Little Brother von Cory Doctorow: Kapitel 13

Little Brother

Kapitel 13

Dieses Kapitel ist Books-A-Million gewidmet, einer Kette riesiger Buchläden überall in den USA. Mit Books-A-Million bin ich zum ersten Mal in Berührung gekommen, als ich in einem Hotel in Terre Haute, Indiana wohnte (an diesem Tag sollte ich eine Rede im Rose Hulman Institute of Technology halten). Der Laden war ganz in der Nähe des Hotels, und ich brauchte dringend was zu lesen †“ Ich war schon einen ganzen Monat auf Achse gewesen, hatte alle Bücher in meinem Koffer durch und noch fünf weitere Städte auf dem Reiseplan, bevor ich wieder nach Hause konnte. Und während ich eifrig durch die Regale schaute, fragte mich eine Angestellte, ob ich Hilfe benötige.

Ich habe selbst schon in Buchläden gearbeitet, und Buchhändler mit Erfahrung sind ihr Gewicht in Gold wert; also sagte ich ja und fing an, meinen Geschmack und meine Lieblingsautoren zu beschreiben. Die Angestellte lächelte und sagte, †œda habe ich genau das richtige Buch für Sie†, und dann brachte sie mir meinen ersten Roman, †œDown and Out in the Magic Kingdom†. Ich brach in Gelächter aus, stellte mich vor, und wir hatten eine ganz wunderbare Plauderei über Science Fiction, die mich fast davon abhielt, rechtzeitig zu meiner Rede zu kommen!

Books-A-Million:

http://www.booksamillion.com/ncom/books?&isbn=0765319853

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Die sind ja absolute Huren†, sagte Ange, wobei sie das Wort geradezu ausspuckte. †œNein, das wär ja eine Beleidigung aller hart arbeitenden Huren. Die †“ die sind Profiteure†

Wir blätterten einen Stapel Zeitungen durch, die wir ins Café mitgebracht hatten. Sie hatten alle †œBerichterstattung† über die Party in Dolores Park, und ausnahmslos stellten sies so dar, als sei es eine Orgie betrunkener, bekiffter Kiddies gewesen, die die Polizei angegriffen hatten. USA Today schrieb über die Kosten der †œAusschreitungen† und vergaß dabei nicht aufzurechnen, was es kosten würde, die Rückstände des Pfefferspray-Bombardements zu beseitigen, was der Anstieg an Asthma-Attacken, die die städtischen Notaufnahmen verstopft hatten, und was die Behandlung der achthundert festgenommenen †œRandalierer†.

Niemand erzählte es aus unserer Sicht.

†œNa ja, zumindest im Xnet steht es richtig†, sagte ich. Ich hatte einige Blogeinträge, Videos und Fotostreams auf meinem Handy gespeichert und zeigte sie ihr. Darunter waren Erfahrungsberichte von Leuten, die vom Gas erwischt worden waren, und von solchen, die man verprügelt hatte. Auf dem Video sah man uns alle tanzen und Spaß haben, man sah die friedlichen politischen Ansprachen und den Chorus von †œHolt es euch zurück†, man sah Trudy Doo darüber sprechen, dass wir die einzige Generation sei, die noch daran glauben könne, für unsere Freiheiten zu kämpfen.

†œWir müssen das den Menschen zeigen†, sagte sie.

†œJa†, sagte ich finster. †œHübsche Theorie.†

†œWarum meinst du denn, dass die Presse unseren Standpunkt nicht veröffentlichen würde?†

†œDu hast doch selbst gesagt, es sind Huren.†

†œJa, aber Huren machens für Geld. Wenn sie eine richtige Kontroverse hätten, könnten sie mehr Zeitungen und mehr Anzeigen verkaufen. Was sie bis jetzt haben, ist bloß ein Verbrechen; eine Kontroverse ist das viel größere Thema.†

†œOkay, so weit, so gut. Aber warum machen sies dann nicht? Na ja, Reporter finden sich ja schon kaum in normalen Blogs zurecht, wie sollen die dann auch noch das Xnet finden? Ist ja auch nicht wirklich ein erwachsenenfreundlicher Ort.†

†œStimmt. Aber das lässt sich doch ändern, oder?†

†œAch ja?†

†œSchreib es alles auf. Tu es alles auf eine Seite, mit allen Links.

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Eine einzige Site, extra für die Presse, wo sie sich ein vollständiges Bild machen kann. Verlink die noch mit den How-Tos für das Xnet. Normale Internet-Surfer kommen ja auch ins Xnet, solange es ihnen egal ist, dass das DHS mitbekommt, was sie da besuchen.†

†œUnd du meinst, das kann klappen?†

†œUnd wenn nicht, dann haben wir es zumindest versucht.†

†œWarum sollten sie uns schon zuhören?†

†œWer würde denn M1k3y nicht zuhören?†

Ich stellte meinen Kaffee ab. Ich nahm mein Handy und steckte es in die Tasche. Ich stand auf, drehte mich auf dem Absatz um und verließ das Café. Ich suchte mir keine bestimmte Richtung aus und ging einfach nur los. Mein Gesicht fühlte sich wie erstarrt an, und mein Magen rebellierte.

Die wissen, wer du bist, dachte ich. Die wissen, wer M1k3y ist. Die Sache war gelaufen. Wenn Ange es rausgefunden hatte, dann das DHS ja wohl erst recht. Ich war geliefert. Ich hatte es von dem Moment an gewusst, in dem ich aus dem DHS-Truck aussteigen durfte: Eines Tages würden sie kommen, um mich zu holen und mich für immer verschwinden zu lassen, dort, wo sie auch Darryl hatten verschwinden lassen.

Alles war aus.

Auf Höhe Market Street rannte sie mich fast um. Sie war außer Atem und sah ziemlich wütend aus.

†œWas zum Teufel ist Ihr Problem, mein Herr?†

Ich schüttelte sie ab und ging weiter. Alles war aus.

Sie packte mich wieder. †œHör auf damit, Marcus, du machst mir Angst. Komm schon, sprich mit mir.†

Ich hielt an und schaute sie an. Sie verschwamm vor meinen Augen. Ich sah alles nur unscharf. Und ich hatte diesen wahnsinnigen Drang, mich einfach vor die Straßenbahn zu werfen, die grade an uns vorbeiratterte, hier, mitten auf der Straße. Lieber sterben als noch mal dorthin zurück.

†œMarcus!† Sie tat etwas, was ich bisher nur aus Filmen kannte: Sie haute mir eine runter, und zwar hart ins Gesicht.

†œSprich mit mir, verdammtnochmal!†

Ich sah sie an und befühlte mein Gesicht, das brannte wie Hölle.

†œNiemand darf wissen, wer ich bin†, sagte ich. †œIch kanns nicht anders sagen. Wenn du es weißt, dann ist es vorbei. Sobald andere Leute es wissen, ist es gelaufen.†

†œOh Gott, es tut mir Leid. Hey, ich weiß das bloß, weil, also, ich hab Jolu erpresst. Nach der Party hab ich dir ein bisschen hinterhergeschnüffelt, um rauszukriegen, ob du wirklich so nett bist, wie du wirkst, oder vielleicht doch ein heimlicher Serienkiller. Jolu kenn ich schon ewig, und als ich ihn über dich ausgefragt habe, da hat er von dir geschwärmt, als wärst du der nächste Messias oder so; aber ich hab gemerkt, dass da immer noch was war, womit er nicht rausrücken wollte. Ich kenn ihn also schon ewig; und er war mal im Computer-Camp hinter meiner älteren Schwester her, als er nochn Kind war. Ich weiß ein paar ziemlich schmutzige Sachen über ihn. Und ich hab ihm gesagt, ich würde die in der Welt rumposaunen, wenn er mir nicht alles erzählt.†

†œUnd dann hat ers dir erzählt.†

†œNein†, sagte sie. †œEr meinte, ich könne mich mal gehackt legen. Dann hab ich ihm also was über mich erzählt. Etwas, was ich überhaupt noch niemandem erzählt habe.†

†œWas denn?†

Sie schaute mich an. Blickte sich um, blickte wieder zu mir.

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†œOkay, ich lass dich jetzt nicht Verschwiegenheit schwören; was solls? Entweder ich kann dir trauen oder nicht.

Letztes Jahr hab…† Sie stockte. †œLetztes Jahr hab ich die standardisierten Tests geklaut und im Internet veröffentlicht. War eigentlich nur zum Spaß. Ich kam zufällig am Büro des Schulleiters vorbei und sah sie im Safe, und die Tür war offen. Ich bin also reingehuscht †“ da waren sechs Exemplare, und ich hab mir eins davon in die Tasche gesteckt und bin wieder raus. Daheim hab ich sie gescannt und auf einem Piratenpartei-Server in Dänemark veröffentlicht.†

†œDu warst das?†

Sie errötete. †œHm, ja.†

†œHeilige Scheiße!† Das war wirklich ne dolle Sache gewesen. Das Erziehungsministerium sagte damals, dass es etliche Millionen Dollar gekostet habe, ihre †œKein Kind wird zurückgelassen†-Tests produzieren zu lassen, und dass sie jetzt nach dem Leck gleich noch mal dieselbe Summe ausgeben müssten. Sie sprachen von †œBildungsterrorismus†, und in den Nachrichten wurde spekuliert ohne Ende über die politischen Motive des Täters; man fragte sich, ob es ein Lehrerprotest war, ein Schüler, ein Dieb oder ein unzufriedener Behördenmitarbeiter.

†œDU warst das?†

†œIch war das.†

†œUnd du hast es Jolu erzählt…†

†œWeil ich ihm zeigen wollte, dass er sich drauf verlassen kann, dass ich das Geheimnis für mich behalte. Wenn er mein Geheimnis kennt, dann hat er was gegen mich in der Hand, das mich ins Gefängnis bringen würde, falls ich meine Falle öffne. Bisschen geben, bisschen nehmen. Quid pro quo, wie in Schweigen der Lämmer.†

†œUnd dann hat er es dir erzählt.†

†œNein, hat er nicht.†

†œAber…†

†œDann hab ich ihm erzählt, wie total verknallt ich in dich bin und dass ich bereit wär, mich völlig zum Depp zu machen, nur um dich zu kriegen. Dann hat er es mir erzählt.†

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und guckte meine Zehen an. Sie nahm meine Hände und drückte sie.

†œEs tut mir Leid, dass ich es aus ihm rausgepresst habe. Es wäre deine Entscheidung gewesen, es mir zu erzählen oder eben nicht. Es stand mir nicht zu…†

†œNein†, sagte ich. Jetzt, da ich wusste, wie sies erfahren hatte, beruhigte ich mich langsam wieder. †œNein, es ist gut, dass du es weißt. Du.†

†œIch†, sagte sie. †œIch dummes kleines Ding.†

†œOkay, ich kann damit leben. Aber da ist noch eine Sache.†

†œWas?†

†œKeine Ahnung, wie ich es sagen soll, ohne wie ein kompletter Idiot zu klingen, aber… egal. Also: Wenn Leute zusammen sind, oder wie immer man das nennen soll mit uns, dann trennen sie sich manchmal. Und wenn sie sich trennen, dann sind sie böse aufeinander. Manchmal hassen sie sich sogar. Eigentlich zu finster, auch nur drüber nachzudenken bei dir und mir, aber weißt du, wir müssen drüber nachdenken.†

†œIch verspreche hoch und heilig, dass nichts, was du jemals tun könntest, mich dazu bringen könnte, dein Geheimnis zu verraten. Nichts. Vögel ein Dutzend Cheerleader in meinem Bett, während meine Mutter zuschaut. Zwing mich, Britney Spears zu hören. Zerleg meinen Laptop, hau ihn mit Hämmern zu Brei und weich ihn in Meerwasser ein. Ich verspreche es dir. Nichts, niemals.†

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Ich atmete sehr tief aus.

†œHm.†

†œJetzt wäre ein guter Moment, mich zu küssen†, sagte sie und wandte mir ihr Gesicht entgegen.

M1k3ys nächstes großes Xnet-Projekt war die ultimative Zusammenstellung von Berichten über die Trau-Keinem-Party in Dolores Park. Ich machte daraus die größte und rattenschärfste Website, die mir nur möglich war, die gesamte Action aufgeschlüsselt nach Orten, nach Zeit, nach Kategorien †“ Polizeigewalt, Tanzen, Nachwirkungen, Gesang. Dazu lud ich das komplette Konzert hoch.

Das war so ziemlich alles, was ich den Rest der Nacht machte. Und die nächste Nacht. Und die übernächste.

Meine Mailbox quoll über mit Anregungen von Anderen, die mir Aufzeichnungen aus ihren Handys und ihren Kompaktkameras zusandten. Dann bekam ich eine E-Mail von jemandem, dessen Namen ich kannte †“ Dr. Eeevil (mit drei †œE†), einem der führenden Köpfe hinter ParanoidLinux.

