidXbox-Scheiben, die ich verteilt hatte, und das nahm den Druck von den Schultern und beflügelte meinen Gang, als ich raus auf die Straße kam. Die Prediger waren immer noch bei ihrer Arbeit, uns auf Spanisch und Englisch über Jesus etcetera zu belehren.

Die Verkäufer mit ihren gefälschten Sonnenbrillen waren weg, aber ihren Platz hatten Typen mit Roboterhunden im Angebot eingenommen, die die Nationalhymne bellten und ihr Beinchen hoben, wenn man ihnen ein Foto von Osama bin Laden zeigte. Wahrscheinlich ging in deren kleinen Gehirnen ein bisschen was Interessantes vor, und ich nahm mir vor, später ein paar davon zu kaufen und sie zu zerlegen. Gesichtserkennung war in Spielzeugen noch ziemlich neu; sie war erst kürzlich vom Militärsektor zuerst zu Casinos auf der Suche nach Betrügern und zur Strafverfolgung gelangt.

Ich machte mich auf den Weg die 24. Straße runter Richtung Potrero Hill und heim, rollte meine Schultern, sog die Burrito-Gerüche ein, die aus den Restaurants drangen, und dachte ans Abendessen.

Keine Ahnung, warum ich zufällig mal über die Schulter schaute, jedenfalls tat ichs. Vielleicht wars ein bisschen unterbewusstes Sechster-Sinn-Zeug. Ich wusste einfach, dass mir jemand folgte.

Es waren zwei stämmige weiße Typen mit kleinen Schnurrbärten, die mich an Bullen und an die schwulen Biker erinnerten, die durch Castro rauf- und runterrollten, aber Schwule hatten normalerweise stylischere Frisuren. Sie trugen Blousons in der Farbe von kaltem Zement und Jeans, und man konnte ihre Hüften nicht sehen. Ich dachte an all die Dinge, die ein Bulle an seiner Hüfte tragen könnte, an den Werkzeuggürtel, den der DHS-Typ im Truck umhatte. Beide Kerle trugen Bluetooth-Sprechgarnituren.

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Ich ging weiter, aber mein Herz klopfte wie wild. Ich hatte damit gerechnet, seit ich angefangen hatte. Ich hatte damit gerechnet, dass das DHS rauskriegen würde, was ich tat. Ich war so vorsichtig wie nur möglich, aber hatte Frau Strenger Haarschnitt nicht gesagt, sie würde mich unter Beobachtung halten? Sie hatte mir gesagt, ich sei nun ein gezeichneter Mann. Mir wurde klar, dass ich tatsächlich drauf gewartet hatte, hopsgenommen und ins Gefängnis gesteckt zu werden. Warum auch nicht? Warum sollte Darryl im Knast sein und ich nicht? Was sprach schon für mich? Ich hatte noch nicht mal den Mumm gehabt, meinen Eltern †“ oder seinen †“ zu erzählen, was mit uns tatsächlich passiert war.

Ich legte einen Zahn zu und machte in Gedanken Inventur. Nein, ich hatte nichts Verdächtiges in meiner Tasche. Na ja, nichts allzu Verdächtiges. Auf meinem SchulBook lief der Crack, der mir Messaging und das Zeug ermöglichte, aber die Hälfte der Leute in der Schule hatte das. Und ich hatte die Verschlüsselung auf meinem Telefon geändert †“ jetzt hatte ich wirklich eine Pseudo-Partition, die ich mit einem einzelnen Passwort in Klartext umwandeln konnte, aber das gute Zeug war nicht da drauf, sondern erforderte ein weiteres Passwort, um es zugänglich zu machen. Dieser versteckte Teil sah wie Datenmüll aus †“ wenn du Daten verschlüsselst, kann man sie nicht mehr von zufälligem Rauschen unterscheiden -, und sie wüssten noch nicht mal, dass es ihn gab.

Es waren keine Scheiben mehr in meiner Tasche. Mein Laptop war frei von jeglichem belastenden Material. Wenn sie sich natürlich meine Xbox genauer ansahen, dann war das Spiel aus, sozusagen.

Ich blieb stehen, wo ich war. Ich hatte mich bedeckt gehalten, so gut ich eben konnte. Jetzt wars Zeit, dem Schicksal ins Auge zu blicken. Ich ging in den nächsten Burrito-Laden und bestellte einen mit Carnitas †“ gehacktem Schweinefleisch †“ und extra Salsa. Wenn schon untergehen, dann zumindest mit vollem Magen. Außerdem nahm ich einen Kübel Horchata, ein eiskaltes Reisgetränk, so ähnlich wie wässrig-süßlicher Reispudding (besser, als es klingt).

Ich setzte mich hin zum Essen, und ich wurde ganz ruhig. Entweder kam ich nun ins Gefängnis für meine †œVerbrechen† oder auch nicht. Meine Freiheit war, seit sie mich festgehalten hatten, ein vorübergehender Urlaub gewesen. Mein Land war nun nicht mehr mein Freund: Wir standen auf verschiedenen Seiten, und ich hatte gewusst, dass ich niemals gewinnen konnte.

Die zwei Typen kamen ins Restaurant, als ich grade mit dem Burrito fertig war und Churros zum Nachtisch bestellen wollte †“ frittierten Teig mit Zimtzucker. Schätze mal, die hatten draußen gewartet und waren von meiner Bummelei angenervt.

Sie stellten sich hinter mir an den Tresen und nahmen mich in die Zange. Ich bekam meinen Churro von der hübschen Bedienung und bezahlte, dann biss ich erst noch ein paar Mal ab, bevor ich mich umdrehte. Ich wollte zumindest ein bisschen was von meinem Dessert essen, schließlich könnte es das letzte für lange, lange Zeit sein.

Dann drehte ich mich um. Sie waren beide so dicht, dass ich den Pickel auf der Wange des Typen links sehen konnte und den kleinen Popel in der Nase des anderen.

†œSchuldigung†, sagte ich und versuchte an ihnen vorbeizudrängen. Der mit dem Popel stellte sich mir in den Weg.

†œWürden Sie bitte mit uns dorthin kommen?†, sagte er und wies in Richtung der Restauranttür.

†œTut mir Leid, ich ess noch†, sagte ich und bewegte mich wieder. Diesmal legte er seine Hand auf meine Brust. Er atmete schnell durch seine Nase, was den Popel wackeln ließ. Ich glaube, ich atmete auch schnell, aber das ging unter im Hämmern meines Herzens.

Der andere schlug eine Flappe an seiner Windjacke runter, was ein SFPD-Wappen zum Vorschein brachte. †œPolizei†, sagte er. †œBitte kommen Sie mit uns.†

†œKann ich eben noch meine Sachen holen?†, entgegnete ich.

†œDarum kümmern wir uns†, sagte er. Popel trat noch einen Schritt näher und brachte seinen Fuß an die Innenseite von meinem. In manchen Kampfsportarten macht man das auch so.

Dann kann man spüren, ob der andere sein Gewicht verlagert und eine Bewegung vorbereitet.

Doch ich würde nicht weglaufen. Ich wusste, meinem Schicksal konnte ich nicht davonlaufen. – Fortsetzung Kapitel 7

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Hintergründe, Handlung und weitere Informationen zu Little Brother findet ihr unter: Jugendthriller: Little Brother von Cory Doctorow komplett im Netz

Hier handelt es sich um die deutsche Übersetzung von Christian Wöhrl

Little Brother ist unter einem Creative Commons Namensnennung-Keine kommerzielle Nutzung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenzvertrag lizenziert.

Das Original wurde unter: http://craphound.com/littlebrother veröffentlicht.

Little Brother von Cory Doctorow: Kapitel 5

Little Brother

Kapitel 5

Dieses Kapitel ist Secret Headquarters in Los Angeles gewidmet, meinem endgültigen Lieblingscomicladen der ganzen Welt. Er ist klein und wählerisch bei seinem Angebot, und jedes Mal, wenn ich dort reingehe, komme ich mit drei, vier Sammlungen unterm Arm wieder raus, von denen ich vorher noch nie gehört hatte. Man könnte meinen, die Eigentümer, Dave und David, haben ein untrügliches Gespür dafür, was ich grade brauche, und drapieren immer genau das extra für mich, bevor ich in den Laden komme.

Ungefähr drei Viertel all meiner Lieblingscomics habe ich kennen gelernt, indem ich bei SHQ reinging, irgendwas Interessantes schnappte, mich in einen der bequemen Stühle fallen ließ und merkte, wie ich in eine fremde Welt davongetragen wurde. Als meine zweite Kurzgeschichtensammlung, OVERCLOCKED, erschien, gaben sie in Zusammenarbeit mit einem ortsansässigen Illustrator, Martin Cenreda, einen Gratis-Mini-Comic heraus, der auf †œPrintcrime†, der ersten Geschichte des Buchs, basierte. Ich habe L.A. vor rund einem Jahr verlassen, und auf der Liste der Dinge, die ich vermisse, steht Secret Headquarters ganz oben.

Secret Headquarters:

http://www.thesecretheadquarters.com/

3817 W. Sunset Boulevard, Los Angeles, CA 90026 +1 323 666 2228

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Aber es war Van, und sie weinte wirklich, als sie mich so kräftig umarmte, dass ich keine Luft bekam. Egal. Ich drückte sie wieder, mein Gesicht in ihrem Haar.

†œDu bist okay!†, sagte sie.

†œIch bin okay†, brachte ich hervor.

Schließlich ließ sie von mir ab, und ein zweites Paar Arme schlang sich um mich. Jolu! Sie waren beide hier. Er flüsterte mir †œdu bist in Sicherheit, Kumpel† ins Ohr und umarmte mich noch heftiger als zuvor Van.

Als er mich losließ, schaute ich mich um. †œWo ist Darryl?†, fragte ich.

Sie sahen einander an. †œVielleicht noch im Truck†, sagte Jolu.

Wir drehten uns um und betrachteten den Laster am Ende der Gasse. Es war ein unscheinbarer weißer Neunachser. Die kleine Falt-Treppe hatte schon jemand eingezogen. Die Rücklichter leuchteten rot, und der Truck rollte unter ständigem †œpiep, piep, piep† im Rückwärtsgang auf uns zu.

†œWarten Sie!†, schrie ich, als er in unsere Richtung beschleunigte. †œWarten Sie! Was ist mit Darryl?† Der Truck kam näher. Ich schrie weiter, †œwas ist mit Darryl?†

Jolu und Vanessa nahmen mich bei den Armen und zerrten mich weg. Ich wehrte mich dagegen und schrie. Der Laster erreichte den Anfang der Gasse, schwenkte auf die Straße und fuhr bergab davon. Ich wollte hinterherrennen, aber Van und Jolu ließen mich nicht los.

Ich setzte mich auf den Bürgersteig, zog die Knie an und weinte. Ich weinte, weinte, weinte, lautes Schluchzen, wie ich es zuletzt als kleines Kind getan hatte. Es hörte nicht auf, und ich hörte nicht auf zu zittern.

Vanessa und Jolu halfen mir hoch und zogen mich ein Stückchen die Straße hoch. Da gabs ne Stadtbushaltestelle mit einer Bank, auf die setzten sie mich drauf. Sie weinten beide auch; so hielten wir uns ne Weile gegenseitig fest, und ich wusste, wir weinten um Darryl, den wir alle wohl nie wiedersehen würden.

Wir waren nördlich von Chinatown, in der Ecke, wo es in North Beach übergeht; ein Viertel mit einigen Neon-Stripclubs und dem legendären Subkultur-Buchladen City Lights, wo damals in den 1950ern die Beat-Dichterbewegung begründet worden war.

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Diesen Teil der Stadt kannte ich gut. Hier gab es den Lieblings-Italiener meiner Eltern, und sie nahmen mich gern dorthin mit auf Monsterportionen Linguine, üppige Berge italienischer Eiscreme mit kandierten Feigen und hinterher tödliche kleine Espressos.

Jetzt war es ein anderer Ort. Ein Ort, an dem ich zum ersten Mal nach einer gefühlten Ewigkeit die Freiheit schmeckte.

Wir kramten unsere Taschen durch und fanden genug Geld, um uns einen Tisch bei einem der italienischen Restaurants erlauben zu können, auf dem Bürgersteig, unter einer Markise. Die hübsche Bedienung entzündete einen Gas-Heizpilz mit einem Grillfeuerzeug, nahm unsere Bestellungen auf und ging nach drinnen. Das Gefühl, Aufträge erteilen zu können, mein Schicksal unter meiner Kontrolle zu wissen, war das faszinierendste Gefühl, das ich kannte.