> M1k3y

> Ich habe dein Xnet-Experiment sehr interessiert verfolgt. Hier in Deutschland haben wir eine Menge Erfahrung damit, was passiert, wenn Regierungen außer Kontrolle geraten.

> Eine Sache solltest du wissen: Jede Kamera hat eine einzigartige †œRausch-Signatur†, die man später dazu verwenden kann, ein Bild einer bestimmten Kamera zuzuordnen. Das bedeutet, dass Fotos, die du auf deiner Site veröffentlichst, möglicherweise dazu benutzt werden können, ihre Fotografen zu identifizieren, falls sie später mal wegen was anderem hochgenommen werden.

> Es ist zum Glück nicht schwer, die Signaturen zu entfernen, wenn du dir die Mühe machen willst. In der ParanoidLinux-Distro, die du benutzt, gibt es dafür ein Tool. Es heißt photonomous, und es steckt in /usr/bin. Lies einfach die Hilfeseiten als Anleitung. Ist aber eigentlich simpel.

> Viel Glück bei dem, was du da tust. Lass dich nicht schnappen. Bleib frei. Bleib paranoid.

> Dr Eeevil

Ich beseitigte die Signaturen von allen Fotos, die ich gepostet hatte, und lud sie dann wieder hoch, zusammen mit einem Bericht darüber, was Dr. Eeevil mir erzählt hatte, und der dringenden Bitte an alle anderen, es genauso zu machen, um all unsere Fotos zu anonymisieren. Mit den Fotos, die schon runtergeladen und gespeichert waren, konnten wir nichts mehr machen, aber von jetzt an würden wir schlauer sein.

Weiter dachte ich in dieser Nacht nicht über die Sache nach, bis ich am nächsten Morgen zum Frühstück runterkam und Mom das Radio anhatte, wo die NPR-Morgennachrichten liefen.

†œDie arabische Nachrichtenagentur Al-Dschassira verbreitet Fotos, Videos und Augenzeugenberichte vom Jugendaufstand am vorigen Wochenende in Mission Dolores Park†, sagte der Sprecher, während ich grade ein Glas Orangensaft trank. Irgendwie schaffte ich es, ihn nicht über den ganzen Raum zu versprühen, aber ein bisschen verschluckte ich mich dann doch.

†œAl-Dschassira-Reporter geben an, dass diese Berichte im so genannten ,Xnet†™ veröffentlicht wurden, einem Untergrund-Netzwerk von Studenten und Al-Kaida-Sympathisanten in der Bay Area. Über die Existenz dieses Netzwerks wurde schon lange spekuliert, doch der heutige Tag markiert seine erstmalige Erwähnung in Massenmedien.†

Mom schüttelte den Kopf. †œDas fehlte uns noch. Als ob die Polizei nicht schon schlimm genug wäre. Kids, die rumrennen und glauben, eine Guerilla-Armee zu sein, geben denen doch bloß einen Vorwand, noch härter zuzuschlagen.†

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†œDie Weblogs im Xnet sind voll mit Hunderten von Berichten und Multimedia-Dateien junger Menschen, die bei dem Aufruhr dabeiwaren und behaupten, es sei eine friedfertige Versammlung gewesen, bis die Polizei sie angegriffen habe. Hier ist einer dieser Berichte:

,Alles, was wir machten, war tanzen. Ich hatte meinen kleinen Bruder mitgebracht. Bands spielten, und wir redeten über Freiheit und darüber, dass wir auf dem besten Weg sind, sie an diese Idioten zu verlieren, die behaupten, Terroristen zu hassen, aber uns dann angreifen, als ob wir Terroristen sind und nicht Amerikaner. Ich glaube, die hassen die Freiheit, nicht uns.

Wir haben getanzt, und die Bands spielten, und alles war lustig und einfach toll, und dann brüllten die Polizisten uns an, wir sollten auseinandergehen. Wir schrien alle, holt es euch zurück!, und damit meinten wir, holt euch Amerika zurück. Die Polizei hat uns mit Pfefferspray angegriffen. Mein kleiner Bruder ist zwölf, der konnte drei Tage lang nicht in die Schule gehen.

Meine dämlichen Eltern behaupten, das sei meine Schuld. Und was ist mit der Polizei? Wir bezahlen die dafür, uns zu beschützen,aber die haben uns ohne Grund mit Pfefferspray begast, als ob wir feindliche Soldaten seien.†™

Ähnliche Berichte, einschließlich Video und Audio, können Sie auf Al-Dschassiras Website und im Xnet finden. Wie Sie dieses Xnet erreichen, erfahren Sie auf der Homepage von NPR.†

Dad kam runter.

†œBenutzt du das Xnet?†, wollte er wissen. Er blickte mir eindringlich ins Gesicht. Mir wurde übel.

†œDas ist für Computerspiele†, sagte ich. †œJedenfalls benutzen die meisten Leute es dafür. Es ist bloß ein drahtloses Netzwerk. Das hat jeder mal ausprobiert, als sie letztes Jahr diese Xboxen verschenkt haben.†

Er sah mich finster an. †œSpiele? Marcus, du scheinst nicht zu begreifen, dass du damit Leuten eine Tarnung verschaffst, die dieses Land angreifen und zerstören wollen. Ich möchte nicht, dass du dieses Xnet noch ein Mal benutzt. Nie wieder. Haben wir uns verstanden?†

Ich wollte diskutieren. Ach verdammt, ich wollte ihn an den Schultern packen und schütteln. Aber ich ließ es sein.

Ich sagte †œNa klar, Dad† und verschwand in die Schule.

[x]

Zuerst war ich erleichtert, als ich merkte, dass Fred Benson nicht dauerhaft für meinen Gesellschaftskunde-Kurs zuständig war. Aber die Frau, die ihn ersetzen sollte, war mein schlimmster Alptraum.

Sie war jung, vielleicht 28 oder 29, und auf so eine gesunde Weise hübsch. Sie war blond und ließ einen leichten Südstaaten-Akzent durchschimmern, als sie sich bei uns als Mrs. Andersen vorstellte. Das ließ bei mir sofort die Alarmglocken klingeln: Ich kannte keine Frau unter sechzig, die sich selbst †œMrs.† nannte.

Aber darüber wollte ich hinwegsehen. Sie war jung, hübsch und klang nett. Sie würde schon okay sein.

Sie war nicht okay.

†œUnter welchen Umständen sollte die Regierung bereit sein, die Bill of Rights außer Kraft zu setzen?†, fragte sie und drehte sich dabei an die Tafel, um die Zahlen von eins bis zehn untereinanderzuschreiben.

†œGar nicht†, sagte ich, ohne abzuwarten, dass sie mich aufrief. Das war ja wohl leicht. †œVerfassungsrechte sind absolut.†

†œDas ist keine sonderlich fortschrittliche Ansicht.† Sie schaute auf ihren Sitzplan. †œMarcus. Nimm zum Beispiel einen Polizisten, der eine unzulässige Durchsuchung durchführt und dabei seine Befugnisse überschreitet.

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Dabei stößt er auf erdrückende Beweise, dass ein Krimineller deinen Vater getötet hat. Diese Beweise sind die einzigen, die existieren. Sollte der Kriminelle ungeschoren davonkommen?†

Ich wusste, wie die Antwort lauten musste, aber ich konnte es nicht recht erklären. †œJa†, sagte ich schließlich. †œAber die Polizei sollte keine unzulässigen Durchsuchungen durchführen…†

†œFalsch. Die richtige Reaktion auf polizeiliches Fehlverhalten sind Disziplinarmaßnahmen, aber es wäre falsch, die ganze Gesellschaft für das Fehlverhalten eines einzelnen Polizisten zu bestrafen.† Sie schrieb †œVerbrecherische Schuld† unter Punkt eins an die Tafel.

†œAndere Anlässe, bei denen die Bill of Rights ersetzt werden kann?†

Charles hob die Hand. †œIn einem überfüllten Theater Feuer schreien?†

†œSehr gut,…† †“ sie konsultierte den Sitzplan †“ †œCharles. Es gibt viele Umstände, unter denen das First Amendment keine absolute Gültigkeit hat. Lasst uns noch ein paar davon zusammentragen.†

Charles hob die Hand noch mal. †œEinen Exekutivbeamten in Gefahr bringen.†

†œJa, die Identität eines verdeckten Ermittlers oder Geheimdienstlers offenlegen. Sehr gut.† Sie schrieb es auf. †œNoch etwas?†

†œNationale Sicherheit†, sagte Charles, ohne nochmals aufs Aufrufen zu warten. †œVerleumdung. Obszönität. Missbrauch Minderjähriger. Kinderpornografie. Bombenbauanleitungen.†

Mrs. Andersen schrieb zügig mit, hielt aber bei Kinderpornografie inne. †œKinderpornografie ist nur eine Unterart von Obszönität.†

Mir wurde langsam schlecht. Das war nicht das, was ich über mein Land gelernt hatte oder woran ich glaubte. Ich hob die Hand.

†œJa, Marcus?†

†œIch verstehe das nicht. Wie Sie es sagen, klingt das, als ob die Bill of Rights optional wäre. Aber es ist die Verfassung. Und der sollen wir uneingeschränkt Folge leisten.†

†œDas ist eine verbreitete Übervereinfachung†, sagte sie mit aufgesetztem Lächeln. †œTatsache ist, dass die Gestalter der Verfassung sie als ein lebendiges Dokument verstanden, das durchaus im Lauf der Zeit revidiert werden sollte. Ihnen war klar, dass die Republik keinen dauerhaften Bestand haben konnte, wenn die jeweilige Regierung nicht den jeweiligen Bedürfnissen entsprechend regieren konnte. Sie hatten nicht vorgesehen, dass man an die Verfassung glauben solle wie an eine religiöse Doktrin. Immerhin waren sie auf der Flucht vor religiöser Doktrin hierher gekommen.†

Ich schüttelte den Kopf. †œWas? Nein. Sie waren Kaufleute und Handwerker, und sie waren dem König so lange loyal verbunden, bis er Gesetze erließ, die ihren Interessen zuwiederliefen, und sie mit Gewalt durchzusetzen versuchte. Die religiösen Flüchtlinge waren schon viel früher.†

†œEinige der Farmer (5) stammten von religiösen Flüchtlingen ab†, sagte sie.

(5) Autoren der Verfassung von 1787, als solche sozusagen die zweite Welle der Gründerväter, siehe auch
http://en.wiki pedia.org/wi ki/Founding_Fathers_of_the_United_States, A.d.Ü

†œUnd die Bill of Rights ist doch nicht etwas, aus dem man sich nach Belieben rauspicken kann, was man möchte. Die Framer hassten Tyrannei. Und genau das soll die Bill of Rights verhindern. Sie waren eine Revolutionsarmee, und sie wollten ein Regelwerk, dem jeder zustimmen konnte. Leben, Freiheit und das Streben nach Glück. Das Recht des Volkes, seine Unterdrücker zu beseitigen.†

†œJa, ja†, sagte sie gestikulierend. †œSie glaubten an das Recht des Volkes, seine Könige zu beseitigen, aber…† Charles grinste, und als sie das sagte, grinste er noch viel breiter.

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†œSie erarbeiteten die Bill of Rights, weil sie dachten, es sei besser, absolute Rechte zu haben, als zu riskieren, dass irgendjemand sie ihnen wegnimmt. Wie beim First Amendment: Das ist dazu gedacht, uns zu beschützen, indem es der Regierung untersagt, zwei Sorten von Meinungsäußerung zu unterscheiden, die erlaubte und die kriminelle.

†œSie wollten nicht das Risiko eingehen, dass irgendein Idiot auf die Idee käme, die Dinge, die ihm nicht passten, als illegal zu deklarieren.†

Sie drehte sich um und schrieb †œLeben, Freiheit und das Streben nach Glück† an die Tafel.

†œWir sind dem Lehrplan schon ein bisschen voraus, aber ihr scheint eine fortgeschrittene Gruppe zu sein.† Die anderen lachten nervös.

†œDie Aufgabe der Regierung ist es, die Rechte der Bürger auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück zu gewährleisten. In dieser Reihenfolge. Das ist wie ein Filter. Wenn die Regierung etwas unternehmen möchte, das uns ein wenig unzufriedener macht oder unsere Freiheit teilweise einschränkt, dann ist das okay, vorausgesetzt, es dient dazu, unser Leben zu schützen. Deshalb dürfen Polizisten euch einsperren, wenn sie glauben, dass ihr eine Gefahr für euch oder andere darstellt. Ihr verliert eure Freiheit und eure Freude, um Leben zu schützen. Wenn ihr Leben habt, dann bekommt ihr vielleicht später noch Freiheit und Freude dazu.†

Ein paar von den anderen hatten die Hände oben. †œAber bedeutet das nicht, dass sie tun können, was immer sie wollen, solange sie behaupten, dass es jemanden davon abhält, uns irgendwann in der Zukunft zu verletzen?†

†œGenau†, meinte ein anderer. †œEs klingt, als ob Sie sagen, dass nationale Sicherheit wichtiger ist als die Verfassung.†

In diesem Moment war ich so was von stolz auf meine Mitschüler. Ich sagte: †œWie können Sie denn Freiheit schützen, indem Sie die Bill of Rights außer Kraft setzen?†

Sie schüttelte den Kopf, als ob wir unglaublich dumm seien. †œDie †œrevolutionären† Gründerväter haben Verräter und Spione erschossen. An absolute Freiheit haben sie nicht geglaubt, nicht wenn sie die Republik bedrohte. Nehmt zum Beispiel diese Xnet-Leute…†

Es fiel mir schwer, nicht zu erstarren.