†œWie lang waren wir da drin?†, fragte ich.

†œSechs Tage†, entgegnete Vanessa.

†œIch komm auf fünf†, sagte Jolu.

†œIch hab nicht gezählt.†

†œWas haben sie mit dir gemacht?†, wollte Vanessa wissen.

Ich mochte eigentlich nicht drüber sprechen, aber sie schauten mich beide erwartungsvoll an. Und als ich dann erst mal angefangen hatte, konnte ich nicht mehr aufhören. Ich erzählte ihnen alles, auch den Part, als ich gezwungen war, in die Hose zu pinkeln, und sie schwiegen die ganze Zeit. Als die Bedienung unsere Limos brachte, machte ich einen Moment Pause, bis sie wieder außer Hörweite war, dann erzählte ich zu Ende. Beim Erzählen verschwand alles irgendwie in der Ferne. Am Ende hätte ich nicht mehr sagen können, ob ich die Fakten noch überhöhte oder ob ich alles weniger schlimm darstellte, als es tatsächlich war. Meine Erinnerungen schwammen herum wie kleine Fische, die ich zu fangen versuchte, und manchmal entwischten sie meinem Griff.

Jolu schüttelte den Kopf. †œMann, die waren hart zu dir†, sagte er. Dann erzählte er uns von seiner Zeit dort. Sie hatten ihn befragt, meist über mich, und er hatte ihnen immer nur die Wahrheit erzählt, die reinen Tatsachen über diesen Tag und über unsere Freundschaft. Sie hatten es ihn wieder und wieder von vorn erzählen lassen, aber immerhin hatten sie mit ihm keine Psychospielchen gespielt wie mit mir. Er hatte in einem Kasino zu essen bekommen und sogar in einem Fernsehraum die Blockbuster des letzten Jahres auf Video sehen dürfen.

Vanessas Story war nur ein wenig anders: Nachdem sie in Ungnade gefallen war, als sie mit mir gesprochen hatte, hatten sie ihr die Klamotten weggenommen und ihr einen orangefarbenen Gefängnis-Overall gegeben. Dann ließ man sie zwei Tage ohne Kontakt in der Zelle allein, allerdings bekam sie regelmäßig Essen. Aber hauptsächlich wars so wie bei Jolu: dieselben Fragen, noch und noch wiederholt.

†œDie haben dich echt gehasst†, sagte Jolu. †œDie hatten dich auf dem Kieker. Aber warum?†

Ich konnte es mir nicht sofort erklären. Aber dann erinnerte ich mich.

†œDu kannst kooperieren, oder es wird dir sehr, sehr Leid tun.†

†œWeil ich ihnen mein Telefon nicht entsperren wollte in der ersten Nacht. Deshalb haben sie mich rausgepickt.† Wirklich glauben konnte ichs nicht, aber es war die einzige Erklärung. Reiner Rachedurst. Meine Gedanken verhaspelten sich geradezu in dieser Idee. Die hatten das alles bloß gemacht, um mir ne Lehre zu erteilen, weil ich ihre Autorität nicht anerkannte.

Bisher hatte ich Angst gehabt. Jetzt war ich sauer. †œDiese Arschgeigen†, sagte ich ruhig. †œDie wollten mir bloß einen reinwürgen, weil ich meinen Mund gehalten habe.†

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Jolu fluchte, und Vanessa brauste auf Koreanisch auf, was sie nur tat, wenn sie sehr, sehr wütend war.

†œIch krieg die†, flüsterte ich in meine Brause, †œich krieg die.†

Jolu schüttelte den Kopf. †œVergiss es. Gegen so was kommst du nicht an.†

Aber in dem Moment wollte keiner von uns groß über Rache reden. Stattdessen sprachen wir drüber, was wir als nächstes tun wollten. Wir mussten heim. Unsere Handy-Akkus waren leer, und in dieser Gegend gabs schon seit Jahren keine Münztelefone mehr. Wir mussten einfach nach Hause kommen. Ich dachte sogar an ein Taxi, aber wir hatten nicht mehr genug Geld, um uns das zu erlauben.

Also gingen wir zu Fuß. An der Ecke warfen wir ein paar Münzen in den Automaten des San Francisco Chronicle und hielten an, um die ersten paar Seiten zu lesen. Die Bombenexplosionen waren zwar fünf Tage her, aber die Titelseite war immer noch voll davon.

Frau Strenger Haarschnitt hatte davon gesprochen, dass sie †œdie Brücke† hochgejagt hatten, und ich war davon ausgegangen, dass sie die Golden Gate Bridge meinte; aber damit lag ich daneben. Die Terroristen hatten die Bay Bridge gesprengt.

†œWarum zum Teufel würde jemand die Bay Bridge hochjagen?†, fragte ich. †œGolden Gate ist doch die auf allen Postkarten.† Selbst wenn du noch nie in San Francisco warst, weißt du höchstwahrscheinlich, wie Golden Gate aussieht: Das ist diese große orangefarbene Hängebrücke, die in einem dramatischen Schwung von der alten Militärbasis †œThe Presidio† hinüber nach Sausalito führt, wo sich all die niedlichen Weinland-Städtchen finden mit ihren Räucherkerzen-Läden und Kunstgalerien. Sie ist einfach höllisch malerisch und das Symbol schlechthin für den Bundesstaat Kalifornien. Im Disneyland-Abenteuerpark Kalifornien gibts gleich am Eingang einen Nachbau von Golden Gate, über den eine Einschienenbahn führt.

Deshalb war ich ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass man sich, wenn man eine Brücke in San Francisco sprengen würde, die Golden Gate aussuchen würde.

†œWahrscheinlich sind sie von all den Kameras und dem Überwachungszeug abgeschreckt worden†, sagte Jolu.

†œDie Nationalgarde checkt Autos auf beiden Seiten, und dann noch die Selbstmörderzäune und dieser Kram.† Seit Golden Gate 1937 freigegeben worden war, sprangen die Leute da runter †“ nach dem tausendsten Selbstmord anno 1995 haben sie aufgehört mitzuzählen.

†œJa†, sagte Vanessa. †œUnd außerdem führt die Bay Bridge wirklich irgendwo hin.† Die Bay Bridge verbindet Downtown San Francisco mit Oakland und Berkeley, Wohnsiedlungen an der East Bay für viele der Menschen, die in der Stadt arbeiten. Die Gegend ist eine der wenigen in der Bay Area, in der ein Normalsterblicher sich ein Haus leisten kann, in dem er die Beine ausstrecken kann, außerdem gibts dort eine Universität und ein bisschen Industrie. Die BART führt zwar auch unter der Bay durch und verbindet die beiden Städte, aber der meiste Verkehr findet auf der Bay Bridge statt. Golden Gate war ne hübsche Brücke für Touristen und reiche Pensionäre drüben im Weinland, aber hauptsächlich war sie zu Dekozwecken da. Die Bay Bridge ist †“ war †“ das Arbeitstier der Stadt.

Ich dachte einen Moment drüber nach. †œIhr habt Recht†, sagte ich. †œAber ich glaube, das ist noch nicht alles. Wir gehen immer davon aus, dass Terroristen Sehenswürdigkeiten angreifen, weil sie sie hassen. Aber Terroristen hassen keine Sehenswürdigkeiten oder Brücken oder Flugzeuge. Die wollen bloß Chaos verbreiten und Leuten Angst machen. Terror erzeugen eben. Also haben sie sich natürlich die Bay Bridge ausgesucht, weil auf der Golden Gate die ganzen Kameras installiert sind und weil sie beim Fliegen die ganzen Metalldetektoren und Röntgengeräte eingeführt haben und so.†

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Ich dachte noch eine Weile drüber nach und schaute dabei den Autos auf der Straße zu, den Leuten auf den Bürgersteigen, der ganzen Stadt um mich rum. †œTerroristen hassen weder Flugzeuge noch Brücken. Sie lieben Terror.† Das war jetzt so offensichtlich, dass ich nicht verstand, wieso ich da nicht schon früher drauf gekommen war. Schätze mal, ein paar Tage lang wie ein Terrorist behandelt zu werden hatte mein Denken entrümpelt.

Die anderen beiden starrten mich an. †œHab ich Recht oder nicht? Der ganze Dreck, dieses Röntgen und die Identitätsprüfungen, das ist alles komplett sinnlos, oder?†

Sie nickten zaghaft.

†œSchlimmer als sinnlos†, fuhr ich mit überschlagender Stimme fort. †œWeil es uns in den Knast gebracht hat und Darryl …† Ich hatte nicht mehr an Darryl gedacht, seit wir hier saßen, und jetzt kams alles zu mir zurück: Mein Freund war fort, verschwunden. Ich brach ab und presste die Kiefer aufeinander.

†œWir müssen es unseren Eltern erzählen†, sagte Jolu.

†œWir brauchen einen Anwalt†, sagte Vanessa.

Ich dachte daran, wie ich meine Geschichte erzählen würde. Daran, der Welt zu erzählen, was aus mir geworden war. An die Videos, die zweifellos auftauchen würden, auf denen ich weinte, nicht mehr war als ein kriechendes Tier.

†œWir können ihnen gar nichts erzählen†, sagte ich ohne nachzudenken.

†œWie bitte?†, entgegnete Van.

†œWir können ihnen gar nichts erzählen†, wiederholte ich. †œIhr habt sie gehört. Wenn wir reden, kommen sie und holen uns wieder. Dann machen sie mit uns, was sie mit Darryl gemacht haben.†

†œMach keine Witze†, sagte Jolu. †œDu erwartest ernsthaft, dass wir …†

†œDass wir zurückschlagen†, ergänzte ich. †œIch will frei bleiben, damit ich genau das tun kann. Wenn wir jetzt losgehen und alles erzählen, dann sagen sie, das sind bloß Kinder, die haben sich das ausgedacht. Mann, wir wissen ja noch nicht mal, wo sie uns hingebracht haben. Kein Mensch wird uns glauben. Und irgendwann kommen sie dann und holen uns.

Ich werde meinen Eltern erzählen, dass ich in einem dieser Notlager auf der anderen Seite der Bay war. Dass ich da drüben war, um euch zu treffen, und dass wir dann festsaßen. In der Zeitung steht, es gibt immer noch Leute, die jetzt erst von da zurückkommen.†

†œDas kann ich nicht machen†, sagte Vanessa. †œUnd wie kannst du nur daran denken nach all dem, was sie mit dir gemacht haben?†

†œWeil es mir passiert ist, eben drum. Das ist jetzt ne Sache zwischen denen und mir. Ich erwisch die, und ich hol Darryl raus. Ich denk nicht dran, das einfach so hinzunehmen. Aber sobald unsere Eltern was wissen, wars das für uns. Niemand wird uns glauben, und niemanden interessierts. Wenn wirs so machen, wie ich es mir denke, wird es die Leute interessieren.†

†œWie denkst dus dir denn?†, fragte Jolu. †œWas ist dein Plan?†

†œWeiß ich noch nicht†, musste ich zugeben. †œLasst mir Zeit bis morgen früh, wenigstens bis dann.† Ich wusste: Wenn sie einen Tag lang dicht halten würden, dann würden sie für immer dicht halten. Unsere Eltern wären ja nur noch skeptischer, wenn wir uns plötzlich dran †œerinnerten†, in einem Geheimgefängnis festgehalten worden zu sein statt in einem Flüchtlingslager.

Van und Jolu schauten einander an.

†œIch will doch nur eine Chance†, sagte ich. †œWir machen die Geschichte unterwegs noch rund. Gebt mir bloß diesen einen Tag bitte.†

Die anderen beiden nickten düster, und wir machten uns auf den Weg bergab, auf den Weg nach Hause.

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Ich lebte auf Potrero Hill, Vanessa in der nördlichen Mission, und Jolu lebte in Noe Valley †“ drei total unterschiedliche Viertel, nur ein paar Gehminuten voneinander entfernt.

Wir bogen in die Market Street ein und blieben stehen wie angewurzelt. Die Straße war an allen Ecken verbarrikadiert, die Querstraßen auf eine Spur verengt, und über die gesamte Länge von Market Street parkten große, unscheinbare Neunachser wie der, mit dem sie uns, mit Kapuzen über den Augen, von den Schiffsdocks nach Chinatown transportiert hatten.