†œ… diese so genannten Jammer, die heute früh in den Nachrichten waren. Nachdem diese Stadt von Leuten angegriffen worden war, die diesem Land den Krieg erklärt haben, machten die Xnetter sich daran, die Sicherheitsmaßnahmen zu sabotieren, die dazu dienten, Bösewichter zu fangen und sie von Wiederholungstaten abzuhalten. Das taten sie, indem sie ihre Mitbürger gefährdeten und ihnen Ärger bereiteten…†

†œDas taten sie, um zu zeigen, dass unsere Rechte geraubt wurden unter dem Vorwand, sie zu schützen!†, sagte ich. Okay, ich schrie es. Oh Gott, hatte die mich in Fahrt gebracht. †œSie haben es getan, weil die Regierung jeden wie einen Terrorverdächtigen behandelt hat.†

†œAch, und um zu beweisen, dass man sie nicht wie Terroristen behandeln sollte†, brüllte Charles zurück, †œhaben sie sich wie Terroristen benommen? Deshalb haben sie ihren Terror ausgeübt?†

Ich kochte.

†œJetzt komm mal runter. Terror ausgeübt? Sie haben bloß gezeigt, dass allgegenwärtige Überwachung gefährlicher ist als Terrorismus. Denk mal an den Park letztes Wochenende. Die Leute da haben getanzt und Musik gehört. Was ist denn daran Terrorismus?†

Die Lehrerin kam durch den Raum auf mich zu und postierte sich über mir, bis ich still war. †œMarcus, du scheinst noch zu glauben, dass sich in diesem Land nichts geändert hat. Aber du hast zu begreifen, dass die Sprengung der Bay Bridge alles geändert hat. Tausende unserer Freunde und Verwandten liegen tot da unten in der Bay. Dies ist die Zeit für nationale Einheit angesichts dieser Gewalt, die unser Land erleiden musste…†

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Ich stand auf. Dieses †œAlles hat sich geändert†-Geseiher ging mir bis hier. †œNationale Einheit? Was Amerika ganz wesentlich ausmacht, ist doch wohl, dass wir ein Land sind, in dem Dissens willkommen ist. Wir sind ein Land von Dissidenten und Kämpfern und Uniabbrechern und Aktivisten für Meinungsfreiheit.†

Dann dachte ich an Ms. Galvez†™ letzte Stunde und an die Tausende von Berkeley-Studenten, die den Polizeiwagen eingekesselt hatten, als dieser eine Typ für das Verteilen von Bürgerrechts-Literatur abtransportiert werden sollte. Niemand hatte versucht, die Trucks aufzuhalten, die mit all den Tänzern aus dem Park davonfuhren. Ich hatte es nicht versucht. Ich war weggelaufen.

Vielleicht hatte sich ja wirklich alles geändert.

†œIch glaube, du weißt, wo Mr. Bensons Büro ist†, sagte sie zu mir. †œDu wirst dich unverzüglich dort melden. Ich werde es nicht dulden, dass mein Unterricht von respektlosem Verhalten gestört wird. Für jemanden, der behauptet, die Meinungsfreiheit zu lieben, wirst du ziemlich laut, sobald irgendjemand nicht deiner Meinung ist.†

Ich schnappte mein SchulBook und meine Tasche und stürmte raus. Die Tür hatte eine Gasfeder, deshalb konnte ich sie nicht hinter mir zuknallen; ich hätte sie gern zugeknallt.

Ich ging zügig zu Mr. Bensons Büro. Kameras filmten mich auf dem Weg dorthin. Mein Gang wurde aufgezeichnet. Die RFIDs in meinem Schülerausweis funkten meine Identität an die Sensoren im Flur. Es war hier wie im Knast.

†œSchließ die Tür, Marcus†, sagte Mr. Benson. Dann drehte er seinen Monitor herum, so dass ich den Videostream aus der Gesellschaftskunde-Klasse sehen konnte. Er hatte zugeschaut.

†œWas hast du zu deiner Entschuldigung vorzubringen?†

†œDas war kein Unterricht, das war Propaganda. Sie hat uns gesagt, dass die Verfassung belanglos ist.†

†œNein. Sie hat gesagt, dass sie keine religiöse Doktrin ist. Und du hast sie angegangen wie irgendein Fundamentalist und damit genau ihren Standpunkt bewiesen. Marcus, du solltest als allererster wissen, dass sich alles geändert hat, seit die Brücke gesprengt wurde. Dein Freund Darryl…†

†œWagen Sie es nicht, auch nur ein verdammtes Wort über ihn zu sagen†, sagte ich schäumend vor Ärger. †œEs steht Ihnen nicht zu, ihn auch nur zu erwähnen. Ja, ich habe verstanden, dass sich alles geändert hat. Wir waren mal ein freies Land. Jetzt nicht mehr.†

†œMarcus, weißt du, was Null-Toleranz bedeutet?†

Ich zuckte zusammen. Er konnte mich wegen †œbedrohenden Verhaltens† rauswerfen. Eigentlich war die Regel als Maßnahme gegen Gang-Kids gedacht, die ihre Lehrer einzuschüchtern versuchten. Aber natürlich würde er keinerlei Hemmungen haben, sie auch gegen mich einzusetzen.

†œJa, ich weiß, was das bedeutet.†

†œIch glaube, du schuldest mir eine Entschuldigung.†

Ich sah ihn an. Er unterdrückte sein sadistisches Lächeln nur unzureichend. Ein Teil von mir wollte kuschen. Dieser Teil wollte, Scham hin oder her, um seine Verzeihung winseln. Aber ich unterdrückte diesen Teil von mir und beschloss, dass ich mich lieber rauswerfen lassen würde, als um Verzeihung zu bitten.

†œdaß, um diese Rechte zu sichern, Regierungen eingesetzt sein müssen, deren volle Gewalten von der Zustimmung der Regierten herkommen; daß zu jeder Zeit, wenn irgend eine Regierungsform zerstörend auf diese Endzwecke einwirkt, das Volk das Recht hat, jene zu ändern oder abzuschaffen, eine neue Regierung einzusetzen, und diese auf solche Grundsätze zu gründen, und deren Gewalten in solcher Form zu ordnen, wie es ihm zu seiner Sicherheit und seinem Glücke am zweckmäßigsten erscheint.† Ich erinnerte mich Wort für Wort daran.

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Er schüttelte den Kopf. †œEtwas auswendig zu wissen ist nicht dasselbe wie es zu begreifen, Kleiner.† Er bückte sich über den Computer und klickte ein paar Mal. Der Drucker surrte. Dann reichte er mir ein noch warmes Blatt mit dem Behörden-Briefkopf, auf dem stand, dass ich für zwei Wochen vom Unterricht ausgeschlossen war.

†œIch schicke jetzt deinen Eltern eine E-Mail. Wenn du in einer halben Stunde noch auf dem Schulgelände bist, wirst du wegen Hausfriedensbruchs verhaftet.†

Ich blickte ihn an.

†œDu willst nicht wirklich in meiner eigenen Schule Krieg gegen mich erklären. Diesen Krieg kannst du nicht gewinnen. RAUS!†

Ich ging. – Fortsetzung Kapitel 14

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Hintergründe, Handlung und weitere Informationen zu Little Brother findet ihr unter: Jugendthriller: Little Brother von Cory Doctorow komplett im Netz

Hier handelt es sich um die deutsche Übersetzung von Christian Wöhrl

Little Brother ist unter einem Creative Commons Namensnennung-Keine kommerzielle Nutzung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenzvertrag lizenziert.

Das Original wurde unter: http://craphound.com/littlebrother veröffentlicht.

Little Brother von Cory Doctorow: Kapitel 12

Little Brother

Kapitel 12

Dieses Kapitel ist Forbidden Planet gewidmet, der britischen Buchhandelskette für Science-Fiction und Fantasy, Comics, Spiele und Videos. Forbidden Planet hat Filialen überall in Großbritannien sowie Außenstellen in Manhattan und Dublin, Irland. Es ist gefährlich, einen Forbidden Planet zu betreten †“ ich komme da fast nie mit intakter Geldbörse wieder raus. Forbidden Planet ist wirklich ganz vorn dabei, wenn†™s darum geht, die riesige Klientel für Science-Fiction-Filme und -Serien in Kontakt mit Science-Fiction-Literatur zu bringen †“ und darauf kommt es in Zukunft auf diesem Sektor an.

Forbidden Planet, UK, Dublin and New York City:

New home

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Ms. Galvez lächelte übers ganze Gesicht. †œWeiß irgendwer, woher das kommt?† Ein vielstimmiger Chor antwortete: †œAus der Unabhängigkeitserklärung†.

Ich nickte.

†œWarum hast du uns das vorgelesen, Marcus?†

†œWeil ich denke, die Gründer dieses Landes haben damit gesagt, dass Regierungen nur so lange an der Macht bleiben sollten, wie wir daran glauben, dass sie in unserem Interesse arbeiten, und wenn wir nicht mehr daran glauben, dann sollen wir sie aus dem Amt jagen. Das steht da doch, oder nicht?†

Charles schüttelte den Kopf. †œDas ist Hunderte von Jahren her†, sagte er. †œHeute sind die Dinge anders!†

†œWas ist anders?†

†œNa ja, zum Beispiel haben wir keinen König mehr. Die Regierung, die die damals meinten, existierte doch bloß, weil der Urururgroßvater von irgendeinem Idioten glaubte, von Gott eingesetzt zu sein, und jeden tötete, der anderer Meinung war. Wir haben eine demokratisch gewählte Regierung…†

†œIch hab sie nicht gewählt†, sagte ich.

†œUnd das gibt dir das Recht, Gebäude in die Luft zu jagen?†

†œWer redet denn vom Gebäudehochjagen? Die Yippies und Hippies und all diese Leute glaubten fest, dass die Regierung ihnen nicht mehr zuhörte †“ denk nur mal daran, wie die Leute behandelt wurden, die bei der Wählerregistrierung im Süden geholfen haben. Die wurden verprügelt, eingesperrt…†

†œEin paar von ihnen wurden sogar getötet†, ergänzte Ms. Galvez. Dann hob sie ihre Hände und wartete, bis Charles und ich uns gesetzt hatten.

†œUnsere Zeit heute ist fast vorbei, aber ich möchte euch allen für eine der interessantesten Stunden danken, die ich je gehalten habe. Es war eine fantastische Diskussion, und ich habe von euch allen viel gelernt. Ich hoffe, ihr habt auch etwas voneinander gelernt. Danke euch allen für eure Beiträge.

Ich habe eine Zusatzaufgabe für diejenigen von euch, die gern eine kleine Herausforderung mögen. Ich möchte, dass ihr einen Aufsatz schreibt, in dem ihr die politischen Reaktionen auf die Antikriegs- und Bürgerrechtsbewegungen in der Bay Area mit den heutigen Bürgerrechts-Auswirkungen des Kriegs gegen den Terror vergleicht. Mindestens drei Seiten, aber schreibt so viel ihr mögt. Ich bin gespannt, zu welchen Ergebnissen ihr kommt.†

Im nächsten Moment klingelte es, und alles strömte aus der Klasse raus. Ich blieb zurück und wartete, bis Ms. Galvez mich bemerkte.

†œJa, Marcus?†

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†œDas war faszinierend†, sagte ich. †œIch wusste das alles über die Sechziger noch gar nicht.†

†œAuch die Siebziger. In politisch brisanten Zeiten war dies hier schon immer ein aufregender Ort zum Leben. Deine Anspielung auf die Erklärung hat mir gefallen; das war sehr clever.†

†œDanke, aber das ist mir irgendwie zugeflogen. Vor heute hatte ich noch gar nicht richtig begriffen, was dieser Abschnitt bedeutete.†

†œOh, so etwas hören Lehrer immer gern, Marcus†, sagte sie und schüttelte mir die Hand. †œIch bin sehr gespannt drauf, deinen Aufsatz zu lesen.†

Auf dem Heimweg kaufte ich das Emma-Goldman-Poster und hängte es über meinem Schreibtisch auf, direkt über einem echten Schwarzlicht-Poster. Ich kaufte auch ein TRAU-NIEMANDEM-T-Shirt mit einer Photoshop-Montage aus Grover und Elmo, wie sie die Erwachsenen Gordon und Susan aus der Sesamstraße kicken, weil ich es lustig fand. Später fand ich raus, dass es schon ungefähr ein halbes Dutzend Photoshop-Wettbewerbe mit dem Slogan auf Websites wie Fark, Worth1000 und B3ta gab und dass bereits Hunderte fertige Bilder auf so ziemlich allem zirkulierten, was sich bedrucken und verkaufen ließ.