Alle hatten sie hinten dreistufige Metallleitern befestigt, und es wimmelte nur so von Soldaten, Anzugträgern und Polizisten, die in die Trucks rein- und wieder rausgingen. Die Anzüge hatten kleine Etiketten an den Revers, die die Soldaten beim Rein- und Rauskommen scannten †“ drahtlose Zugangsberechtigungs-Buttons. Als wir an einem vorbeikamen, erhaschte ich einen näheren Blick und sah das vertraute Logo: Ministerium für Heimatschutz. Der Soldat sah, wie ich hinstarrte, und starrte mit wütendem Blick zurück.

Ich verstand den Wink und ging weiter. Höhe Van Ness trennte ich mich von der Gang. Wir umarmten einander, weinten und versprachen, uns anzurufen.

Für den Weg zurück nach Potrero Hill gibt es eine leichte und eine schwere Route; die zweite führt über einige der steilsten Hügel der Stadt, die Sorte, die man bei Autoverfolgungsjagden in Actionfilmen sieht, wo die Autos abheben, wenn sie über den höchsten Punkt rasen. Ich nehm immer die schwere Route nach Hause. Die führt durch herrschaftliche Straßen mit alten viktorianischen Häusern, die wegen ihrer fröhlichen, sorgfältigen Bemalung †œlackierte Ladies† genannt werden, und Vorgärten mit duftenden Blumen und hohen Gräsern. Von Hecken runter glotzen dich Hauskatzen an, und es gibt kaum Obdachlose dort.

Es war so still auf diesen Straßen, dass ich bald wünschte, ich hätte diesmal die andere Route genommen, durch die Mission; die ist…, hm, lärmend ist wahrscheinlich das beste Wort dafür. Laut und pulsierend. Jede Menge krawallige Betrunkene, zornige Kokser und bewusstlose Junkies, dazu jede Menge Familien mit Kinderwagen, alte Damen, die auf Verandas schnatterten, tiefergelegte Kreuzer mit fettem Soundsystem, die mit wumm-wumm-wumm die Straßen entlangfuhren.

Es gab hippes Jungvolk, zottelige Emo-Kunststudenten und sogar einige Old-School-Punkrocker, alte Säcke mit Bierbäuchen unter ihren Dead-Kennedys-T-Shirts. Dazu Drag Queens, auf Krawall gebürstete Gang-Kids, Graffitikünstler und verwirrte Neureiche, die versuchten, hier nicht ermordet zu werden, während ihre Grundstücksinvestitionen reiften.

Ich ging Goat Hill rauf und kam an Goat Hill Pizza vorbei; das erinnerte mich an den Knast, aus dem ich kam, und ich musste mich auf die Bank vor dem Restaurant setzen, bis mein Zittern sich gelegt hatte. Dann bemerkte ich den Truck oben auf dem Hügel, einen unauffälligen Neunachser mit drei Metallstufen am hinteren Ende. Ich stand auf und setzte mich in Bewegung. Ich fühlte, wie die Augen mich aus allen Richtungen beobachteten.

Den Rest des Weges hatte ichs eilig. Ich hatte keine Augen mehr für die lackierten Ladies, die Gärten oder die Hauskatzen. Ich blickte nur zu Boden.

Beide Autos meiner Eltern standen in der Auffahrt, obwohl es noch mitten am Tag war. Ja logisch. Dad arbeitet in der East Bay, deshalb saß er daheim fest, solange sie an der Brücke arbeiteten. Mom †“ keine Ahnung, warum Mom daheim war.

Sie waren wegen mir daheim.

Noch bevor ich den Schlüssel fertig umgedreht hatte, wurde mir die Tür aus der Hand gerissen und weit aufgeschwungen. Da standen meine Eltern, grau und übernächtigt, und starrten mich aus großen Augen an. So standen wir für einen Moment, wie in einem Stillleben eingefroren, dann stürzten sie auf mich zu, zogen mich ins Haus und warfen mich beinahe dabei um. Sie redeten beide so laut und schnell durcheinander, dass ich bloß ein wortlos rauschendes Brabbeln hörte, und sie umarmten mich beide, und sie weinten, und ich weinte auch, und so standen wir da in dem schmalen Flur und weinten und brabbelten Zeug, bis uns die Luft ausging und wir in die Küche gingen.

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Dort tat ich, was ich immer tat, wenn ich heimkam: Ich füllte ein Glas mit Wasser aus dem Filter im Kühlschrank und holte ein paar Kekse aus der †œBiskuitbüchse†, die Moms Schwester uns aus England geschickt hatte. Die Normalität von all dem bremste das Hämmern meines Herzens, es synchronisierte mein Herz mit meinem Gehirn; und kurz darauf saßen wir alle am Küchentisch.

†œWo warst du?†, fragten sie beinahe gleichzeitig.

Darüber hatte ich auf dem Weg nach Hause nachgedacht. †œHab festgesessen†, erwiderte ich. †œIn Oakland. Ich war da mit ein paar Freunden für ein Projekt, und wir wurden alle in Quarantäne gesteckt.†

†œFünf Tage lang?†

†œJa†, sagte ich. †œJa. Das war richtig ätzend.† Ich hatte über die Quarantäne im Chronicle gelesen und bediente mich jetzt hemmungslos aus den Zitaten, die sie da abgedruckt hatten. †œJa. Alle, die von der Wolke erwischt wurden. Die dachten wohl, wir hätten uns da irgendwas Übles aufgesammelt, und haben uns dann in den Docklands in Schiffscontainer gesteckt wie Ölsardinen. Mann, war das heiß und stickig. Und viel was zu essen gabs auch nicht.†

†œO Gott†, sagte Dad und ballte die Fäuste auf dem Tisch. Dad unterrichtet drei Tage die Woche in einem Graduiertenprogramm in der Bibliothek in Berkeley. Die übrige Zeit arbeitet er als Berater für Kunden in der Stadt und auf der Peninsula, für Dot-Coms der dritten Welle, die irgendwelche Sachen mit Archiven machen. Beruflich ist er ein liebenswürdiger Bibliothekar, aber in den Sechzigern war er ein echter Radikaler gewesen, und er hatte an der High School ein bisschen Wrestling betrieben.
Ich hatte ihn schon ein paar Mal fuchsteufelswild gesehen †“ manchmal hatte ich ihm Anlass dazu gegeben -, und wenn er zum Hulk wurde, dann konnte er echt explodieren. Einmal warf er eine Ikea-Schaukel quer über den ganzen Rasen meines Großvaters, als das Ding auch beim fünfzigsten Zusammenbauen wieder einstürzte.

†œBarbaren†, sagte Mom. Seit sie ein Teenager war, lebte sie schon in Amerika, aber wenn sie es mit amerikanischen Bullen, dem Gesundheitssystem, Flughafensicherheit oder Obdachlosigkeit zu tun hat, dann kommt sie immer noch total britisch rüber. Dann heißt es †œBarbaren†, und ihr Akzent wird wieder stärker. Wir waren zwei Mal in London gewesen, um ihre Familie zu besuchen, und ich fand nicht, dass es sich nennenswert zivilisierter anfühlte als San Francisco, bloß viel verstopfter.

†œAber heute haben sie uns rausgelassen und mit der Fähre rübergebracht†, improvisierte ich jetzt.

†œBist du verletzt?†, fragte Mom? †œHungrig?†

†œSchläfrig?†

†œJa, bisschen von allem. Und Dopey, Doc, Sneezy und Bashful.† Wir hatten diese Familientradition, Sieben-Zwerge-Witze zu machen. Beide lächelten ein wenig, aber ihre Augen waren immer noch feucht. Sie mussten außer sich vor Sorge gewesen sein. Ich war dankbar dafür, das Thema wechseln zu können. †œIch brauch dringend was zu essen.†

†œIch bestelle eine Pizza bei Goat Hill†, sagte Dad.

†œAch ne, bitte nicht†, sagte ich. Beide schauten sie mich an, als ob mir Antennen gewachsen wären. Normalerweise steh ich auf Goat Hill Pizza †“ also so, wie ein Goldfisch auf sein Futter steht: ich spachtel das Zeug, bis nichts mehr da ist oder bis ich platze. Ich versuchte zu lächeln. †œHab grade keine Lust auf Pizza†, sagte ich bloß. †œWollen wir nicht lieber Curry bestellen?† Dem Himmel sei Dank, dass San Francisco die Hauptstadt der Lieferdienste ist.

Mom ging zur Schublade mit den Liefer-Speisekarten (noch mehr Normalität, ein Gefühl wie ein Schluck Wasser in der trockenen, wunden Kehle) und blätterte sie durch. Ein paar Minuten lenkten wir uns damit ab, die Karte des Pakistani auf der Valencia zu studieren.

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Ich entschied mich für gemischten Tandoori-Grillteller mit sahnigem Spinat und Frischkäse, gesalzener Mango-Lassi (viel besser, als es klingt) und kleines Gebäck in Zuckersirup.

Als das Essen bestellt war, ging die Fragerei weiter. Sie hatten von Vans, Jolus und Darryls Familien gehört, klar, und hatten versucht, uns als vermisst zu melden. Die Polizei schrieb zwar Namen auf, aber es gab so viele †œverschollene Personen†, dass sie erst nach sieben Tagen eine offizielle Vermisstenmeldung akzeptierten.

Derweil waren Millionen von †œWer-hat-wen-gesehen†-Seiten im Internet entstanden. Einige davon waren alte MySpace-Klone, denen das Geld ausgegangen war und die sich von all der Aufmerksamkeit Wiederbelebung erhofften. Immerhin vermissten auch einige Risikokapitalgeber Familienangehörige in der Bay Area. Und wenn die aufgefunden werden würden, vielleicht brächte das der Site dann neue Finanzspritzen? Ich schnappte mir Dads Laptop und schaute die Seiten durch. Vollgekleistert mit Anzeigen, logisch, und Bilder von Vermissten, meist Schulabschluss-Fotos, Hochzeitsfots und derlei Sachen. Insgesamt ziemlich gruselig.

Ich fand mein Bild und sah, dass es mit Vans, Jolus und Darryls verknüpft war. Es gab ein kleines Formular, mit dem man Leute als gefunden kennzeichnen konnte, und ein anderes, das für Notizen über andere Vermisste gedacht war. Ich füllte die Felder für mich, Jolu und Van aus und ließ Darryls leer.

†œDu hast Darryl vergessen†, sagte Dad. Er mochte Darryl nicht besonders, seit er mal bemerkt hatte, dass in einer der Flaschen in seinem Spirituosenschrank ein paar Zoll fehlten und ich es †“ das ist mir heute noch peinlich †“ auf Darryl geschoben hatte. In Wirklichkeit waren wirs beide gewesen, nur so zum Spaß, ein paar Wodka-Cola beim nächtelangen Computerspielen.

†œEr war nicht bei uns†, sagte ich. Die Lüge ging mir schwer über die Lippen.

†œO mein Gott†, sagte Mom. Sie krallte ihre Hände ineinander. †œAls du kamst, hatten wir angenommen, dass ihr alle zusammen wart.†

†œNein†, log ich weiter. †œNein, er wollte uns treffen, aber er kam nicht. Wahrscheinlich sitzt er noch in Berkeley fest. Er wollte die BART rüber nehmen.†

Mom gab ein leises Wimmern von sich, und Dad schüttelte den Kopf und schloss die Augen. †œHast du noch nicht von der BART gehört?†, fragte er.

Ich schüttelte den Kopf. Ich ahnte, was nun kommen würde, und es fühlte sich an, als ob mir jemand den Boden unter den Füßen wegzog.

†œSie haben sie gesprengt†, sagte Dad. †œDie Bastarde haben sie hochgejagt, zur selben Zeit wie die Brücke.†

Das hatte nun nicht auf der ersten Seite des Chronicle gestanden, aber schließlich war auch eine BART-Explosion im Unterwasser-Tunnel vermutlich nicht halb so bildgewaltig wie die Brücke, wie sie da in Fetzen über der Bay hing. Der BART-Tunnel vom Embarcadero in San Francisco bis rüber zur Station West Oakland war überflutet.

Ich ging wieder an Dads Computer und surfte auf den Nachrichtenseiten. Niemand wusste Genaues, aber die Opferzahl ging in die Tausende. Von den Autos, die 60 Meter tief ins Meer gestürzt waren, zu den Menschen, die in Zügen ertranken: die Opferzahlen stiegen noch. Ein Reporter behauptete, er habe einen †œIdentitätsfälscher† interviewt, der †œDutzenden† von Menschen dabei geholfen habe, nach den Anschlägen einfach aus ihrem alten Leben zu verschwinden †“ die ließen sich neue IDs machen und ließen unglückliche Ehen, drückende Schulden und missratene Lebensläufe einfach hinter sich.

Dad hatte tatsächlich Tränen in den Augen, und Mom weinte hemmungslos. Beide umarmten sie mich noch mal und betätschelten mich, als wollten sie sich vergewissern, dass ichs tatsächlich war. Sie hörten nicht auf, mir zu sagen, dass sie mich liebten. Ich sagte ihnen, ich liebte sie auch.

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Es war ein tränenreiches Abendessen, und Mom und Dad tranken beide ein paar Gläser Wein, was für ihre Verhältnisse viel war. Dann sagte ich ihnen, ich sei todmüde, was nicht gelogen war, und stratzte in mein Zimmer rauf. Aber ins Bett ging ich nicht. Ich musste noch mal online gehen und rausfinden, was eigentlich los war. Ich musste mit Jolu und Vanessa reden. Und ich musste mit der Suche nach Darryl beginnen.

Ich schlich also zu meinem Zimmer hoch und öffnete die Tür. Mein altes Bett hatte ich jetzt gefühlte tausend Jahre nicht gesehen. Ich legte mich drauf und langte zum Nachttisch, um meinen Laptop zu holen.Vermutlich hatte ich ihn nicht richtig angestöpselt †“ das Netzteil anzuschließen war ein bisschen frickelig -, deshalb hatte er sich während meiner Abwesenheit langsam entladen.

Ich stöpselte ihn wieder ein und wartete ein, zwei Minuten, bevor ich ihn wieder einzuschalten versuchte. In der Zwischenzeit zog ich mich aus, warf meine Klamotten in den Müll †“ die wollte ich nämlich nie wieder sehen †“ und zog saubere Boxershorts und ein frisches T-Shirt an. Die frisch gewaschene Wäsche, direkt aus der Schublade, fühlte sich genauso vertraut und gemütlich an wie eine Umarmung von meinen Eltern.

Ich schaltete den Laptop ein und stopfte ein paar Kissen hinter mir ans Kopfende des Betts. Dann lehnte ich mich zurück und legte mir den aufgeklappten Computer auf den Schoß. Er war immer noch am Hochfahren, und die Icons, die da so über das Display krochen, Mann, sah das gut aus. Er fuhr vollständig hoch und zeigte dann gleich neue Warnungen über niedrigen Akkustand. Ich prüfte das Stromkabel noch mal, rüttelte dran, und die Warnungen verschwanden. Die Netzbuchse gab echt bald den Geist auf.

Genau genommen wars so übel, dass ich überhaupt nichts tun konnte. Jedes Mal, wenn ich die Hand vom Stromkabel nahm, verlor es den Kontakt, und der Computer fing wieder an, über den Akku zu meckern. Das musste ich mir mal genauer ansehen.

Das gesamte Computergehäuse war ganz leicht in sich verschoben, die Nahtstelle war vorn dicht und ging in einem gleichmäßigen Winkel nach hinten auseinander.

Manchmal schaust du dir ja irgendein Gerät an und entdeckst irgendwas, und dann fragst du dich, ob das immer schon so war. Vielleicht ist es dir ja bloß nie aufgefallen.

Aber bei meinem Laptop konnte das nicht sein. Den hatte ich immerhin selbst gebaut. Nachdem die Schulbehörde uns alle mit SchulBooks ausstaffiert hatte, hätten meine Eltern mir nie und nimmer noch einen eigenen Computer gekauft, obwohl das SchulBook ja streng genommen nicht mir gehörte, und auf dem sollte ich ja keine Software installieren oder es sonstwie tunen.

Aber ich hatte was gespart †“ hier und da mal ein Job, Weihnachten, Geburtstage, ein bisschen cleveres Ebaying. Wenn man das alles zusammenlegte, war es genug Geld, eine total schrottige, fünf Jahre alte Mühle zu kaufen.

Also bauten Darryl und ich uns selbst einen. Laptopgehäuse kann man genauso kaufen wie Desktop-Gehäuse, allerdings sind sie schon etwas spezieller als 08/15-PCs. Ein paar Rechner hatte ich mit Darryl über die Jahre schon zusammengeschraubt, indem wir Teile von Craigslist und Garagenverkäufen und superbilligen taiwanesischen Online-Händlern zusammentrugen. Also dachte ich, einen Laptop zu bauen wäre der beste Weg, zu einem Preis, den ich mir leisten konnte, die Leistung zu bekommen, die ich haben wollte.

Wenn du einen Laptop bauen willst, fängt es damit an, dass du ein †œBarebook† bestellst †“ ein Gehäuse mit einem Minimum an Hardware drin und mit allen wichtigen Einschüben. Und das Gute war, dass ich letztlich einen Rechner hatte, der ein ganzes Pfund leichter war als der Dell, den ich im Auge gehabt hatte, schneller war und nur ein Drittel dessen kostete, was ich für den Dell gelöhnt hätte. Das Schlechte war, dass Laptopbauen was von Flaschenschiffbauen hat.

Es ist total frickelig, man braucht ne Pinzette und eine Lupenbrille, wenn man versucht, all das Zeug in dem kleinen Gehäuse unterzubringen. Im Gegensatz zu einem normal großen Rechner, der ja hauptsächlich aus Luft besteht, wird jeder Kubikmillimeter Raum in einem Laptop tatsächlich gebraucht.

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Jedes Mal, wenn ich dachte, jetzt hätte ichs, versuchte ich die Kiste zuzuschrauben und merkte dann, dass da immer noch irgendwas war, das das Gehäuse daran hinderte, sich komplett schließen zu lassen, und dann gings wieder zurück ans Zeichenbrett.

Von daher wusste ich ganz genau, wie die Nahtstelle meines Laptops aussehen musste, wenn das Ding zu war; und so durfte sie ganz sicher nicht aussehen.

Ich wackelte also weiter am Netzadapter, aber es hatte keinen Zweck. Ich würde die Kiste nicht sauber zum Booten bringen, ohne sie einmal auseinanderzuschrauben. Ich stöhnte und stellte den Laptop neben das Bett. Darum würde ich mich morgen früh kümmern.

So weit zur Theorie, haha … Zwei Stunden später starrte ich immer noch an die Decke und ließ die Filme in meinem Kopf ablaufen, was sie mit mir gemacht hatten, was ich hätte tun sollen, jede Menge Bedauern und †œesprit d†™escalier†.

Ich wälzte mich aus dem Bett. Inzwischen wars Mitternacht, und ich hatte um elf gehört, wie meine Eltern in die Falle krochen. Ich schnappte mir den Laptop, schaufelte etwas Platz auf dem Schreibtisch frei, klippte kleine LED-Lampen an den Seiten meiner Vergrößerungsbrille an und holte einen Satz kleiner Präzisionsschraubendreher. Eine Minute später hatte ich das Gehäuse geöffnet und blickte auf die Eingeweide meines Laptops. Ich holte eine Dose Druckluft, pustete den Staub weg, den der Lüfter reingesogen hatte, und schaute alles durch.

Irgendwas stimmte nicht. Ich konnte nicht genau sagen, was, aber schließlich wars ja auch schon Monate her, dass ich den Deckel von diesem Ding runterhatte. Zum Glück war ich beim dritten Mal Auf- und mühsamem Wiederzumachen schlauer geworden. Ich hatte ein Foto des Innenlebens gemacht mit allem an seinem richtigen Platz.

So richtig schlau war ich aber noch nicht: Zuerst hatte ich das Foto bloß auf der Festplatte gelassen, und da kam ich natürlich nicht ran, wenn ich den Laptop zerlegt hatte. Aber dann hatte ichs ausgedruckt und irgendwo in meinem Wust von Papieren versenkt, diesem Friedhof toter Bäume, wo ich alle Garantieunterlagen und Schaltdiagramme deponierte. Ich blätterte den Stapel durch †“ irgendwie sah er unordentlicher aus, als ich ihn in Erinnerung hatte †“ und holte mein Foto raus. Das legte ich neben den Computer, dann versuchte ich meine Augen auf nichts Bestimmtes zu fokussieren und Dinge zu finden, die deplatziert schienen.

Dann hatte ichs. Das Verbindungskabel zwischen Tastatur und Mainboard saß nicht richtig drin. Das war merkwürdig. Auf diesem Teil lastete kein Zug, da war nichts, das es im normalen Betrieb hätte verschieben können. Ich versuchte es wieder richtig reinzudrücken und entdeckte, dass der Stecker nicht bloß schief drinsaß †“ da war irgendwas zwischen ihm und dem Mainboard. Ich holte es mit der Pinzette raus und leuchtete es an.

Das war was Neues in meiner Tastatur. Ein kleines Bröckchen Hardware, nur gut einen Millimeter dick, ohne Kennzeichnung. Das Keyboard war daran angeschlossen, und es selbst war ans Mainboard angestöpselt. Mit anderen Worten: Es war am genau richtigen Platz, um alle Tastatureingaben aufzuzeichnen, während ich an der Maschine tippte.

Es war eine Wanze.

Mein Herz pochte bis zu den Ohren. Es war dunkel und ruhig im Haus, aber es war keine beruhigende Dunkelheit. Da draußen waren Augen, Augen und Ohren, und die beobachteten mich. Überwachten mich. Die Überwachungsmaßnahmen aus der Schule waren mir bis nach Hause gefolgt, aber dieses Mal schaute mir nicht nur die Schulbe hörde über die Schulter: Die Heimatschutzbehörde war jetzt auch dabei.

Fast hätte ich die Wanze rausgenommen. Dann fiel mir ein, dass derjenige, der das Ding eingebaut hatte, merken würde, wenn es nicht mehr drin war. Mir wurde übel dabei, aber ich ließ es drin.

Ich schaute rum, ob mir noch mehr Eingriffe auffielen. Ich fand sonst nichts, aber bedeutete das auch, dass wirklich nichts da war?

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Jemand war in mein Zimmer eingedrungen und hatte dieses Gerät installiert †“ er hatte meinen Laptop zerlegt und wieder zusammengebaut. Es gab noch etliche andere Möglichkeiten, einen Computer anzuzapfen. Die würde ich niemals alle finden.

Mit tauben Fingern baute ich die Maschine wieder zusammen. Dieses Mal ließ sich nicht nur das Gehäuse sauber schließen, sondern das Stromkabel blieb auch drin. Ich fuhr den Rechner hoch und war schon mit den Fingern auf der Tastatur, um ein paar Prüfungen laufen zu lassen und die Dinge zu sortieren.

Aber ich konnte es nicht.

Verdammt, vielleicht war mein ganzes Zimmer verwanzt. Vielleicht spähte mich grade eine Kamera aus.

Als ich heimkam, hatte ich mich schon paranoid gefühlt. Aber jetzt war ich völlig neben der Spur. Ich fühlte mich so, als ob ich wieder im Knast wäre, wieder im Befragungszimmer, verfolgt von Mächten, die mich vollständig unter Kontrolle hatten. Fast fing ich wieder an zu weinen.

Nur noch dieses eine.

Ich ging ins Badezimmer, nahm die Klopapierrolle raus und setzte eine neue ein. Zum Glück war die alte sowieso fast leer. Ich rollte den Rest Papier ab und kramte in meiner Teilekiste, bis ich den kleinen Plastikumschlag mit den ultrahellen weißen LEDs gefunden hatte, die ich aus einer kaputten Fahrradleuchte ausgebaut hatte. Vorsichtig drückte ich ihre Anschlüsse durch die Plastikröhre, nachdem ich mit einer Nadel passende Löcher gemacht hatte; dann holte ich Draht und schaltete sie alle mit kleinen Metallklammern in Reihe. Die Kabelenden bog ich passend zurecht und schloss sie an eine 9-Volt-Batterie an. Jetzt hatte ich eine Röhre mit einem Ringlicht aus ultrahellen, gerichteten LEDs, die ich vors Auge halten und durchschauen konnte.

So eine hatte ich letztes Jahr als Projektbeitrag zur Wissenschafts-Messe gebaut, und man hatte mich aus der Ausstellung geworfen, nachdem ich gezeigt hatte, dass in der Hälfte aller Klassenzimmer in Chavez High versteckte Kameras installiert waren. Stecknadelkopfgroße Videokameras kosten heutzutage weniger als ein gutes Abendessen im Restaurant, deshalb tauchen sie an allen Ecken und Enden auf.

Tückische Ladenangestellte installieren das Zeug in Umkleidekabinen oder Sonnenstudios und werden spitz von dem Zeug, das ihnen da von den Kunden präsentiert wird; manchmal laden sies auch bloß ins Internet hoch. Zu wissen, wie man aus einer Klopapierrolle und Kleinteilen für drei Dollar einen Kameradetektor baut, ist einfach nur vernünftig.