Mom zog angesichts des Shirts eine Augenbraue hoch, und Dad schüttelte den Kopf und meinte mir einen Vortrag übers Ärgersuchen halten zu müssen; aber seine Reaktion bestätigte mich bloß.

Ange fand mich wieder online, und wir flirteten über Messenger bis spät in der Nacht. Der weiße Lieferwagen mit den Antennen kam wieder vorbei, und ich schaltete meine Xbox ab, bis er weg war. Daran hatten wir uns alle inzwischen gewöhnt.

Ange war ziemlich aufgedreht wegen der Party. Schien, als würde das ein Monsterevent werden. Es waren so viele Bands mit an Bord, dass man davon sprach, noch eine zweite Bühne für die B-Acts aufzubauen.

> Wie sind die an die Genehmigungen gekommen, die ganze Nacht Lärm zu machen? Da sind doch überall Häuser

> Ge-neh-mi-gun-gen? Was ist das denn? Erzähl mir mehr von deinen Ge-neh-mi-gun-gen

> Boah, es ist illegal?

> Äh, hallo? Du machst dir Sorgen übers Gesetzebrechen?

> Guter Punkt

> LOL

So nen Hauch einer Ahnung von Nervosität spürte ich aber doch. Hey, ich hatte am Wochenende ein Date mit diesem völlig umwerfenden Mädchen (streng genommen hatte sie ein Date mit mir), und zwar bei einem illegalen Rave mitten in einer belebten Gegend.

Es versprach ziemlich interessant zu werden.

Interessant, in der Tat.

Über den ganzen langen Samstagnachmittag verteilt tröpfelten die Leute in Dolores Park ein und verteilten sich unter die Frisbeespieler und Hundehalter. Einige spielten auch Frisbee oder führten Hunde aus. Es war noch nicht recht klar, wie das Konzert vonstatten gehen sollte, aber es hingen schon eine Menge Bullen und Verdeckte rum. Die Verdeckten erkannte man an ihren Castrofrisuren und dem Nebraska-Körperbau, genau wie damals Pickel und Popel: stämmige Typen mit kurzem Haar und unordentlichen Schnurrbärten. Sie stromerten herum und wirkten seltsam unbeholfen in ihren riesigen Shorts und weit geschnittenen Hemden, die wohl das Ausrüstungsgeraffel überdecken sollten, mit dem sie vermutlich behängt waren.

Dolores Park ist hübsch und sonnig; Palmen, Tennisplätze und jede Menge Hügel und urwüchsige Bäume zum Rumlaufen und Abhängen.

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Nachts schlafen Obdachlose dort, aber das tun sie ja überall in San Francisco.

Ich traf Ange die Straße runter in der Anarchistenbuchhandlung. Mein Vorschlag. Im Nachhinein wars eine völlig durchsichtige Nummer, um vor ihr als cool und trendig dazustehen, aber in diesem Moment hätte ich schwören können, dass es einfach bloß ein günstiger Treffpunkt war. Als ich kam, las sie gerade ein Buch mit dem Titel †œAn die Wand, Motherf….r†.

†œWie hübsch†, sagte ich. †œWas sagt denn deine Mutter zu so was?†

†œDeine Mutter soll sich mal nicht beschweren. Ernsthaft, das hier ist die Geschichte einer Gruppe von Leuten wie die Yippies, aber in New York. Und sie hatten das Wort alle als Nachname, zum Beispiel ,Ben M-F†™. Es ging darum, eine Gruppe zu haben und in die Nachrichten zu kommen, aber mit einem absolut undruckbaren Namen, einfach nur, um die Medien zu ärgern. Ziemlich lustig, echt.†

Sie stellte das Buch zurück ins Regal, und ich fragte mich, ob ich sie wohl umarmen sollte. Die Leute in Kalifornien umarmen sich eigentlich ständig, zur Begrüßung und zum Abschied, außer sie tun es mal nicht. Und manchmal küssen sie sich auf die Wange. Ziemlich verwirrend das alles.

Sie nahm mir die Entscheidung ab, indem sie mich zu einer Umarmung schnappte, meinen Kopf an sich heranzog, mich hart auf die Wange küsste und mir dann einen Furz in den Nacken blies. Ich lachte und schubste sie weg.

†œWillst du einen Burrito?†, fragte ich.

†œIst das ne Frage oder eine Feststellung offensichtlicher Tatsachen?†

†œWeder noch. Es ist ein Befehl.†

Ich kaufte ein paar lustige Aufkleber DIESES TELEFON IST VERWANZT, die genau die richtige Größe für die Münztelefone hatten, die es immer noch in den Straßen der Mission gab, in diesem Viertel, in dem sich nicht unbedingt jeder ein Handy leisten konnte.

Wir traten raus in die Abendluft. Ich erzählte Ange davon, wie es vorhin im Park ausgesehen hatte.

†œIch wette, sie haben hundert von diesen Trucks um den Block geparkt†, sagte sie, †œdamit sie uns besser hochnehmen können.†

†œÖh.† Ich blickte mich um. †œEigentlich hatte ich gehofft, du würdest sowas sagen wie ,ach, dagegen können sie überhaupt nichts machen†™.†

†œAber darum gehts nicht, glaub ich. Es geht darum, ne Menge Zivilisten in eine Situation zu bringen, in der die Bullen sich zu entscheiden haben, ob sie all diese normalen Leute wirklich wie Terroristen behandeln sollen. Es ist son bisschen wie diese Jammerei, aber mit Musik statt mit Elektronikkrams. Du jammst doch auch, oder?†

Manchmal vergaß ich, dass meine Freunde nicht wussten, dass Marcus und M1k3y derselbe waren. †œJa, ein bisschen†, sagte ich.

†œDas hier ist wie Jammen mit einem Haufen toller Bands.†

†œVerstehe.†

Mission Burritos sind eine Institution. Sie sind billig, riesig und lecker. Stellt euch eine Röhre in der Größe einer Bazooka-Granate vor, die mit würzigem Grillfleisch, Guacamole, Salsa, Tomaten, zweifach gebratenen Bohnen, Reis, Zwiebeln und Cilantro gefüllt ist. Es verhält sich ungefähr so zu Taco Bell wie ein Lamborghini zu einem Hot-Wheels-Modell.

Es gibt ungefähr zweihundert Mission-Burrito-Filialen. Allen gemeinsam ist ihr Mut zur Hässlichkeit, mit unbequemen Sitzgelegenheiten, nur einem Minimum an Deko (ausgeblichene Mexiko-Tourismus-Plakate und gerahmte, elektrische Jesus-und-Maria-Hologramme) und lauter Mariachi-Musik.

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Was sie voneinander unterscheidet, ist hauptsächlich, mit welchen exotischen Fleischsorten sie jeweils ihre Burritos füllen. Die wirklich authentischen Läden haben auch Hirn und Zunge †“ das bestelle ich nie, aber es ist gut zu wissen, dass es das gibt.

Der Laden, zu dem wir gingen, hatte sowohl Hirn als Zunge, aber wir bestelltens nicht. Ich nahm Carne Asada und sie Hühnerhack, und beide nahmen wir einen großen Becher Horchata.

Kaum hatten wir uns gesetzt, rollte sie ihren Burrito aus und holte ein kleines Fläschchen aus ihrer Tasche. Es war ein kleiner Edelstahl-Zerstäuber, den wohl jeder für eine Pfefferspray-Selbstverteidigungswaffe gehalten hätte. Sie zielte auf die freiliegenden Innereien ihres Burrito und nebelte sie mit einem feinen, öligen roten Spray ein. Ich bekam einen Hauch in die Nase, meine Kehle zog sich zusammen und meine Augen tränten.

†œWas zum Teufel tust du deinem armen, wehrlosen Burrito da an?†

Sie warf mir ein fieses Grinsen zu. †œIch bin süchtig nach scharfem Essen. Das hier ist Capsaicinöl in einem Zerstäuber.†

†œCapsaicin…†

†œGenau, das Zeug in Pfefferspray. Das hier ist im Prinzip Pfefferspray, aber in Öl angelöst. Und viel leckerer. Stell es dir einfach wie Spicy Cajun Visine vor.†

Meine Augen tränten schon beim bloßen Gedanken daran.

†œDu machst Witze. Das da wirst du niemals essen.†

Sie zog die Augenbrauen hoch. †œHey, Bürschchen, das klingt wie ne Herausforderung. Schau genau hin.†

Sie rollte den Burrito so sorgfältig zusammen wie ein Kiffer seinen Joint, schlug die Enden ein und wickelte ihn dann wieder in die Alufolie. Sie pulte ein Ende ab, hielt es sich vor den Mund und balancierte es ein wenig vor ihren Lippen.

Bis zu dem Moment, in dem sie reinbiss, konnte ich nicht glauben, dass sie es wirklich tun würde. Ich mein, was sie da grade auf ihr Essen gesprüht hatte, das war nicht bloß scharf, das war eine scharfe Waffe!

Sie biss rein. Kaute, schluckte. Und sah dabei in jeder Hinsicht so aus wie jemand, der seine Mahlzeit genießt.

†œMagst mal beißen?†, fragte sie mit Unschuldsmiene.

Jo†, sagte ich. Ich mag scharfes Essen. Bei den Pakistanis bestell ich immer die Currys, die auf der Speisekarte mit vier Chilis markiert sind.

Ich pulte etwas mehr Folie ab und biss herzhaft rein.

Böser Fehler.

Kennt ihr das Gefühl, wenn ihr einen großen Haps Rettich oder Wasabi oder so was nehmt und wenn sich dann die Nebenhöhlen und die Luftröhre gleichzeitig zusammenziehen und sich der ganze Kopf mit brennend heißer Luft füllt, die durch eure tränenden Augen und Nasenlöcher einen Weg ins Freie sucht? Dieses Gefühl, als obs gleich aus euren Ohren dampft wie bei einer Zeichentrickfigur?

Das hier war viel schlimmer.

Das hier war so, wie wenn man die Hand auf die heiße Herdplatte legt, außer dass es nicht bloß die Hand war, sondern die gesamte Innenseite des Kopfes und die Speiseröhre und alles bis runter zum Magen. Mein ganzer Körper brach in Schweiß aus und ich schnappte verzweifelt nach Luft.

Sie reichte mir kommentarlos meine Horchata, und irgendwie gelang es mir, den Strohhalm in meinen Mund zu führen und gewaltig zu schlucken, den halben Becher auf einmal.

†œEs gibt da diese Skala, die Scoville-Skala, mit der wir Chili-Liebhaber die Schärfe von Paprikafrüchten beschreiben. Reines Capsaicin hat zirka 15 Millionen Scoville. Tabasco liegt bei rund 50.000. Pfefferspray hat freundliche drei Millionen. Das Zeug hier hat kümmerliche 200.000, es ist also in etwa so scharf wie milder Scotch Bonnet Pepper. Ich habe ungefähr ein Jahr gebraucht bis hierher. Ein paar von den richtig Harten können bis zu einer Million ab, zwanzig Mal schärfer als Tabasco. Das ist verdammt höllenscharf. Bei solchen Scoville-Graden wird dein Gehirn total mit Endorphinen geflutet; wirkt auf den Körper berauschender als Hasch. Und gesund ist es auch.†

Allmählich meldeten sich meine Nebenhöhlen zurück, und ich konnte wieder atmen, ohne zu hecheln.

†œAch, und wenn du nächstes Mal pinkeln gehst, wird das noch mal übel brennen†, sagte sie zwinkernd.

Autsch.

†œDu bist wahnsinnig†, sagte ich.

†œGroße Worte von jemandem, der zum Spaß Laptops baut und wieder verschrottet.†

†œTouch醝, sagte ich und fasste mir an die Stirn.

†œMagst du noch was?† Sie hielt mir den Zerstäuber hin.

†œGib rüber†, sagte ich schnell genug, dass wir beide lachen mussten.

Als wir das Restaurant Richtung Dolores Park verließen, legte sie mir den Arm um die Hüfte, und ich stellte fest, dass sie genau die richtige Größe hatte, dass ich ihr bequem meinen Arm um die Schulter legen konnte. Das war neu. Ich war nie einer von den Großen gewesen, und die Mädchen, mit denen ich ging, waren alle genau so groß gewesen wie ich. Mädchen wachsen als Teens schneller als Jungs †“ ein fieser Trick der Natur. Das hier war nett. Es fühlte sich gut an.

An der Ecke 20. Straße bogen wir ab Richtung Dolores. Und noch ehe wir einen Schritt getan hatten, spürten wir schon die Schwingungen, wie das Summen einer Million Bienen zugleich. Unmengen von Leuten strömten dem Park entgegen, und von hier betrachtet sah er hundert Mal voller aus als vorhin, bevor ich Ange traf.