Das ist die einfachste Methode, eine Schnüffelkamera zu erwischen. Die haben zwar winzige Objektive, reflektieren aber trotzdem wie Sau. Am besten funktioniert das in einem abgedunkelten Zimmer: Guck durch die Röhre und such langsam die Wände ab und all die anderen Orte, wo jemand eine Kamera versteckt haben könnte, bis du den Hauch einer Reflexion siehst. Wenn die Reflexion da bleibt, wenn du dich bewegst, ist es ein Objektiv.

In meinem Zimmer war keine Kamera †“ zumindest keine, die ich erkennen konnte. Audio-Wanzen hätten natürlich trotzdem da sein können. Oder bessere Kameras. Oder gar nichts. Kann ich was dafür, dass ich Paranoia entwickelte?

Ich mochte diesen Laptop gern. Ich nannte ihn †œSalmagundi†, was soviel heißt wie †œetwas aus Ersatzteilen Zusammengebautes†.

Wenn man erst mal damit anfängt, seinem Laptop einen Namen zu geben, ist klar, dass man eine enge Beziehung zu dem Teil hat. Aber jetzt hatte ich das Gefühl, ich würde ihn nie wieder berühren mögen. Ich wollte ihn aus dem Fenster werfen. Wer weiß, was die damit gemacht hatten? Wer weiß, wie der angezapft war?

Ich klappte ihn zu, steckte ihn in eine Schublade und starrte an die Decke. Es war spät, und ich sollte schlafen. Aber jetzt konnte ich schon mal gar nicht schlafen. Ich war verwanzt. Jeder konnte verwanzt sein.

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Die Welt war für immer eine andere geworden.

†œIrgendwie krieg ich die†, sagte ich. Das war ein Schwur, ich wusste es, als ich es hörte, obwohl ich nie zuvor einen Schwur geleistet hatte.

Jetzt konnte ich nicht mehr schlafen. Und außerdem hatte ich eine Idee.

Irgendwo im Schrank hatte ich noch einen eingeschweißten Karton mit einer unberührten, originalverpackten Xbox Universal. Jede Xbox war deutlich unter Herstellungspreis verkauft worden †“ Microsoft macht das meiste Geld damit, Lizenzgebühren von Spielefirmen zu nehmen, die Xbox-Spiele vertreiben wollen -, aber die Universal war die erste Xbox, die Microsoft völlig gratis unters Volk brachte.

Letzten Advent standen an jeder Ecke arme Loser, verkleidet als Krieger aus der Halo-Serie, und hauten Taschen mit diesen Spielkonsolen raus, so schnell sie konnten. Scheint funktioniert zu haben †“ jeder sagt, sie hätten einen Riesenberg Spiele verkauft. Natürlich gabs Sicherheitsvorkehrungen, damit du damit wirklich nur Spiele von Firmen spielen konntest, die dafür Lizenzen von Microsoft erworben hatten.

Hacker gehen durch solche Sperren glatt durch. Die Ur-Xbox wurde von nem Jungen am MIT gecrackt, der dann einen Bestseller drüber schrieb; dann war die 360 an der Reihe, und danach ging die kurzlebige Xbox portable in die Knie (wir nannten sie †œdie Schleppbox†, weil sie drei Pfund wog). Die Universal sollte komplett kugelsicher sein. Die Highschool-Kids, die sie knackten, waren brasilianische Linux-Hacker, die in einer Favela lebten, einer illegalen Armen-Siedlung.

Unterschätze nie die Entschlossenheit eines Jungen mit viel Zeit und wenig Geld.

Als die Brasilianer ihren Hack veröffentlichten, fuhren wir alle drauf ab. Bald gabs Dutzende alternativer Betriebssysteme für die Xbox Universal. Meine erste Wahl war ParanoidXbox, eine Variante von ParanoidLinux. Dieses Betriebssystem geht davon aus, dass der Benutzer von seiner Regierung unter Druck gesetzt wird (ursprünglich war es für chinesische und syrische Dissidenten gedacht), und ist darauf ausgelegt, deine Kommunikation und deine Dokumente möglichst geheim zu halten.

Es setzt sogar Pseudokommunikation in Gang, um den Umstand zu verschleiern, dass du grade was Geheimes machst. Während du zum Beispiel Buchstabe für Buchstabe eine politische Nachricht erhältst, tut ParanoidLinux so, als surfst du im Web und flirtest in Chats. Dabei ist jeder fünfhundertste Buchstabe, der bei dir ankommt, Teil der eigentlichen Nachricht, eine Nadel in einem gigantischen Heuhaufen.

Ich hatte mir ne ParanoidXbox-DVD gebrannt, als es frisch draußen war, aber irgendwie war ich nie dazu gekommen, die Xbox in meinem Schrank auszupacken, einen Fernseher zum Anschließen zu finden und so weiter. Mein Zimmer ist auch so schon verstopft genug, ohne dass Microsoft-Crashware wertvollen Raum beansprucht.

Heute Nacht würde ich den Raum opfern. Es dauerte etwa zwanzig Minuten, bis alles lief. Keine Glotze zu haben war das kniffligste Problem, aber dann fiel mir ein, dass ich noch einen kleinen LCD-Projektor mit Standard-TV-Eingängen hatte. Ich schloss die Xbox an, warf das Bild an meine Zimmertür und installierte ParanoidLinux.

Jetzt war ich soweit, und ParanoidLinux suchte nach anderen Xbox Universals, mit denen es sprechen konnte. Jede Xbox Universal hat WLAN für Mehrspieler-Modi eingebaut. Du kannst dich mit deinen Nachbarn direkt drahtlos verbinden oder übers Internet, wenn du einen drahtlosen Zugang hast. Ich fand drei Nachbarn in Funkreichweite. Zwei davon hatten ihre Xbox Universal auch mit dem Internet verbunden. Das war für ParanoidXbox ideal: Es konnte einen Teil der Internet-Verbindungen der Nachbarn für sich abzweigen und so über das Spielenetzwerk selbst online gehen. Den Nachbarn würde das bisschen Datentransfer nicht auffallen: Sie hatten Flatrate-Internetverbindungen, und nachts um zwei surften sie selbst nicht viel.

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Das Beste an all dem war, dass ich wieder das Gefühl hatte, alles unter Kontrolle zu haben. Meine Technik arbeitete für mich, diente mir, beschützte mich. Sie schnüffelte mir nicht hinterher. Dafür liebte ich Technik: Wenn du sie richtig benutzt, gibt sie dir Macht und Privatsphäre.

Mein Gehirn lief jetzt auf vollen Touren. Es gab ne Menge Gründe, mit ParanoidXbox zu arbeiten †“ vor allem, dass jeder dafür Spiele schreiben konnte. MAME, der †œMultiple Arcade-Maschinen-Emulator†, war schon portiert, so dass man praktisch jedes je geschriebene Spiel laufen lassen konnte, ganz bis zurück zu Pong †“ Spiele für den Apple ][+, für die Colecovision, für die NES, die Dreamcast und so weiter.

Und noch besser waren all die coolen Multiplayer-Spiele, die speziell für ParanoidXbox geschrieben waren †“ kostenlose Spiele von Hobbyprogrammierern, die jeder benutzen konnte. Alles in allem hattest du also ne Gratiskonsole mit lauter Gratisspielen, die dir Gratis-Internetzugang verschaffte.

Und am besten war, soweit es mich betraf, dass ParanoidXbox wirklich paranoid war. Dein gesamter Datenverkehr wurde bis zur Unkenntlichkeit verquirlt. Man könnte es abhören, so viel man wollte, aber man würde nicht rauskriegen, wer da sprach, worüber sie sprachen oder mit wem. Anonymes Web, Mail und Messaging. Genau das, was ich brauchte.

Jetzt musste ich nur noch jeden, den ich kannte, dazu bringen, es auch zu benutzen. – Fortsetzung Kapitel 6

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Hintergründe, Handlung und weitere Informationen zu Little Brother findet ihr unter: Jugendthriller: Little Brother von Cory Doctorow komplett im Netz

Hier handelt es sich um die deutsche Übersetzung von Christian Wöhrl

Little Brother ist unter einem Creative Commons Namensnennung-Keine kommerzielle Nutzung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenzvertrag lizenziert.

Das Original wurde unter: http://craphound.com/littlebrother veröffentlicht.

Little Brother von Cory Doctorow: Kapitel 4

Little Brother

Kapitel 4

Dieses Kapitel ist Barnes and Noble gewidmet, einer US-Kette von Buchläden. Während Amerikas Mami-und-Papi-Buchhandlungen verschwanden, begann Barnes and Noble überall im Land diese gigantischen Lesetempel hochzuziehen. Mit einem Lager von zehntausenden Titeln (Buchgeschäfte in den Einkaufszentren und Bücherabteilungen in Supermärkten hatten stets nur einen Bruchteil davon vorrätig) und ausgedehnten Öffnungszeiten, die gleichermaßen für Familien, Angestellte und andere potenzielle Lesergruppen attraktiv waren, stützten die B&N-Läden die Karrieren zahlreicher Schriftsteller, indem sie auch Titel vorrätig hatten, die kleinere Shops mit ihrer begrenzten Regalfläche nicht parat haben konnten.

B&N machte immer schon starke Promotion innerhalb der Szene, und einige meiner bestbesuchten, bestorganisierten Signierstunden fanden in B&N-Filialen statt, darunter die großartigen Events im (leider nicht mehr existenten) B&N in New Yorks Union Square, wo das Mega-Signieren nach den Nebula Awards stattfand, und im B&N in Chicago, das Gastgeber des Events nach den Nebs einige Jahre später war. Aber am besten ist, dass B&Ns geekige Einkäufer genau Bescheid wissen, wenn†™s um Science Fiction, Comics und Mangas, Spiele und derlei Dinge geht. Sie sind mit Leidenschaft und Sachkenntnis bei der Sache, wie die exzellente Auswahl in den einzelnen Laden-Regalen beweist.

Barnes and Noble, USA-weit:
http://search.barnesandnoble.com/Little-Brother/Cory-Doctorow/e/97807653 19852/?itm=6

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Sie fesselten mich erneut und stülpten mir wieder einen Sack über, dann ließen sie mich allein. Eine ganze Weile später setzte der Truck sich in Bewegung, bergab, und dann wurde ich wieder auf meine Füße gezerrt. Ich fiel sofort wieder um. Meine Beine waren so eingeschlafen, dass sie sich wie Eisklötze anfühlten, ausgenommen meine Knie, die angeschwollen und wund waren nach all den Stunden im Knien.

Hände griffen nach meinen Schultern und Füßen, und ich wurde hochgehoben wie ein Sack Kartoffeln. Undeutliche Stimmen waren rings umher zu hören. Jemand weinte. Jemand fluchte.

Ich wurde eine kurze Strecke weit getragen, dann wieder runtergelassen und an eine andere Strebe gefesselt. Meine Knie trugen mich nun nicht mehr, und ich kippte nach vorn, um verknotet wie eine Brezel liegenzubleiben, die Handgelenke schmerzend vom Ziehen an den Ketten.

Dann setzten wir uns wieder in Bewegung, und dieses Mal fühlte es sich nicht nach LKW-Fahren an. Der Boden unter mir schwankte sanft und vibrierte vom Stampfen schwerer Diesel, und ich erkannte, dass ich auf einem Schiff war. Mein Magen wurde zum Eisklumpen. Ich wurde von amerikanischem Territorium irgendwo anders hin verschifft, und wer zum Teufel konnte wissen, wo das war? Angst hatte ich vorher schon gehabt, aber dieser Gedanke war entsetzlich, er lähmte mich und machte mich sprachlos vor Furcht. Ich begriff, dass ich möglicherweise meine Eltern nie wieder sehen würde, und spürte Übelkeit in meiner Kehle emporsteigen. Die Tüte über meinem Kopf schien noch enger zu werden, und ich konnte kaum mehr atmen, was durch die bizarre Haltung, in der ich lag, noch verstärkt wurde.

Glücklicherweise waren wir nicht allzu lang auf dem Wasser. Gefühlsmäßig wars etwa eine Stunde, doch heute weiß ich, dass es bloß 15 Minuten waren; dann spürte ich, wie wir andockten, spürte Schritte auf dem Deck um mich her und spürte, wie andere Gefangene losgebunden und weggetragen oder -geführt wurden. Als sie mich holen kamen, versuchte ich wieder aufzustehen, doch es gelang nicht, und sie trugen mich wieder, unpersönlich und grob.

Als sie die Kappe wieder entfernten, war ich in einer Zelle.

Die Zelle war alt und verwittert, und sie roch nach Seeluft. Es gab ein Fenster hoch oben, mit verrosteten Gitterstäben davor. Draußen wars immer noch dunkel. Auf dem Boden lag eine Decke, und eine kleine Metalltoilette ohne Sitz war in die Wand eingelassen. Der Wärter, der meine Kapuze abgenommen hatte, grinste mich an und schloss die schwere Eisentür hinter sich.

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Vorsichtig massierte ich meine Beine und zog die Luft ein, als wieder Blut durch Beine und Hände zu strömen begann. Irgendwann konnte ich aufstehen, dann ein paar Schritte gehen. Ich hörte andere Leute reden, weinen, rufen. Ich rief ebenfalls: †œJolu! Darryl! Vanessa!† Andere Stimmen im Zellenblock griffen die Rufe auf, riefen ebenfalls Namen, brüllten Obszönitäten. Die Stimmen in der Nähe klangen wie Besoffene, die an der Straßenecke delirierten. Vielleicht klang ich ja auch so.

Wärter brüllten uns zu, wir sollten leise sein, und das machte jeden von uns bloß noch lauter. Bald waren wir alle am Heulen, brüllten uns die Seele aus dem Leib, brüllten, bis die Kehle schmerzte. Warum auch nicht? Was hatten wir noch zu verlieren?

Als sie mich das nächste Mal zum Verhör holten, war ich verdreckt und müde, durstig und hungrig. Frau Strenger Haarschnitt gehörte auch zur neuen Fragerunde, dazu kamen drei große Typen, die mich rumschubsten wie ein Stück Fleisch. Einer war schwarz, die anderen beiden weiß, einer von ihnen könnte aber auch ein Hispanic gewesen sein. Alle trugen sie Waffen. Ich kam mir vor wie in einer Mischung aus Benetton-Werbung und einer Runde Counter-Strike.

Sie hatten mich aus der Zelle geholt und meine Handgelenke und Knöchel zusammengekettet. Während wir gingen, achtete ich auf meine Umgebung. Ich hörte Wasser draußen und dachte, dass wir vielleicht auf Alcatraz waren †“ immerhin war das ein Gefängnis, wenn es auch schon seit Jahrzehnten als Touristenmagnet diente: Hierher kam man, um zu sehen, wo Al Capone und seine Gangster-Zeitgenossen ihre Zeit abgesessen hatten. Aber nach Alcatraz war ich mal auf einem Schulausflug gekommen. Das war alt und rostig, irgendwie mittelalterlich. Dies hier fühlte sich mehr nach Zweitem Weltkrieg an, nicht nach der Kolonialzeit.

An den Zellentüren gabs Aufkleber mit aufgedruckten Barcodes, auch Nummern, aber sonst keinen Hinweis darauf, wer oder was sich jeweils hinter der Tür befinden mochte.

Der Befragungsraum war modern, mit Neonröhren, ergonomischen Stühlen (aber nicht für mich, ich kriegte einen Garten-Faltstuhl aus Plastik) und einem großen Konferenztisch aus Holz. Ein Spiegel bedeckte eine Wand, wie in den Polizei-Sendungen, und ich schätzte, der eine oder andere würde wohl von der anderen Seite zuschauen. Frau Strenger Haarschnitt und ihre Freunde versorgten sich mit Kaffee aus einer Kanne auf nem Beistelltisch (in dem Moment hätte ich ihr die Kehle mit den Zähnen aufschlitzen können, nur um an ihren Kaffee zu kommen), und dann stellte sie eine Plastiktasse mit Wasser vor mich †“ ohne meine Hände hinterm Rücken loszubinden, so dass ich nicht drankam. Sehr komisch.

†œHallo, Marcus†, sagte Frau Strenger Haarschnitt. †œWie stehts heute um deine Einstellung?† Ich sagte kein Wort.

†œWeißt du, das hier ist nicht das Schlimmste†, fuhr sie fort. †œBesser wirds ab jetzt nie mehr für dich. Selbst wenn du uns jetzt noch sagen solltest, was wir wissen wollen, und selbst wenn uns das davon überzeugt, dass du bloß zur falschen Zeit am falschen Ort warst †“ jetzt haben wir dich auf dem Radar. Wohin du auch gehst, was immer du tust, wir werden dir dabei zuschauen. Du hast dich benommen, als habest du was zu verbergen. Und so was mögen wir gar nicht.†

So kitschig es klingt: Alles, woran mein Gehirn denken konnte, war dieser Satz †œwenn uns das überzeugt, dass du bloß zur falschen Zeit am falschen Ort warst†. Das war das Schlimmste, was mir jemals passiert war. Niemals zuvor hatte ich mich so erbärmlich und ängstlich gefühlt. Diese Wörter, †œzur falschen Zeit am falschen Ort†, diese sechs Wörter, sie waren wie ein Rettungsring vor mir, während ich strampelte, um den Kopf über Wasser zu halten.

†œHallo, Marcus?† Sie schnipste mit den Fingern vor meiner Nase. †œHierher, Marcus.† Ein kleines Lächeln zeigte sich auf ihrem Gesicht, und ich hasste mich dafür, ihr meine Angst gezeigt zu haben. †œMarcus, es kann noch viel schlimmer werden als jetzt. Dies ist längst nicht der übelste Ort, an den wir dich bringen können, ganz gewiss nicht.† Sie griff unter den Tisch und holte eine Aktentasche hervor, die sie aufklappte. Heraus zog sie mein Handy, den RFID-Killer/Kloner, meinen WLAN-Finder und meine Speichersticks. Eins nach dem anderen legte sie auf den Tisch.

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†œHör zu, was wir von dir erwarten. Heute entsperrst du dein Telefon für uns. Damit verdienst du dir Frischluft- und Badeprivilegien. Du wirst duschen dürfen und im Innenhof ein paar Schritte gehen. Morgen bringen wir dich wieder her, und dann werden wir dich bitten, die Daten auf diesen Speichersticks zu dechiffrieren. Wenn du das machst, verdienst du dir ein Essen in der Messe. Noch einen Tag später werden wir dich nach deinen E-Mail-Passworten fragen, und das wird dir Bibliotheksprivilegien einbringen.†

Mir lag das Wort Nein auf der Zunge wie ein Rülpser im Entstehen, aber es kam nicht. Stattdessen kam ein

†œWarum?†

†œWir müssen sicherstellen, dass du der bist, der du zu sein scheinst. Hier geht es um deine Sicherheit, Marcus. Mag sein, du bist unschuldig. Vielleicht bist du wirklich unschuldig, obwohl mir nicht klar ist, welcher unschuldige Mensch so tut, als ob er so viel zu verbergen hätte. Aber mal angenommen, du bist unschuldig: Du hättest auf dieser Brücke sein können, als sie in die Luft flog. Deine Eltern hätten dort sein können. Deine Freunde. Willst du nicht auch, dass wir die Leute fangen, die deine Heimat angegriffen haben?†

Merkwürdig: Als sie über die †œPrivilegien† sprach, die ich mir verdienen könnte, machte mich das so ängstlich, dass ich hätte nachgeben mögen. Ich fühlte mich grade so, als ob ich irgendwas dazu beigetragen hätte, hier zu landen, als ob ich teilweise selbst dran schuld wäre, als ob ich irgendetwas daran ändern könnte.

Aber als sie mit diesem †œSicherheits†-Scheiß anfing, da kam mein Rückgrat zurück. †œHören Sie†, sagte ich, †œSie sprechen darüber, wie meine Heimat angegriffen wird, aber wie ich es sehe, sind Sie die einzigen, die mich in letzter Zeit angegriffen haben. Ich dachte, ich lebe in einem Land mit einer Verfassung. Ich dachte, ich lebe in einem Land, in dem ich Rechte habe. Aber sie reden davon, meine Freiheit zu verteidigen, indem Sie die Bill of Rights zerreißen.†

Ein Hauch von Verstimmung erschien auf ihrem Gesicht und verschwand wieder. †œWie melodramatisch, Marcus. Niemand hat dich angegriffen. Die Regierung deines Landes hat dich in Gewahrsam genommen, während wir den schlimmsten Terroranschlag aufzuklären versuchen, der je auf unserem Staatsgebiet verübt wurde. Es liegt in deiner Macht, uns bei diesem Krieg gegen die Feinde unserer Nation zu unterstützen. Du willst die Bill of Rights erhalten? Dann hilf uns, böse Menschen daran zu hindern, deine Stadt in die Luft zu sprengen. So, und jetzt hast du genau dreißig Sekunden Zeit, dieses Telefon zu entsperren, bevor ich dich in deine Zelle zurückbringen lasse. Wir haben heute schließlich noch eine Menge andere Leute zu befragen.†

Sie blickte auf ihre Uhr. Ich schüttelte meine Handgelenke, schüttelte die Ketten, die mich daran hinderten, herumzugreifen und das Handy zu entsperren. Ja, ich würde es tun. Sie hatte mir den Weg zurück in die Freiheit gezeigt †“ zurück zur Welt, zu meinen Eltern -, und ich hatte Hoffnung geschöpft. Nun hatte sie gedroht, mich fortzuschicken, ab von diesem Weg; meine Hoffnung war verflogen und alles, woran ich denken konnte, war, wieder auf diesen Weg zurückzugelangen.

Also schüttelte ich meine Handgelenke, um an mein Handy zu gelangen und es für sie zu entsperren, und sie saß bloß da, schaute mich kalt an und guckte auf die Uhr.

†œDas Passwort†, sagte ich, als ich endlich begriff, was sie von mir wollte. Sie wollte, dass ich es laut sage, hier, wo sie es aufzeichnen konnte, wo ihre Kumpels es hören konnten. Sie wollte nicht bloß, dass ich das Handy entsperrte. Sie erwartete von mir, dass ich mich ihr unterwerfe. Dass ich mich ihrer Verantwortung unterstellte. Dass ich alle Geheimnisse preisgab, meine gesamte Privatsphäre. †œDas Passwort†, sagte ich noch mal, und dann nannte ich ihr das Passwort. Gott steh mir bei, ich hatte mich ihrem Willen unterworfen.

Sie lächelte ein sprödes Lächeln †“ für diese Eiskönigin war das wohl schon wie ne Engtanzfete -, und die Wachen führten mich weg. Als die Tür zuging, sah ich noch, wie sie sich über mein Handy beugte und das Kennwort eingab.

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Ich wünschte, ich könnte behaupten, auf diese Möglichkeit gefasst gewesen zu sein und ihr ein Pseudo-Kennwort geliefert zu haben, mit dem sie eine völlig unverfängliche Partition meines Handys freigeschaltet hätte; aber so paranoid oder clever war ich damals längst nicht.

An diesem Punkt könntet ihr euch fragen, was für finstere Geheimnisse ich wohl auf meinem Handy, auf den Speichersticks und in meinen E-Mails zu verbergen hatte †“ immerhin bin ich bloß ein Jugendlicher.

Die Wahrheit lautet: Ich hatte alles zu verbergen und nichts zugleich. Handy und Speichersticks zusammen würden bloß einiges darüber verraten, mit wem ich befreundet war, was ich von diesen Freunden dachte und welche albernen Dinge wir erlebt hatten. Man konnte die Mitschnitte unserer elektronischen Diskussionen nachverfolgen und die elektronischen Ergebnisse, zu denen diese Diskussionen uns geführt hatten.

Wisst ihr, ich lösch einfach nichts. Wozu auch? Speicherplatz ist billig, und man weiß nie, wann man auf die Sachen noch mal zurückkommen mag. Vor allem auf die dummen Sachen. Kennt ihr das Gefühl, wenn man in der U-Bahn sitzt und niemanden zum Quatschen hat, und plötzlich erinnert man sich an irgendeinen heftigen Streit, an irgendwas Fieses, was man mal gesagt hat? Und normalerweise ist das doch nie so übel, wie es einem in der Erinnerung vorkommt. Wenn man dann noch mal die alten Sachen durchgucken kann, hilft das zu merken, dass man doch nicht so ein mieser Typ ist, wie man dachte. Darryl und ich haben auf diese Weise so viele Streitereien hinter uns gebracht, dass ichs gar nicht mehr zählen kann.

Und auch das triffts noch nicht. Ich weiß einfach: Mein Handy ist privat; meine Speichersticks sind privat. Und zwar dank Kryptografie †“ Texte unleserlich zerhacken. Hinter Krypto steckt solide Mathematik, und jeder hat Zugriff auf dieselbe Krypto, die auch Banken oder die Nationale Sicherheitsbehörde nutzen. Jeder nutzt ein und dieselbe Sorte Krypto: öffentlich, frei und von jedermann benutzbar. Deshalb kann man sicher sein, dass es funktioniert.