Der bloße Anblick brachte mein Blut zum Kochen. Es war eine wundervolle, kühle Nacht, und wir würden feiern, richtig feiern, feiern, als gäbe es kein Morgen. †œLass uns essen, trinken und fröhlich sein, denn morgen sterben wir.†

Ohne ein Wort zu sagen, fielen wir in Laufschritt. Wir begegneten massenhaft Polizisten mit ernsten Gesichtern, aber was würden die schon unternehmen wollen? Es waren unglaublich viele Leute im Park. Ich bin nicht so gut darin, Massen zu zählen. In den Zeitungen sollten die Veranstalter später von 20.000 Leuten sprechen, während die Polizei 5000 zählte. Vielleicht waren es also 12.500.

Wie auch immer: Noch nie war ich unter so vielen Menschen gewesen, und hier war ich Teil eines unangekündigten, unzulässigen, illegalen Events.

Nur einen Augenblick später waren wir mittendrin. Ich würds nicht beschwören wollen, aber ich glaube, es war wirklich niemand über 25 in dieser Traube von Menschen. Alle lächelten. Ein paar jüngere Kinder waren dabei, Zehn-, Zwölfjährige, und das empfand ich als beruhigend. Niemand würde etwas allzu Dummes unternehmen, wenn so junge Kinder in der Menge dabeiwaren. Niemand würde riskieren wollen, dass Kinder verletzt würden. Diese Nacht würde einfach bloß eine denkwürdige, festliche Frühlingsnacht werden.

Ich fand, wir sollten uns am besten Richtung Tennisplätze orientieren. Also wühlten wir uns durch die Menge, und um uns nicht zu verlieren, nahmen wir uns bei den Händen. Um uns nicht zu verlieren, wäre es natürlich nicht nötig gewesen, unsere Finger ineinander zu verschränken; das war nur zum Vergnügen. Und es war ein ganz erhebliches Vergnügen.

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Die Bands waren alle auf den Tennisplätzen mit ihren Gitarren, Mischpulten, Keyboards und sogar einem Schlagzeug. Später fand ich im Xnet einen Flickr-Stream davon, wie sie das ganze Zeug reinschmuggelten, Stück für Stück, in Sporttaschen und unter den Mänteln. Außerdem gab es monströse Lautsprecher, die Sorte, wie man sie bei Autoteilehändlern findet, und darunter ein Stapel von… Autobatterien! Ich musste lachen. Genial! So also versorgten sie ihre Aufbauten mit Strom.

Ich konnte erkennen, dass es Batterien von einem Hybridwagen waren, von einem Prius. Jemand hatte ein Ökomobil ausgeweidet, um die nächtliche Unterhaltung mit Energie zu versorgen. Die Stapel von Batterien gingen außerhalb der Tennisplätze noch weiter; draußen häuften sie sich auch noch am Zaun entlang, mit dem Hauptstapel mit durchgefädelten Kabeln verbunden. Ich zählte insgesamt 200 Batterien! Gott, das Zeug wog bestimmt auch eine Tonne.

Keine Chance, dass sie das alles ohne E-Mail, Wikis und Mailinglisten hätten organisieren können. Und unvorstellbar, dass so kluge Leute das alles im öffentlichen Internet gemacht hätten. Das alles war im Xnet passiert, darauf verwettete ich meine Stiefel.

Erst mal ließen wir uns eine Weile von der Menge hierhin und dorthin treiben, während die Bands ihre Instrumente stimmten und sich untereinander besprachen. Von weitem sah ich Trudy Doo auf den Tennisplätzen. Sie sah aus wie in einem Käfig, wie ein Profi-Wrestler. Sie trug ein abgerissenes Tanktop, und ihr Haar hing in langen, leuchtend pinkfarbenen Dreadlocks bis zur Hüfte. Dazu trug sie Army-Tarnhosen und riesige Grufti-Stiefel mit Stahlkappen. In diesem Moment nahm sie eine schwere Motorradjacke, abgegriffen wie ein Catcher-Handschuh, und zog sie über, als seis eine Rüstung. Obwohl: Wahrscheinlich war es ja auch als Rüstung gedacht.

Ich versuchte ihr zuzuwinken (wohl um Ange zu beeindrucken), aber sie sah mich nicht, und um nicht weiter bescheuert zu wirken, ließ ichs sein. Die Energie hier in der Menge war schwer beeindruckend. Man redet ja immer von †œVibes† und †œEnergie†, wenn es um große Menschenansammlungen geht, aber wenn mans noch nicht selbst erlebt hat, hält man es vermutlich nur für eine rhetorische Figur.

Ist es aber nicht. Es ist das Lächeln, ansteckend und groß wie Wassermelonen, auf jedem Gesicht. Wie jeder Einzelne zu einem unhörbaren Rhythmus hopst und die Schultern wippen. Der wogende Gang. Witze, Lachen. Der Klang jeder Stimme, angespannt, aufgeregt, wie ein Feuerwerk, das jeden Moment gezündet wird. Und du kannst gar nicht anders, als ein Teil davon zu sein. Ist einfach so.

Als die Bands loslegten, war ich von den Massen-Vibes schon komplett zugedröhnt. Der Opener war eine Art serbischer Turbo-Folk, und ich konnte nicht rauskriegen, wie man dazu tanzen sollte. Ich kann überhaupt nur zu zweierlei Sorten Musik tanzen: zu Trance (schlurf rum und lass dich von der Musik bewegen) und zu Punk (spring rum und schüttel die Mähne, bis du verletzt oder ausgepowert bist oder beides). Der nächste Act waren Oakland-HipHopper mit einer Thrash-Metal-Kombo als Backup, was besser klingt, als die Beschreibung vermuten lässt. Danach kam etwas Kaugummi-Pop. Und dann übernahmen die Speedwhores die Bühne, und Trudy Doo trat ans Mikro.

†œMein Name ist Trudy Doo, und ihr seid Idioten, wenn ihr mir traut. Ich bin zweiunddreißig, und für mich ist der Zug abgefahren. Ich bin fertig. Ich bin noch voll in den alten Ideen drin. Ich betrachte meine Freiheit immer noch als was Selbstverständliches und erlaube es anderen Leuten, sie mir wegzunehmen. Ihr seid die erste Generation, die im Gulag Amerika aufwächst, und ihr wisst auf den letzten gottverdammten Cent genau, was eure Freiheit wert ist!†

Die Menge tobte. Sie huschte ein paar schnelle, nervöse Akkorde auf ihrer Gitarre dahin, und ihre Bassistin, ein mächtig dickes Mädchen mit ner Dyke-Frisur, noch größeren Stiefeln und einem Lächeln, das Bierflaschen öffnen konnte, verlegte schon ein reichlich hartes Brett. Mich hielt es nicht mehr auf den Füßen. Ich hüpfte, und Ange hüpfte mit. Wir schwitzten in der Abendluft, die schon geschwängert war von Schweiß und Pot-Rauch. Von allen Seiten wurden wir von warmen Leibern bedrängt, alles hüpfte mit.

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†œTraut keinem über 25!†, rief sie.

Wir brüllten, ein einziges riesiges Tier, aus voller Kehle.

†œTraut keinem über 25!†

†œTraut keinem über 25!†

†œTraut keinem über 25!†
†œTraut keinem über 25!†
†œTraut keinem über 25!†
†œTraut keinem über 25!†

Sie schlug auf der Gitarre ein paar harte Akkorde an, und die zweite Gitarristin, eine Elfe mit heftig gepierctem Gesicht, fiel ein, in schwindelerregenden Höhen, über den zwölften Bund raus.

†œDas hier ist unsere verdammte Stadt! Es ist unser verdammtes Land. Und kein Terrorist kann es uns wegnehmen, so lange wir nur frei sind. Sobald wir nicht mehr frei sind, gewinnen die Terroristen! Holt es euch zurück! Holt es euch zurück! Ihr seid jung genug und dumm genug, um noch nicht zu wissen, dass ihr eigentlich keine Chance habt, also seid ihr die einzigen, die uns noch zum Sieg führen können! Holt es euch zurück!†

†œHOLT ES EUCH ZURÜCK!†, brüllten wir. Sie drosch hart auf ihre Saiten ein. Wir nahmen die Note grölend auf, und dann wurde es richtig, richtig LAUT.

Ich tanzte, bis ich vor Müdigkeit keinen Schritt mehr machen konnte, und Ange tanzte neben mir. Rein technisch gesehen rieben wir stundenlang unsere schwitzenden Leiber aneinander, aber glaubt es oder lasst es bleiben, es törnte mich nicht an. Wir tanzten bloß, wir verloren uns in den Beats und dem Soundgeprügel und dem Schreien †“ HOLT ES EUCH ZURÜCK! HOLT ES EUCH ZURÜCK!

Als ich nicht mehr tanzen konnte, griff ich nach ihrer Hand, und sie drückte meine, als ob ich sie davon abhalten müsse, von einem Hausdach zu fallen. Sie zog mich aus der Masse raus, wo es luftiger und kühler wurde. Da draußen, im Randbereich von Dolores Park, waren wir der kühlen Luft ausgesetzt, und der Schweiß auf unseren Körpern wurde sofort eiskalt. Wir zitterten, und sie schlang ihre Arme um meine Hüfte. †œWärm mich†, forderte sie.

Ich brauchte keine weiteren Hinweise und umarmte sie auch. Ihr Herzschlag war ein Echo der rasenden Beats auf der Bühne †“ Breakbeats jetzt ohne Gesang, schnell und aggressiv.

Sie roch nach Schweiß, ein scharfer, überwältigender Geruch. Ich wusste, ich roch auch nach Schweiß. Meine Nase war in ihrem Haar vergraben, ihr Gesicht an meinem Schlüsselbein. Ihre Hände wanderten in meinen Nacken und zogen an mir.

†œKomm hier runter, ich hab keine Trittleiter dabei†, sagte sie, und ich versuchte zu lächeln, aber Lächeln ist schwierig, wenn man gleichzeitig küsst.

Ich erwähnte bereits, dass ich in meinem Leben bislang drei Mädchen geküsst hatte. Zwei von ihnen hatten vorher noch niemanden geküsst. Eine hatte feste Freunde, seit sie zwölf war, und die hatte so ihre Eigenarten.

Keine von ihnen küsste wie Ange. Sie machte ihren gesamten Mund weich wie das Innere einer reifen Frucht, und sie rammte mir ihre Zunge nicht einfach in den Mund, sondern ließ sie reingleiten, und gleichzeitig saugte sie meine Lippen in ihren Mund, und es war, als ob mein Mund und ihrer ineinander verschmolzen. Ich hörte mich selbst stöhnen und packte sie und umarmte sie fester.

Langsam, ganz langsam ließen wir uns ins Gras sinken. Und dann lagen wir auf der Seite und umarmten einander, küssten und küssten und küssten. Die ganze Welt verschwand hinter diesem einen Kuss.

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Meine Hände fanden ihren Po, ihre Hüften. Den Saum ihres T-Shirts. Ihren warmen Bauch, den weichen Nabel. Sie bewegten sich langsam höher. Sie stöhnte ebenfalls.

†œNicht hier†, sagte sie. †œLass uns da rüber gehen.† Sie zeigte über die Straße hinweg auf die große weiße Kirche, die Mission Dolores Park und der Mission den Namen gab. Händchenhaltend eilten wir rüber zur Kirche. Vor dem Eingang standen einige Pfeiler. Sie presste mich mit dem Rücken gegen einen davon und zog mein Gesicht wieder zu sich herunter. Meine Hände wanderten schnell und mutig zurück zu ihrem T-Shirt und dort immer höher.

†œEr geht hinten auf†, flüsterte sie in meinen Mund. Mit meiner Latte hätte ich mittlerweile Glas schneiden können. Meine Hände wanderten weiter zu ihrem breiten, kräftigen Rücken, und mit zitternden Fingern fand ich das Häkchen. Ich fummelte eine Weile und dachte dabei an all die Witze darüber, wie schlecht Jungs darin sind, BHs zu öffnen. Ich war schlecht darin. Dann plötzlich ging das Häkchen auf. Sie keuchte in meinen Mund. Ich zog meine Hände wieder nach vorn, spürte die Feuchtigkeit unter ihren Achseln (was ich sexy fand und merkwürdigerweise kein Stück abstoßend) und streichelte die Seiten ihrer Brüste.

In diesem Moment begannen die Sirenen zu heulen.

Sie waren lauter als alles, was ich jemals gehört hatte. Ein Lärm, der im ganzen Körper zu spüren war, als ob dich plötzlich jemand von den Füßen reißt. Ein Lärm so laut, wie ihn deine Ohren nur verarbeiten können, und noch lauter.

†œENTFERNEN SIE SICH SOFORT VON HIER!† donnerte die Stimme Gottes in meinem Schädel.

†œDIES IST EINE ILLEGALE VERSAMMLUNG. ENTFERNEN SIE SICH SOFORT!† Die Band hatte aufgehört zu spielen, und die Geräusche der Menge auf der anderen Straßenseite änderten sich. Sie wurde ängstlich. Und wütend.