Es hat echt was Befreiendes zu wissen, dass es eine Ecke in deinem Leben gibt, die deine ist, die sonst keiner sieht außer dir. Das ist so ähnlich wie nackt sein oder kacken. Jeder ist hin und wieder nackt, und jeder muss mal aufs Klo. Nichts daran ist beschämend, abseitig oder bizarr. Aber was wäre, wenn ich verfügen würde, dass ab sofort jeder, der mal eben ein paar Feststoffe entsorgen muss, dazu in ein Glashäuschen mitten auf dem Times Square gehen muss, und zwar splitterfasernackt?

Selbst wenn an deinem Körper nichts verkehrt oder komisch ist †“ und wer von uns kann das schon behaupten? -, musst du schon ziemlich schräg drauf sein, um die Idee gut zu finden. Die meisten von uns würden schreiend weglaufen; wir würden anhalten, bis wir platzen.

Es geht nicht darum, etwas Verwerfliches zu tun. Es geht darum, etwas Privates zu tun. Es geht um dein Leben und dass es dir gehört.

Und das nahmen sie mir jetzt weg, Stück für Stück. Auf dem Weg zurück in die Zelle kam dieses Gefühl wieder auf, es irgendwie verdient zu haben. Mein ganzes Leben lang hatte ich alle möglichen Regeln übertreten und war damit meist durchgekommen. Vielleicht wars ja nur gerecht so? Vielleicht kam jetzt meine Vergangenheit zu mir zurück. Immerhin war ich dort gewesen, wo ich war, weil ich die Schule geschwänzt hatte.

Ich durfte mich duschen. Ich durfte auf den Hof gehen. Man sah ein Fleckchen Himmel oben, und es roch nach Bay Area, aber darüber hinaus hatte ich keinen Schimmer, wo man mich festhielt. Keine anderen Gefangenen waren zu sehen, solange ich mich bewegen durfte, und immer nur im Kreis rumlaufen wurde mir schnell langweilig. Ich bemühte mich, irgendwelche Geräusche aufzuschnappen, die mir Aufschlüsse über diesen Ort geben könnten, aber alles, was ich hörte, war gelegentlicher Fahrzeuglärm, entfernte Unterhaltungen oder mal ein Flugzeug, das in der Nähe landete.

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Sie brachten mich in die Zelle zurück und gaben mir was zu essen: eine halbe Peperoni von Goat Hill Pizza. Die kannte ich gut, sie saßen oben auf Potrero Hill. Der Karton mit der vertrauten Gestaltung und der 415er Telefonnummer erinnerte mich daran, dass ich gestern noch ein freier Mensch in einem freien Land gewesen war und heute ein Gefangener. Ich machte mir ständig Sorgen um Darryl und war unruhig wegen meiner anderen Freunde. Vielleicht waren die ja kooperativer gewesen und freigelassen worden. Vielleicht hatten sies schon meinen Eltern erzählt, und die telefonierten jetzt in der Weltgeschichte rum.

Vielleicht auch nicht.

Die Zelle war unglaublich leer, so leer wie meine Seele. Ich stellte mir vor, dass die Wand gegenüber meiner Koje ein Monitor war, dass ich jetzt hacken konnte, dass ich die Zellentür öffnen konnte. Ich träumte von meiner Werkbank und den Projekten, die da auf mich warteten †“ die alten Dosen, die ich in eine Ghetto-Surroundsound-Anlage verwandeln würde, die Lenkdrachen-Kamera zur Luftbildfotografie, die ich grade baute, meinen Eigenbau-Laptop.

Ich wollte hier raus. Ich wollte heim zu meinen Freunden, in die Schule, zu meinen Eltern; ich wollte mein Leben zurückhaben. Ich wollte gehen können, wohin ich wollte, nicht dazu verdonnert sein, immer nur im Kreis zu laufen.

Als nächstes holten sie sich die Passworte für meine USB-Sticks. Da waren ein paar interessante Nachrichten drauf, die ich aus diversen Diskussionsforen runtergeladen hatte, einige Chat-Mitschriften, so Sachen, wo mir Leute mit ihrer Erfahrung ein bisschen bei den Sachen geholfen hatten, die ich halt so tat. Nichts dabei, was man nicht auch mit Google finden könnte, aber ich nahm nicht an, dass man mir das als mildernde Umstände anrechnen würde.

An diesem Nachmittag bekam ich wieder Bewegung, und dieses Mal waren auch andere im Hof, als ich rauskam: vier Typen und zwei Frauen verschiedensten Alters und ethnischer Zugehörigkeit. Schätze mal, eine Menge Leute taten Dinge, um sich †œPrivilegien† zu verdienen.

Sie gaben mir ne halbe Stunde, und ich versuchte, mit dem am normalsten aussehenden Häftling ins Gespräch zu kommen: einem Schwarzen etwa meines Alters mit kurzem Afroschnitt. Aber als ich mich vorstellte und die Hand ausstreckte, drehte er bloß die Augen in Richtung der Kameras, die in den Hofecken angebracht waren, und lief weiter, ohne auch nur eine Miene zu verziehen.

Aber dann, kurz bevor sie meinen Namen ausrufen würden, um mich ins Gebäude zurückzubringen, öffnete sich die Tür, und heraus kam †“ Vanessa! Nie zuvor war ich so froh gewesen, ein vertrautes Gesicht zu sehen. Sie sah übermüdet, aber nicht verletzt aus, und als sie mich sah, rief sie meinen Namen und rannte auf mich zu. Wir fielen einander um den Hals, und ich merkte, wie ich zitterte. Und sie zitterte ebenfalls.

†œBist du okay?†, fragte sie und betrachtete mich auf Armlänge Abstand.

†œIch bin okay†, entgegnete ich. †œSie sagten, sie würden mich rauslassen, wenn ich ihnen meine Passwörter gebe.†

†œSie fragen mich dauernd über dich und Darryl aus.† Über Lautsprecher plärrte uns eine Stimme an, mit Reden aufzuhören und weiterzulaufen, aber wir ignorierten sie.

†œAntworte ihnen†, sagte ich eilig. †œWas auch immer sie fragen, gib ihnen Antwort. Vielleicht bringts dich raus.†

†œWie gehts Darryl und Jolu?†

†œHab sie nicht mehr gesehen.†

Die Tür schwang auf, und vier riesige Wärter stürmten raus. Zwei schnappten mich und zwei Vanessa. Sie zwangen mich zu Boden und drehten meinen Kopf von Vanessa weg, doch ich konnte hören, wie man mit ihr das gleiche machte. Plastikhandschnellen schnappten um meine Handgelenke zu, dann wurde ich auf die Füße gezerrt und in meine Zelle zurückgebracht.

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An diesem Abend gab es kein Essen. Am nächsten Morgen gab es kein Frühstück. Niemand kam und brachte mich zum Befragungsraum, um weitere Geheimnisse aus mir rauszupressen. Die Plastikhandschellen bleiben dran, meine Schultern brannten, schmerzten, wurden taub, brannten wieder. In den Händen hatte ich überhaupt kein Gefühl mehr.

Ich musste mal pinkeln. Aber ich konnte die Hose nicht aufmachen. Ich musste richtig, richtig dringend pissen. Ich machte mir in die Hose.

Danach kamen sie, um mich zu holen; als die warme Pisse kalt und klamm geworden war und meine sowieso schon dreckige Jeans an meinen Beinen klebte. Sie holten mich und brachten mich den langen Gang mit den vielen Türen runter, jede Tür ihr eigener Barcode, jeder Barcode ein Gefangener wie ich. Sie brachten mich den Gang runter und ins Befragungszimmer, und es war, als käme ich auf einen anderen Planeten, einen Ort, wo Dinge normal liefen, wo nicht alles nach Urin roch. Ich fühlte mich so dreckig und beschämt, und all die Gefühle, dass ich vielleicht doch verdient hätte, was mit mir geschah, kamen wieder hoch.

Frau Strenger Haarschnitt saß bereits. Sie sah perfekt aus: frisiert und nur ein Hauch Make-up. Ich roch das Zeug, das sie in den Haaren hatte, und sie rümpfte die Nase über mich. Ich fühlte Scham in mir aufsteigen.

†œNa, du warst ein sehr ungezogener Junge, nicht wahr? Uhh, was bist du nur für ein schmuddeliger Kerl.†

Ich blickte beschämt zum Tisch. Hochzuschauen ertrug ich nicht. Ich wollte ihr mein E-Mail-Passwort verraten und dann nix wie raus hier.

†œWorüber hast du dich mit deiner Freundin im Hof unterhalten?†

Ich lachte kurz in Richtung Tisch. †œIch hab ihr gesagt, sie soll die Fragen beantworten. Dass sie kooperieren soll.†

†œAch, du gibst hier also die Befehle?†

Das Blut pulsierte in meinen Ohren. †œAch Quatsch†, sagte ich, †œwir spielen da dieses Spiel, Harajuku Fun Madness. Ich bin der Teamchef. Wir sind keine Terroristen, wir sind bloß Schüler. Ich geb ihr keine Befehle, ich hab ihr bloß gesagt, dass wir ehrlich zu Ihnen sein müssen, damit wir jeden Verdacht ausräumen können und wieder hier wegkommen.†

Für einen Moment sagte sie nichts.

†œWie gehts Darryl?†, fragte ich.

†œWem?†

†œDarryl. Sie haben uns zusammen aufgelesen. Mein Freund. Irgendjemand hat ihm in der Station Powell Street einen Messerstich verpasst. Deshalb waren wir ja bloß oben. Um Hilfe für ihn zu holen.†

†œNa, dann bin ich sicher, ihm gehts gut†, sagte sie.

Mein Magen verkrampfte sich, fast musste ich würgen. †œSie wissen es nicht? Sie haben ihn nicht hier?†

†œWen wir hier haben und wen nicht, das besprechen wir ganz sicher nicht mit dir, niemals. Das geht dich überhaupt nichts an. Marcus, du hast gesehen, was passiert, wenn du nicht mit uns kooperierst. Und du hast gesehen, was passiert, wenn du unsere Anweisungen missachtest. Du warst ein bisschen kooperativ, und damit hast dus bis fast dahin gebracht, dass wir dich wieder freilassen. Wenn du möchtest, dass diese Möglichkeit Realität wird, dann bleib einfach dabei, meine Fragen zu beantworten.†

Ich sagte nichts.

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†œDu lernst. Das ist gut. Jetzt bitte deine E-Mail-Passwörter.†

Ich war drauf vorbereitet. Ich gab ihnen alles: Server-Adresse, Login, Passwort. Das war eh egal. Auf meinem Server speicherte ich keine E-Mails. Ich lud sie alle runter und speicherte sie auf dem Laptop daheim, und der saugte und löschte die Mails auf meinem Server im 60-Sekunden-Takt. Aus meinen Mails würden sie nichts erfahren †“ auf dem Server war nichts mehr, alles nur auf dem Laptop daheim.

Dann zurück in die Zelle; aber sie machten meine Hände frei, ließen mich duschen und gaben mir eine orangefarbene Gefängnishose anzuziehen. Die war mir zu groß und hing mir über die Hüften wie bei einem mexikanischen Gang-Kid in der Mission. Hättet ihr gewusst, dass dieser Sackhosen-überm-Arsch-Look genau daher kommt †“ aus dem Knast? Und wenn mans nicht als modisches Statement meint, ist es definitiv weniger cool.

Meine Jeans nahmen sie mit, und ich verbrachte einen weiteren Tag in der Zelle. Die Wände bestanden aus Zement, der über ein Stahlgitter gespachtelt war. Das konnte man daran sehen, dass das Gitter rot-orange durch die grüne Wandfarbe schimmerte, weil der Stahl in der Salzluft rostete. Irgendwo hinter diesem Fenster waren meine Eltern.

Am nächsten Tag holten sie mich wieder.

†œWir haben deine Mails jetzt einen Tag lang gelesen. Und wir haben das Passwort geändert, damit dein Computer daheim sie nicht mehr holen kann.†

Na klar hatten sie. Hätte ich auch so gemacht, wenn ichs mir recht überlegte.