Ich hörte ein Klicken, als die PA-Anlage aus Autoboxen und Autobatterien auf den Tennisplätzen eingeschaltet wurde.

†œHOLT ES EUCH ZURÜCK!†

Es war ein lauter, trotziger Schrei, ein Schrei wie in die Brandung oder von einer Klippe herab.

†œHOLT ES EUCH ZURÜCK!†

Die Masse grummelte, ein Klang, der mir die Nackenhaare sträubte.

†œHOLT ES EUCH ZURÜCK!†, skandierten sie. †œHOLT ES EUCH ZURÜCK HOLT ES EUCH ZURÜCK HOLT ES EUCH ZURÜCK!†

Die Polizei rückte in Reihen an, hinter Plastikschilden, unter Darth-Vader-Helmen, die die Gesichter bedeckten. Jeder hatte einen schwarzen Gummiknüppel und eine Infrarot-Nachtsichtbrille. Sie sahen aus wie Soldaten in einem futuristischen Kriegsfilm. Alle zusammen machten einen Schritt vorwärts, und jeder hieb seinen Knüppel gegen seinen Schild †“ ein Krachen, als ob die Erde splitterte. Noch ein Schritt, noch ein Krachen. Sie hatten den gesamten Park umstellt und zogen den Belagerungsring jetzt zu.

†œENTFERNEN SIE SICH SOFORT VON HIER†, sagte die Stimme Gottes noch einmal. Plötzlich waren Helikopter über uns. Aber ohne Suchscheinwerfer. Infrarotbrillen, klar. Die würden da oben auch Nachtsichtgeräte haben. Ich zog Ange zurück zur Kirchentür, aus dem Sichtfeld der Bullen und der Helis.

†œHOLT ES EUCH ZURÜCK!†, donnerte die PA. Das war Trudy Doos Rebellenschrei, und ich konnte hören, wie sie auf der Gitarre ein paar Akkorde rausprügelte, dann der Schlagzeuger dazu, dann der riesige, tiefe Bass.

†œHOLT ES EUCH ZURÜCK!†, antwortete die Menge, und dann schwappte die Woge aus dem Park heraus und den Gefechtsreihen der Polizei entgegen.

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Ich war noch nie im Krieg, aber jetzt glaube ich zu wissen, wie das ist. Wie es sich anfühlen muss, wenn verängstigte Kids über eine Wiese rennen, um sich einer gegnerischen Macht entgegenzuwerfen, wohl wissend, was kommen muss, und trotzdem rennen sie, brüllen und heulen.

[x]

†œENTFERNEN SIE SICH SOFORT VON HIER†, sagte die Stimme Gottes. Sie kam von Trucks, die rund um den Park abgestellt waren, Trucks, die dort in den letzten paar Sekunden postiert worden waren.

Und dann fiel der Nebel vom Himmel. Er kam aus den Helikoptern, und er erwischte uns nur grade eben noch. Ich dachte, mir sprengts die Schädeldecke weg und meine Nasenhöhlen werden mit Eispickeln perforiert. Meine Augen schwollen und tränten, meine Kehle zog sich zusammen.

Pfefferspray. Nicht bloß 200.000 Scoville. Eineinhalb Millionen. Die hatten die Masse begast.

Ich konnte nicht sehen, was da passierte, aber ich konnte es hören, über Anges und mein Husten hinweg, während wir einander festhielten. Erst die erstickten, würgenden Geräusche. Gitarre, Drums und Bass kamen abrupt zum Schweigen. Dann Husten.

Dann Schreien.

Das Schreien dauerte entsetzlich lange. Als ich wieder sehen konnte, hatten die Bullen ihre Brillen hochgeschoben, und die Helis fluteten Dolores Park mit so viel Scheinwerferlicht, dass es aussah wie am hellichten Tag. Jeder schaute in Richtung Park, und das war gut für uns, denn als die Lichter angingen, da waren auch wir perfekt sichtbar.

†œWas machen wir jetzt?†, fragte Ange mit belegter, furchtsamer Stimme. Für einen Augenblick war ich nicht sicher, ob ich meiner eigenen Stimme schon wieder trauen könnte, und schluckte ein paar Mal.

†œWir gehen jetzt weg†, sagte ich dann. †œWas anderes bleibt uns nicht übrig. Weggehen, als ob wir hier bloß vorbeigekommen sind. Dolores runter und dann hoch zur Sechzehnten. Als ob wir bloß vorbeigekommen sind und uns das alles hier nichts angeht.†

†œDas klappt nie†, sagte sie.

†œMehr fällt mir nicht ein.†

†œDenkst du nicht, wir sollten lieber rennen?†

†œNein. Wenn wir rennen, dann jagen sie uns. Aber wenn wir gehen, denken sie vielleicht, dass wir nichts getan haben, und lassen uns in Ruhe. Die haben mit ihren Verhaftungen hier genug zu tun, um sich ne Weile zu beschäftigen.†

Im Park wälzten die Leute sich auf dem Boden, hielten sich die Hände vors Gesicht und schnappten nach Luft. Die Bullen packten sie unter den Achseln und zogen sie raus, dann fesselten sie die Handgelenke mit Plastikhandschellen und schubsten sie in die Trucks, als seien es Stoffpuppen.

†œOkay?†, fragte ich.

†œOkay.†

Und genau so machten wirs. Wir gingen händchenhaltend, flott und zielstrebig davon, wie zwei Leute, die bemüht waren, sich aus dem Ärger anderer Leute rauszuhalten. Die Sorte Gang, in die man verfällt, wenn man so tut, als ob man den Schnorrer nicht sieht, oder einem Straßenkampf aus dem Weg gehen will.

Es klappte.

Wir erreichten die Ecke, bogen ab und gingen weiter. Zwei Blocks weit traute sich keiner von uns zu sprechen. Dann ließ ich einen Atemzug raus, von dem ich gar nicht wusste, dass ich ihn schon so lange angehalten hatte.

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Dann kamen wir zur 16ten Straße und bogen ab Richtung Mission Street. Normalerweise ist das samstagnachts um zwei eine ziemlich beängstigende Gegend. In dieser Nacht war es eine Offenbarung †“ dieselben alten Junkies, Nutten, Dealer und Besoffskis wie immer. Keine Bullen mit Knüppeln, kein Gas.

†œHm†, sagte ich, Nachtluft einsaugend. †œKaffee?†

†œNach Hause†, erwiderte sie. †œJa, ich glaube, nach Hause jetzt. Kaffee später.†

†œGut.† Sie wohnte oben in Hayes Valley. Ich sah ein Taxi vorbeifahren und winkte es ran. Das war ein kleines Wunder †“ wenn man in San Francisco ein Taxi braucht, ist normalerweise kaum eins zu kriegen.

†œHast du genug Taxigeld für nach Hause?†

†œJa†, sagte sie. Der Taxifahrer beäugte uns durch die Seitenscheibe. Ich öffnete schon mal die Fondtür, um ihn davon abzuhalten, gleich wieder loszufahren.

†œGute Nacht†, sagte ich.

Sie griff um meinen Kopf herum und zog mein Gesicht zu sich heran. Dann küsste sie mich hart auf den Mund, nichts Sexuelles darin, aber vielleicht grade deswegen um so intimer.

†œGute Nacht†, flüsterte sie mir ins Ohr und verschwand im Taxi.

Mit dumpfem Schädel, tränenden Augen und einem brennenden Schamgefühl, weil ich all diese Xnetter zurückgelassen hatte, der Gnade oder Ungnade von DHS und SFPD ausgeliefert, machte ich mich auf den Weg nach Hause.

Am Montagmorgen stand Fred Benson hinter Ms. Galvez†™ Schreibtisch. †œMs. Galvez wird diese Klasse nicht länger unterrichten†, sagte er, kaum dass wir uns gesetzt hatten. Er hatte diese selbstgefällige Miene aufgesetzt, die ich sofort erkannte. Einer Ahnung folgend schaute ich zu Charles rüber. Er grinste, als sei heute sein Geburtstag und er hätte das schönste Geschenk der Welt bekommen.

Ich hob die Hand.

†œWarum nicht?†

†œEs gehört zu den Prinzipien der Schulbehörde, die Belange der Angestellten mit niemandem außer dem Angestellten selbst und dem Disziplinarkomitee zu besprechen†, sagte er und gab sich dabei nicht mal Mühe zu verbergen, welche Genugtuung es ihm bereitete, das zu sagen.

†œWir beginnen heute mit einer neuen Unterrichtseinheit zur nationalen Sicherheit. Ihre SchulBooks haben die neuen Texte. Bitte öffnen Sie sie und rufen sie den ersten Bildschirm auf.†

Auf dem Startbildschirm prangte ein DHS-Logo nebst Titel †œWAS JEDER AMERIKANER ÜBER HEIMATSCHUTZ WISSEN SOLLTE†.

Am liebsten hätte ich mein SchulBook auf den Boden gepfeffert. – Fortsetzung Kapitel 13

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Hintergründe, Handlung und weitere Informationen zu Little Brother findet ihr unter: Jugendthriller: Little Brother von Cory Doctorow komplett im Netz

Hier handelt es sich um die deutsche Übersetzung von Christian Wöhrl

Little Brother ist unter einem Creative Commons Namensnennung-Keine kommerzielle Nutzung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenzvertrag lizenziert.

Das Original wurde unter: http://craphound.com/littlebrother veröffentlicht.

Little Brother von Cory Doctorow: Kapitel 11

Little Brother

Kapitel 11

Dieses Kapitel ist der Universitätsbuchhandlung an der Universität von Washington gewidmet, deren Science-Fiction-Abteilung dank dem scharfen Blick und der Hingabe des Science-Fiction-Einkäufers Duane Wilkins derjenigen vieler spezialisierter Geschäfte ebenbürtig ist. Duane ist ein echter Science-Fiction-Fan †“ ich habe ihn das erste Mal bei der World Science Fiction Convention in Toronto 2003 getroffen -, und das zeigt sich im gut informiert ausgewählten Sortiment, das im Laden präsentiert wird.

Ein gutes Indiz für eine herausragende Buchhandlung ist die Qualität der †œRegal-Reviews† †“ der kleinen Kartonschnipsel an den Regalen, auf denen das Personal üblicherweise handschriftlich kleine Rezensionen über die Vorzüge von Büchern verfasst, die man sonst einfach verpassen würde. Und die Angestellten in der Universitätsbuchhandlung haben offensichtlich von Duanes Anleitung profitiert, denn die Regal-Reviews hier sind absolut unvergleichlich.

The University Bookstore:

http://www4.bookstore.washington.edu/_trade/ShowTitleUBS.taf?ActionArg=Title&ISBN=9780765319852

4326 University Way NE, Seattle, WA 98105 USA +1 800 335 READ

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Jolu stand auf. †œJetzt wird†™s ernst, Leute. Jetzt sehen wir, aufwelcher Seite ihr seid. Vielleicht habt ihr keine Lust, für eure Überzeugungen auf die Straße zu gehen und dafür hopsgenommen zu werden, aber wenn ihr Überzeugungen habt, dann wird es uns das zeigen. Das hier wird das Web of Trust knüpfen, das uns zeigt, wer drin und wer draußen ist. Wenn wir unser Land jemals zurückbekommen wollen, dann müssen wir das tun. Wir müssen einfach etwas wie das hier tun.†

Jemand in der Menge †“ es war Ange †“ hob eine Hand mit einer Bierflasche.

†œNennt mich blöde, aber ich versteh das kein Stück. Warum wollt ihr, dass wir das machen?†

Jolu schaute mich an, und ich erwiderte den Blick. Als wirs organisierten, hatte alles so offensichtlich ausgesehen. †œDas Xnet ist nicht bloß eine Möglichkeit, gratis zu spielen. Es ist das letzte offene Kommunikationsnetzwerk in Amerika. Es ist die letzte Möglichkeit, miteinander zu reden, ohne vom DHS dabei überwacht zu werden. Und damit das so bleibt, müssen wir wissen, dass derjenige, mit dem wir grade sprechen, kein Schnüffler ist. Das bedeutet, wir müssen wissen, dass die Leute, denen wir Nachrichten schicken, tatsächlich die sind, für die wir sie halten.

Und hier kommt ihr ins Spiel. Ihr seid alle hier, weil wir euch vertrauen. Ich meine, wirklich vertrauen. Vertrauen auf Leben und Tod.†

Ein paar Leute stöhnten. Das klang so melodramatisch und dumm.
Ich stand wieder auf.

†œAls die Bomben hochgingen†, sagte ich, und da begann sich etwas in meiner Brust zu regen, etwas Schmerzhaftes. †œAls die Bomben hochgingen, da sind vier von uns auf der Market Street gefangen genommen worden. Aus irgendeinem Grund war das DHS der Meinung, wir hätten Verdacht erregt. Die haben uns Tüten über den Kopf gezogen, auf ein Schiff gebracht und tagelang verhört. Die haben uns erniedrigt und Psychospielchen mit uns gespielt. Dann haben sie uns gehen lassen.

Uns alle außer einem. Meinem besten Freund. Er war bei uns, als sie uns einkassiert haben. Er war verletzt und brauchte ärztliche Hilfe. Und er kam nie wieder raus. Sie behaupten, sie hätten ihn nie gesehen. Sie sagen, wenn wir je irgendwem davon erzählen, dann verhaften sie uns und lassen uns verschwinden.

Für immer.†

Ich zitterte. Diese Scham. Diese verdammte Scham. Jolu hielt mit der Lampe auf mich.

†œOh Gott†, sagte ich. †œIhr hier, ihr seid die ersten, denen ich das erzähle. Wenn diese Story die Runde macht, dann könnt ihr drauf wetten, dass die rauskriegen, wer undicht war.

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Dann könnt ihr drauf wetten, dass sie kommen und an meine Tür klopfen.† Ich atmete ein paar Mal tief durch. †œDeshalb engagiere ich mich im Xnet. Und deshalb ist mein Leben von jetzt an dem Kampf gegen das DHS gewidmet. Mit jedem Atemzug, an jedem einzelnen Tag. Bis wir wieder frei sind. Jeder von euch könnte mich jetzt in den Knast bringen, wenn er wollte.†

Ange hob wieder die Hand. †œWir verpfeifen dich nicht†, sagte sie. †œKein Stück. Ich kenn hier so ziemlich jeden, und so viel kann ich dir versprechen. Ich hab zwar keine Ahnung, woran man jemanden erkennt, dem man vertrauen kann, aber ich weiß, wem man nicht vertrauen kann: alten Leuten. Unseren Eltern. Erwachsenen. Wenn die an jemanden denken, dem nachspioniert wird, dann denken die an jemand anderen, irgendeinen Bösen. Wenn sie an jemanden denken, der gefangen und in ein Geheimgefängnis verschleppt wird, dann ist das immer ein anderer †“ ein Junger, ein Farbiger, ein Ausländer.

Sie haben vergessen, wie es ist, in unserem Alter zu sein. Einfach ständig unter Generalverdacht zu sein! Wie oft steigst du in den Bus, und alle starren dich an, als ob du Bröckchen rülpst und Hunde quälst?

Und noch schlimmer: Die werden immer früher und früher erwachsen. Früher hieß es mal, ,trau keinem über 30†².

Ich sage: ,Trau keinem Mistkerl über 25†².†

Alle lachten, und sie lachte mit. Sie war auf eine merkwürdige Weise hübsch, ihr langes Gesicht und die kräftigen Kiefer gaben ihr entfernt was von einem Pferd. †œIch mein das nicht als Witz, wisst ihr? Ich meine, denkt mal drüber nach. Wer hat denn diese Arschgeigen gewählt? Wer hat ihnen gesagt, dass sie unsere Stadt besetzen sollen? Wer hat denn dafür gestimmt, Kameras in unseren Klassenräumen aufzuhängen und uns mit ihren ekligen Schnüffelchips in unseren Transitpässen und Autos überall hinterher zu rennen? Das war doch kein 16-Jähriger. Wir sind jung und vielleicht nicht ganz dicht, aber Abschaum sind wir nicht.†

†œDas will ich auf nem T-Shirt†, sagte ich.

†œDas wär ein gutes†, entgegnete sie. Wir lächelten uns an.

†œWo bekomm ich jetzt meine Schlüssel?†, fragte sie und zog ihr Handy raus.

†œWir machen das da drüben, in der stillen Ecke bei den Höhlen. Ich bring dich rein und bereite den Rechner vor, dann machst du deine Sache und bringst die Maschine zu deinen Freunden, damit die Fotos von deinem öffentlichen Schlüssel machen und ihn zuhause signieren können.†

Ich erhob die Stimme. †œAch, eins noch! Mist, wie konnte ich das vergessen? Ihr müsst die Fotos löschen, sobald ihr die Schlüssel eingetippt habt! Das letzte, was wir brauchen können, ist ein Flickr-Stream mit Fotos von uns allen bei unserer konspirativen Sitzung.†

Als Antwort kam ein bisschen nervöses, gutmütiges Kichern, dann machte Jolu das Licht aus, und in der plötzlichen Dunkelheit konnte ich nichts mehr sehen. Nach und nach passten sich meine Augen an, und ich machte mich auf den Weg zur Höhle. Jemand ging hinter mir. Ange. Ich drehte mich um und lächelte sie an, sie lächelte zurück, und ihre Zähne leuchteten in der Dunkelheit.

†œDanke für grade eben†, sagte ich. †œDu warst toll.†

†œHast du das ernst gemeint, was du von der Tüte überm Kopf und all dem Zeug erzählt hast?†

†œHab ich†, antwortete ich. †œDas ist echt passiert. Ich hab es noch niemandem erzählt, aber es ist passiert.†

Ich dachte einen Moment drüber nach.

†œWeißt du, nach all der Zeit, seit das passiert ist, ohne dass ich irgendwas erzählt habe, hat es sich irgendwann nur noch wie ein böser Traum angefühlt. Aber es war echt.†

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Ich hielt an und kletterte dann zur Höhle hoch.

†œIch bin froh, dass ichs endlich ein paar Leuten erzählt habe. So langsam dachte ich schon, ich wäre durchgedreht.†

Ich stellte den Laptop auf einen trockenen Felsbrocken und fuhr ihn vor ihren Augen von der DVD hoch.

†œIch werde ihn für jeden von euch neu starten. Das hier ist eine normale ParanoidLinux-DVD, aber ich schätze, das musst du mir einfach so glauben.†

†œZum Teufel†, sagte sie. †œGeht es hier um Vertrauen oder was?†

†œJa†, sagte ich. †œVertrauen.†

Ich ging ein paar Schritte weg, während sie den Schlüsselgenerator laufen ließ, hörte ihr zu, wie sie tippte und klickte, um Zufallsdaten zu generieren, hörte dem Rauschen der Brandung zu, hörte den Partygeräuschen zu, die von dort her kamen, wo das Bier war.

Sie kam aus der Höhle raus, den Laptop in den Händen. Darauf waren in großen, leuchtend weißen Lettern ihr öffentlicher Schlüssel, ihr Fingerprint und ihre E-Mail-Adresse zu sehen. Sie hielt den Monitor hoch neben ihr Gesicht und wartete, während ich mein Handy rauskramte.

†œCheese†, sagte sie. Ich machte ein Bild von ihr und steckte die Kamera wieder ein. Sie ging weiter zu den Zechern und ließ jeden ein Foto von ihr mit dem Monitor machen. Es hatte was Feierliches. Und es war lustig. Sie hatte wirklich eine Menge Charisma †“ man wollte sie nicht bloß anlachen, man wollte mit ihr lachen. Und verdammt noch mal, es war lustig. Wir erklärten gerade einen geheimen Krieg gegen die Geheimpolizei. Wer dachten wir denn, wer wir waren?

So ging es vielleicht eine Stunde lang weiter, jeder machte Fotos und erzeugte Schlüssel. Ich lernte jeden hier kennen. Ich kannte schon viele †“ einige hatte ich ja selbst eingeladen -, und die anderen waren Freunde meiner Kumpels oder von Kumpeln meiner Kumpels. Wir sollten alle ein Team sein. Am Ende dieser Nacht waren wirs. Es waren alles gute Leute.

Als alle fertig waren, ging Jolu, um einen Schlüssel zu erzeugen, und drehte sich dann mit einem unbeholfenen Lächeln von mir weg. Mein Ärger über ihn war inzwischen verraucht. Er tat, was er tun musste. Und ich wusste, dass er, was immer er jetzt auch sagte, immer für mich da sein würde. Und wir waren zusammen im DHS-Knast gewesen. Van auch. Das würde uns für immer zusammenschweißen, komme was da wolle.

Ich erzeugte meinen Schlüssel und drehte dann die Runde durch die Gang, um jeden ein Foto machen zu lassen. Dann kletterte ich wieder auf den erhöhten Fleck von vorhin und bat alle um Aufmerksamkeit.

†œAlso, ne Menge von euch haben mitbekommen, dass die ganze Nummer einen Riesenhaken hat: Was wäre, wenn ihr diesem Laptop nicht trauen könnt? Wenn er heimlich all unsere Anweisungen aufzeichnet? Wenn er uns ausspioniert? Was wäre, wenn ihr Jose Luis und mir nicht trauen könnt?†

Mehr wohlwollendes Gickeln. Ein bisschen wärmer als vorher, bieriger.

†œIch mein das so†, sagte ich. †œWenn wir auf der falschen Seite wären, dann würde all das hier uns alle †“ euch alle †“ in die Scheiße reiten. Vielleicht in den Knast.†

Die Gickler wurden nervöser.

†œUnd deshalb mach ich jetzt das hier†, sagte ich und nahm einen Hammer zur Hand, den ich aus Dads Werkzeugkiste mitgebracht hatte. Ich stellte den Laptop neben mir auf den Felsen und holte mit dem Hammer aus, Jolu mit der Lampe immer an der Bewegung dran. Crash †“ ich hatte immer davon geträumt, einen Laptop mit einem Hammer zu töten, und jetzt tat ich es. Es fühlte sich pornomäßig gut an. Und schlecht zugleich.

Smash! Das Monitorpanel fiel raus, zersplitterte in Millionen Teile und gab die Tastatur frei.

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Ich schlug weiter darauf ein, bis die Tastatur runterfiel und Hauptplatine und Festplatte sichtbar wurden. Crash! Ich zielte genau auf die Festplatte und hieb mit aller Kraft auf sie ein. Es dauerte drei Schläge, bis das Gehäuse zerbarst und das zerbrechliche Innenleben freigab. Ich hämmerte weiter, bis nur noch feuerzeuggroße Einzelteile übrig waren, dann packte ich alles in einen Müllsack. Meine Zuschauer jubelten frenetisch †“ laut genug, dass ich ernsthaft begann, mir Sorgen zu machen, dass uns jemand von oberhalb über die Brandung hinweg hören und die Gesetzeshüter rufen könnte.

†œDas wäre das!†, rief ich. †œAlso, wenn mich jetzt jemand begleiten möchte †“ ich trage das jetzt runter zum Meer und spül es zehn Minuten im Salzwasser.†

Zuerst fand der Vorschlag keinen Zuspruch, aber dann kam Ange nach vorn, nahm meinen Arm in ihre warme Hand und flüsterte mir †œdas war wundervoll† ins Ohr; dann gingen wir zusammen runter zum Strand.

Es war völlig dunkel unten am Wasser und nicht ungefährlich, selbst mit unseren Schlüsselanhänger-Lampen. Rutschige, scharfkantige Felsen überall, auf denen auch schon ohne drei Kilo pürierter Elektronik in ner Plastiktüte schwer balancieren war. Ein Mal rutschte ich aus und war drauf gefasst, mir was aufzuschlagen, aber sie angelte mich mit erstaunlich festem Griff und hielt mich aufrecht. Ich wurde ganz nah an sie rangezogen, nah genug, um ihr Parfum wahrzunehmen, einen Duft nach neuen Autos. Ich liebe diesen Duft.

†œDanke†, brachte ich raus und schaute ihr in die großen Augen, die von ihrer männlichen, schwarz gefassten Brille noch vergrößert wurden. Ich konnte im Dunkeln nicht erkennen, welche Farbe ihre Augen hatten, aber ich tippte auf was Dunkles, soweit man aus ihrem dunklen Haar und olivbraunen Teint darauf schließen konnte. Sie wirkte südländisch, vielleicht mit griechischen, spanischen oder italienischen Wurzeln.

Ich bückte mich und ließ den Beutel im Meer mit Salzwasser volllaufen. Dabei brachte ichs fertig, auszurutschen und meinen Schuh zu fluten; ich fluchte und sie lachte. Seit wir zum Ufer aufgebrochen waren, hatten wir kaum ein Wort gewechselt. Es war etwas Magisches um unser Stillschweigen.

Bis zu diesem Tag hatte ich insgesamt drei Frauen geküsst, den Heldenempfang in der Schule nicht mitgerechnet. Das ist keine beeindruckende Zahl, aber so ganz winzig ja auch nicht. Ich habe ein passables Frauenradar, und ich glaube, ich hätte sie küssen können. Sie war nicht h31ß im traditionellen Sinn, aber ein Mädchen und eine Nacht und ein Strand, das hat schon was; außerdem war sie smart, leidenschaftlich und engagiert.

Aber ich küsste sie nicht und nahm sie auch nicht bei der Hand. Stattdessen erlebten wir einen Moment, den ich nur als spirituell bezeichnen kann. Die Brandung, die Nacht, das Meer und die Felsen, dazu unser Atmen. Der Moment dehnte sich aus. Ich seufzte. Was für eine Aktion! In dieser Nacht würde ich noch eine Menge zu tippen haben, um all die Schlüssel in meinen Schlüsselbund zu übertragen, zu signieren und die signierten Schlüssel zu veröffentlichen. Um das Web of Trust zu starten.