†œWir haben jetzt genug gegen dich in der Hand, um dich für lange Zeit wegzusperren, Marcus. Dass du diese Gegenstände besitzt† †“ sie wies auf all meine kleinen Spielzeuge -, †œdie Daten, die wir auf deinem Telefon und den Speichersticks sichergestellt haben, und dann all das subversive Material, das wir zweifellos finden würden, wenn wir deine Wohnung durchsuchen und den Computer mitnehmen würden †“ das alles reicht, um dich wegzusperren, bis du ein alter Mann bist. Hast du das begriffen?†

Ich glaubte ihr kein Wort. Kein Richter dieser Welt würde in all dem Zeug irgendein Verbrechen sehen. Freie Meinungsäußerung, technische Spielereien †“ aber kein Verbrechen.

Aber wer sagte denn, dass diese Typen mich vor einen Richter bringen würden? †œWir wissen, wo du wohnst, und wir wissen, wer deine Freunde sind. Wir wissen, wie du handelst und wie du denkst.† Langsam wurde mir was klar: Sie würden mich rauslassen. Der Raum schien heller zu werden. Ich hörte mich atmen, kurze, flache Atemzüge.

†œDa ist nur eine Sache, die wir noch wissen wollen: Wie sind die Bomben auf der Brücke dahin gekommen, wo sie gezündet wurden?†

Ich hörte auf zu atmen. Der Raum wurde wieder dunkel.

†œWas?†

†œEs waren zehn Sprengsätze auf der Brücke, über die ganze Länge verteilt. In Kofferräumen waren sie nicht. Sie waren dort platziert worden. Aber von wem, und wie sind sie dorthin gekommen?†

†œWas?†, wiederholte ich.

†œMarcus, dies ist deine letzte Chance†, sagte sie und sah traurig aus dabei. †œBis hierher hast du so gut mitgemacht. Erzähl uns das noch, und du darfst nach Hause gehen. Du kannst dir einen Anwalt besorgen und dich vor einem ordentlichen Gericht verteidigen. Ganz sicher wird es mildernde Umstände geben, die deine Handlungen erklären können. Erzähl uns nur dies noch, und du kannst gehen.†

†œIch weiß nicht, wovon Sie reden!† Ich weinte und machte mir nichts draus. Ich flennte Rotz und Wasser. †œIch habe nicht die leiseste Idee, wovon Sie reden!†

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Sie schüttelte den Kopf. †œMarcus, bitte, lass dir doch helfen. Inzwischen solltest du wissen, dass wir immer bekommen, was wir wollen.†

Irgendwo hinten in meinem Kopf hörte ich merkwürdige Geräusche. Die waren wahnsinnig. Ich nahm mich zusammen und versuchte die Tränen zu unterdrücken. †œHören Sie, das ist doch Irrsinn. Sie waren an meinen Sachen, Sie haben alles gesehen. Ich bin ein siebzehnjähriger Schüler und kein Terrorist. Sie können doch nicht ernsthaft annehmen -†

†œMarcus, hast du immer noch nicht begriffen, dass wir ernsthaft sind?† Sie schüttelte wieder den Kopf. †œDu hast ziemlich gute Noten. Ich glaubte, du würdest klüger sein.† Sie machte eine schnippende Geste, und die Wachen packten mich unter den Armen.

Zurück in der Zelle fielen mir hundert kleine Reden ein. Die Franzosen nennen das †œesprit d†™escalier† †“ den Geist der Treppe, die schlagfertigen Erwiderungen, die dir einfallen, sobald du den Raum verlässt und die Treppe runterschleichst. In Gedanken stand ich da vor ihr und deklamierte meine Texte, sagte ihr, ich sei ein Bürger, der seine Freiheit liebt, weshalb wohl eher ich der Patriot und sie der Verräter sei. In Gedanken beschämte ich sie dafür, mein Land in ein bewaffnetes Lager verwandelt zu haben. In Gedanken war ich beredt und brillant und ließ sie in Tränen aufgelöst zurück.

Aber wisst ihr was? Kein einziges dieser edlen Worte kam mir wieder in den Sinn, als sie mich am nächsten Tag wieder holten. Alles, woran ich denken konnte, war Freiheit. Meine Eltern.

†œHallo, Marcus†, sagte sie. †œWie fühlst du dich?†

Ich schaute zum Tisch. Sie hatte einen ordentlichen Dokumentenstapel vor sich aufgehäuft, und neben ihr stand der unvermeidliche Starbucks-Pappbecher. Irgendwie fand ich das beruhigend, eine Erinnerung daran, dass es irgendwo hinter diesen Mauern noch eine echte Welt gab.

†œFür den Moment haben wir die Ermittlungen über dich abgeschlossen.† Sie ließ den Satz so im Raum stehen. Vielleicht bedeutete es, sie würde mich jetzt rauslassen. Vielleicht bedeutete es, sie würde mich irgendwo in ein Loch werfen und meine Existenz vergessen.

†œUnd?†, fragte ich schließlich.

†œUnd ich möchte dir nochmals ins Gedächtnis rufen, dass wir diese Angelegenheit sehr ernst nehmen. Unser Land hat den schlimmsten Terroranschlag aller Zeiten auf seinem Territorium erlebt. Wie viele 11. September willst du uns noch erleiden lassen, bevor du kooperierst? Die Einzelheiten unserer Untersuchungen sind geheim. Wir lassen uns von nichts und niemanden in unserem Bemühen aufhalten, die Urheber dieser abscheulichen Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen. Verstehst du das?†

†œJa†, murmelte ich.

†œWir schicken dich heute nach Hause, aber du bist jetzt ein Gezeichneter. Du bist keineswegs frei von jedem Verdacht †“ wir lassen dich lediglich frei, weil wir für den Moment keine weiteren Fragen an dich haben. Aber von nun an gehörst du uns. Wir werden dich beobachten. Wir werden nur darauf warten, dass du einen falschen Schritt machst. Begreifst du, dass wir dich rund um die Uhr genauestens überwachen können?†

†œJa†, murmelte ich.

†œGut. Du wirst niemals und mit niemandem darüber reden, was hier passiert ist. Dies ist eine Angelegenheit nationaler Sicherheit. Weißt du, dass auf Verrat in Kriegszeiten immer noch die Todesstrafe steht?†

†œJa†, murmelte ich.

†œGuter Junge†, säuselte sie. †œWir haben hier einige Dokumente für dich zur Unterschrift.† Sie schob den Papierstapel über den Tisch zu mir hin. Kleine Post-its, bedruckt mit †œhier unterschreiben†, waren drauf verteilt. Ein Wärter löste meine Handschellen.

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Ich blätterte durch die Papiere; meine Augen tränten und mein Kopf brummte. Ich verstand das nicht. Ich versuchte die Paragraphen zu entziffern. Wies aussah, unterschrieb ich eine Erklärung, derzufolge ich mich freiwillig hier hatte festhalten und befragen lassen, ganz aus eigenem freiem Willen.

†œWas passiert denn, wenn ich das nicht unterschreibe?†, fragte ich.

Sie zog den Stapel an sich und machte wieder diese schnippende Geste. Die Wachen rissen mich auf meine Füße.

†œWarten Sie!†, schrie ich. †œBitte! Ich unterschreibe!† Sie zerrten mich zur Tür. Alles, was ich sehen konnte, war diese Tür; alles, woran ich denken konnte, wie sie hinter mir zuging.

Ich hatte verloren. Ich weinte. Ich bettelte, die Papiere unterschreiben zu dürfen. Der Freiheit so nah zu sein und sie dann wieder entzogen zu bekommen, das machte mich willens, wirklich alles zu tun. Ich weiß nicht, wie oft ich jemanden hab sagen hören, †œeher sterb ich, als dies-und-jenes zu machen† †“ ich habs ja selbst oft genug gesagt. Aber in diesem Moment begriff ich erstmals, was das wirklich bedeutete. Ich wäre eher gestorben, als in meine Zelle zurückzugehen.

Ich bettelte, als sie mich auf den Flur rauszogen. Ich sagte ihnen, ich würde alles unterschreiben.

Sie rief den Wachen etwas zu, und sie blieben stehen. Sie brachten mich zurück. Sie setzten mich an den Tisch.

Einer von ihnen gab mir den Stift in die Hand.

Und natürlich unterschrieb ich, und ich unterschrieb, und ich unterschrieb.

Meine Jeans und mein T-Shirt waren in meiner Zelle, gereinigt und zusammengelegt. Sie rochen nach Waschmittel. Ich zog sie an, wusch mir das Gesicht, setzte mich dann auf meine Pritsche und starrte die Wand an. Sie hatten mir alles genommen. Erst meine Privatsphäre, dann meine Würde. Ich war bereit gewesen, wirklich alles zu unterschreiben. Ich hätte sogar unterschrieben, dass ich Abraham Lincoln ermordet hatte.

Ich versuchte zu weinen, aber meine Augen fühlten sich trocken an, keine Tränen mehr da.

Sie holten mich wieder. Ein Wärter kam mit einer Kapuze zu mir, so einer wie der, die ich aufbekommen hatte, als sie uns aufgriffen; wann auch immer das war †“ vor Tagen, vor Wochen.

Man stülpte die Kapuze über meinen Kopf und zog sie im Nacken eng an. Völlige Dunkelheit umgab mich, und die Luft war stickig und schal. Ich wurde auf meine Füße gestellt und Korridore entlang geführt, Treppen hoch, auf Schotter. Eine Gangway hoch. Aufs Stahldeck eines Schiffs. Meine Hände wurden hinter meinem Rücken an ein Geländer gekettet. Ich kniete mich aufs Deck und horchte auf das Dröhnen der Diesel-Maschinen.

Das Schiff setzte sich in Fahrt. Ein Hauch von Salzluft fand seinen Weg unter der Kapuze hindurch. Es regnete, und meine Klamotten wurden schwer vom Wasser. Ich war draußen, auch wenn mein Kopf noch unter einer Kappe steckte. Ich war draußen, in der Welt, Momente entfernt von meiner Freiheit.

Sie kamen, mich zu holen, führten mich vom Boot runter und über unebenen Grund. Drei Metallstufen hoch. Meine Handfesseln wurden gelöst und die Kapuze entfernt.

Ich war wieder im Truck. Frau Strenger Haarschnitt war auch wieder hier, am selben kleinen Schreibtisch wie zuvor. Sie hatte einen Reißverschlussbeutel bei sich, und darin waren mein Handy und die anderen kleinen Werkzeuge, meine Brieftasche und das Kleingeld aus meinen Taschen. Wortlos reichte sie mir alles.

Ich füllte meine Taschen. Es fühlte sich komisch an, alles wieder am vertrauten Ort zu haben, wieder in meinen vertrauten Klamotten zu stecken. Hinter der Hecktür des Trucks konnte ich die vertrauten Geräusche meiner vertrauten Stadt vernehmen.

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Eine Wache reichte mir meinen Rucksack. Die Frau streckte mir ihre Hand entgegen. Ich schaute sie nur an. Sie nahm die Hand wieder runter und lächelte ein schiefes Lächeln. Dann machte sie eine Geste wie das Verschließen ihrer Lippen, zeigte auf mich †“ und öffnete die Tür.

Draußen wars heller Tag, aber grau und regnerisch. Ich blickte eine Gasse runter auf Autos, LKWs und Räder, die die Straße entlangsausten. Wie angenagelt stand ich auf der obersten Stufe des Trucks und starrte der Freiheit entgegen.

Meine Knie zitterten. Ich wusste jetzt, dass sie wieder mit mir spielten. Im nächsten Moment würden die Wachen mich wieder schnappen und nach drinnen zerren, die Kapuze würde wieder über meinen Kopf gestülpt, und dann würde ich wieder auf dem Boot sein und ins Gefängnis zurückgeschickt werden, zu den endlosen, nicht zu beantwortenden Fragen. Kaum konnte ich mich beherrschen, meine Faust in den Mund zu stecken.

Dann zwang ich mich, eine Stufe runterzusteigen. Noch eine. Die letzte. Meine Turnschuhe knirschten auf dem Zeug auf dem Fußboden, Glasscherben, einer Nadel, Kies. Ich ging einen Schritt. Noch einen. Ich erreichte den Anfang der Gasse und trat auf den Bürgersteig.

Niemand schnappte mich.

Ich war frei.

Dann pressten sich kräftige Arme um mich. Fast begann ich zu weinen. – Fortsetzung Kapitel 5

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Hintergründe, Handlung und weitere Informationen zu Little Brother findet ihr unter: Jugendthriller: Little Brother von Cory Doctorow komplett im Netz

Hier handelt es sich um die deutsche Übersetzung von Christian Wöhrl

Little Brother ist unter einem Creative Commons Namensnennung-Keine kommerzielle Nutzung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenzvertrag lizenziert.

Das Original wurde unter: http://craphound.com/littlebrother veröffentlicht.