Sie seufzte auch.

†œGehn wir†, sagte ich.

Ja.†

So gingen wir zurück. Diese Nacht war eine gute Nacht.

Jolu wartete hinterher noch, bis der Freund seines Bruders kam, um die Kühlboxen abzuholen. Ich ging mit allen anderen die Straße hoch bis zur nächsten Bushaltestelle und stieg ein. Natürlich benutzte niemand von uns eine reguläre Fahrkarte mehr; mittlerweile klonte jeder Xnetter gewohnheitsmäßig drei-, viermal am Tag den Fahrausweis von jemand anderem, um sich für jede Fahrt eine neue Identität zuzulegen.

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Es war nahezu unmöglich, im Bus cool zu bleiben. Wir waren alle leicht angeschickert, und es war wahnsinnig komisch, uns gegenseitig im grellen Licht im Bus anzuschauen. Wir wurden ziemlich laut, und der Fahrer ermahnte uns zwei Mal über die Sprechanlage und sagte dann, wenn wir nicht sofort ruhig seien, würde er die Polizei rufen.

Das brachte uns gleich wieder zum Gickeln, und so stiegen wir alle auf einmal aus, bevor er die Bullen rufen konnte. Wir waren jetzt in North Beach, und jede Menge Busse, Taxis, die BART in Market Street und ein paar neonleuchtende Clubs und Cafés sorgten dafür, dass sich unsere Gruppe hier zerstreute.

Ich kam heim, warf die Xbox an und begann, Schlüssel von meinen Handyfotos zu übertragen. Das war eine stumpfsinnige, hypnotisierende Angelegenheit, und weil ich außerdem ein bisschen betrunken war, fiel ich darüber in einen Halbschlaf.

Grade als ich vollends am Wegdämmern war, poppte ein neues Messenger-Fenster hoch.

> hey-ho!

Ich erkannte den Nick nicht †“ spexgril -, aber ich hatte so eine Ahnung, wer es sein könnte.

>hi

tippte ich vorsichtig.

> ich bins, von heute nacht

Dann fügte sie einen Block Krypto ein. Ihren öffentlichen Schlüssel hatte ich schon am Schlüsselbund, also ließ ich den Messenger versuchen, den Code mit ihrem Schlüssel zu entziffern.

> ich bins, von heute nacht

Sie war es!

> Schön dich hier zu sehen

tippte ich, verschlüsselte es mit meinem Schlüssel und schickte es ab.

> Es war toll, dich zu treffen

tippte ich weiter.

> Dich auch. Ich treff nicht so viele kluge Jungs, die auch noch süß sind und ein soziales Gewissen haben.

Gute Güte, Mann, du lässt einem Mädchen kaum eine Chance.

Mein Herz hämmerte in meiner Brust.

>Hallo? Klopfklopf? Jemand daheim? Ich bin nicht hier geboren, Leute, aber ich werde ganz sicher hier sterben. Vergesst nicht, euren Kellnerinnen Trinkgeld zu geben, sie arbeiten so hart. Ich bin die ganze Woche hier.

Ich musste laut lachen.

> Ich bin ja hier, ich lach bloß zu laut, um tippen zu können

> Na zumindest meine Messenger-Comedy zieht noch

Aha?

> Es war echt toll, dich zu treffen

> Ja, das ist es meistens. Wohin führste mich aus?

> Ausführen?

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> Bei unserem nächsten Abenteuer?

> Hatte noch nichts geplant

> Okay, dann sag ich, wohin. Freitag, Dolores Park. Illegales Open-Air-Konzert. Komm da hin, oder du bistn Dodekaeder

> Was noch mal?

> Liest du nicht mal Xnet? Steht an jeder Ecke. Schon mal von den Speedwhores gehört?

Ich verschluckte mich bald. Das war Trudy Doos Band †“ DIE Trudy Doo, die Frau, die Jolu und mich dafür bezahlte, den indienet-Code zu aktualisieren.

> Ja, schon von gehört

> Die planen einen Riesengig und haben wohl noch so fünfzig andere Bands dabei, wollen das auf den Tennisplätzen machen, mit ihren eigenen Boxentrucks dabei, und die ganze Nacht durchrocken

Ich fühlte mich wie ein Grottenolm. Wie war das denn an mir vorbeigegangen? Auf Valencia gabs diese anarchistische Buchhandlung, an der ich manchmal auf dem Weg zur Schule vorbeikam; und die hatte ein Poster im Fenster mit einer alten Revolutionärin, Emma Goldman, mit der Zeile †œWenn ich nicht tanzen kann, dann will ich nichts mit deiner Revolution zu tun haben.† Ich hatte meine gesamte Energie darauf verwendet, mit dem Xnet engagierte Kämpfer zu organisieren, um dem DHS dazwischenzufunken. Aber das hier war ja wohl soo viel cooler. Ein Riesenkonzert †“ ich hatte keine Ahnung, wie man so was aufzog, aber ich war froh, dass es Leute gab, die das konnten.

Und wenn ichs mir recht überlegte, dann war ich verdammt stolz drauf, dass sies mit Hilfe des Xnets organisierten.

Am nächsten Tag war ich ein Zombie. Ange und ich hatten bis vier Uhr früh gechattet †“ na ja, geflirtet. Zum Glück war Samstag, und ich konnte ausschlafen, aber vor Kater und Übermüdung kriegte ich trotzdem keinen geraden Gedanken zusammen.

Gegen Mittag mühte ich mich aus dem Bett und raus auf die Straße. Ich wankte rüber zum Türken, um meinen Kaffee zu kaufen †“ wenn ich allein war, kaufte ich neuerdings meinen Kaffee immer hier, weil ich das Gefühl hatte, der Türke und ich seien Mitglieder eines geheimen Clubs.

Auf dem Weg dahin kam ich an einer Menge frischer Graffiti vorbei. Ich mochte die Graffiti im Mission-Viertel; es war meist riesige, üppige Wandmalerei oder die sarkastischen Schablonenwerke von Kunststudenten. Und ich mochte es, dass die Tagger in der Mission unter den Augen des DHS immer noch weiter machten. Auch ne Art Xnet, dachte ich †“ die mussten auch ihre Methoden haben, rauszukriegen, was los war, woher man Farbe kriegte und welche Kameras funktionierten. Einige Kameras, merkte ich, waren einfach übergesprüht.

Vielleicht benutzten sie ja das Xnet!

In drei Meter hohen Buchstaben prangten am Bretterzaun eines Schrottplatzes die Worte: TRAU NIEMANDEM ÜBER 25.

Ich hielt an. War wohl jemand gestern von meiner †œParty† mit einer Farbdose hier vorbeigekommen? Ne Menge von den Leuten lebte hier im Viertel.

Ich holte meinen Kaffee und stratzte dann ein bisschen durch die Stadt. Dabei dachte ich die ganze Zeit, eigentlich müsste ich jemanden anrufen, ob wir uns einen Film ausleihen wollten oder so. So war es immer gewesen an faulen Samstagen wie heute. Aber wen sollte ich anrufen? Van redete nicht mit mir, ich glaubte nicht, schon wieder mit Jolu sprechen zu können, und Darryl…

Nun, Darryl konnte ich nicht anrufen.

Also holte ich noch einen Kaffee, ging heim und suchte ein bisschen in den Blogs im Xnet herum. Diese anonymen Blogs konnten keinem bestimmten Autor zugeordnet werden †“ es sei denn, der Autor war blöd genug, einen Namen drüberzuschreiben -, und es gab eine ganze Menge davon.

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Die meisten waren unpolitisch, etliche aber auch nicht. Dort schrieben sie über Schulen und wie unfair es dort war. Sie schrieben über die Bullen und übers Tagging.

Wie sich rausstellte, waren die Planungen für das Konzert im Park schon seit Wochen im Gang. Sie waren von Blog zu Blog gewandert, ohne dass ich was mitbekommen hatte. Und das Konzert stand unter dem Motto †œTrau keinem über 25†³.

Nun, das erklärte, woher Ange es hatte. War ein guter Slogan.

Am Montagmorgen beschloss ich, mal wieder bei der Anarchistenbuchhandlung vorbeizuschauen und zu versuchen, eins dieser Emma-Goldman-Poster zu bekommen. Ich brauchte die Gedächtnisstütze.

Also nahm ich auf dem Weg zur Schule den Umweg die 16te runter in die Mission, dann Valencia hoch und rüber. Der Laden war zu, aber ich notierte mir die Öffnungszeiten und vergewisserte mich, dass sie das Poster noch hängen hatten.

Als ich Valencia runterstapfte, war ich erstaunt zu sehen, wie viel †œTrau keinem über 25 †œ-Zeug hier zu sehen war. Die Hälfte der Läden hatte Trau-keinem-Devotionalien in den Fenstern: Brotdosen, Babydoll-Shirts, Stiftdosen, Truckerhüte. Die Trendsetterläden sind immer schneller geworden: Wenn sich neue Meme binnen ein, zwei Tagen übers Netz verbreiten, dann sind die Läden mittlerweile ganz gut darin, ruckzuck den passenden Merchandising-Kram ins Fenster zu hängen. Wenn du am Montag ein witziges Youtube-Filmchen über einen Typ, der sich aus Mineralwasserflaschen einen Düsenantrieb bastelt, in deiner Mail findest, kannst du davon ausgehen, am Dienstag die ersten T-Shirts mit Stills aus dem Video kaufen zu können.

Aber es war irre zu sehen, wie sich was aus dem Xnet in die Szeneläden ausbreitete. Zerfetzte Designerjeans, auf die der Slogan sorgfältig wie mit Tinte geschrieben war. Gestickte Aufnäher.

Gute Nachrichten verbreiten sich schnell.

Als ich in die Gesellschaftskundeklasse von Ms. Galvez kam, stand der Slogan an der Tafel. Wir saßen alle an unseren Tischen und grinsten ihn an, und er schien zurückzugrinsen. Es hatte was ungeheuer Befriedigendes zu denken, dass wir alle einander trauen konnten und dass der Feind identifizierbar war. Ich wusste, dass das nicht so ganz stimmte, aber es war eben auch nicht so ganz falsch.

Ms. Galvez kam rein, strich sich übers Haar, stellte ihr SchulBook auf den Tisch und schaltete es ein. Dann nahm sie ein Stück Kreide und drehte sich zur Tafel. Alles lachte. Gutmütig zwar, aber wir lachten.

Sie drehte sich wieder zu uns und lachte ebenfalls. †œSieht so aus, als ob die Sloganschreiber der Nation unter Inflation leiden. Wer von euch weiß denn, woher dieser Satz ursprünglich stammt?†

Wir schauten uns an. †œHippies?†, fragte jemand, und wir lachten wieder. San Francisco ist voll von Hippies, von den alten Kiffern mit ihren Schmuddelbärten und Batikfummeln bis zu denen von heute, die sich mehr fürs Verkleiden und Footbag-Spielen interessieren als fürs Protestieren.

†œJa, Hippies. Aber wenn wir heute an Hippies denken, dann meist nur an ihre Kleidung und an die Musik. Aber Kleidung und Musik waren nur eine Begleiterscheinung von dem, was diese Ära, die Sechziger, so wichtig machte.

†œIhr habt schon von der Bürgerrechtsbewegung gehört, der es um die Abschaffung der Rassentrennung ging; weiße und farbige Jugendliche wie ihr, die mit Bussen in den Süden gefahren sind, um bei der Registrierung schwarzer Wähler zu helfen und gegen den offiziellen Staatsrassismus zu protestieren. Kalifornien war einer der Orte, aus denen die meisten Führer der Bürgerrechtsbewegung kamen. Wir waren hier immer schon ein bisschen politischer als der Rest des Landes, und in diesem Teil des Landes konnten Farbige außerdem schon dieselben Fabrikjobs bekommen wie Weiße, so dass es ihnen ein bisschen besser ging als ihren Verwandten im Süden.

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Die Studenten in Berkeley schickten kontinuierlich Freiheitsaktivisten nach Süden, die sie mithilfe von Infoständen auf dem Campus, in Bancroft und Telegraph Avenue rekrutierten. Die Stände gibt es heute noch, ihr habt sie wahrscheinlich schon gesehen.

Tja, die Universität versuchte das zu unterbinden. Ihr Präsident verbot politische Aktivitäten auf dem Campus, aber die Bürgerrechtsjugend ließ sich davon nicht aufhalten. Die Polizei versuchte jemanden zu verhaften, der an den Infoständen Flugblätter verteilte, aber dann haben 3000 Studenten den Wagen umzingelt und es verhindert, ihn abtransportieren zu lassen. Sie wollten es nicht zulassen, dass sie diesen Jugendlichen ins Gefängnis brachten. Sie stellten sich aufs Dach des Polizeiautos und hielten Reden über das First Amendment (3) und über Meinungsfreiheit.

(3) Erster Zusatzartikel zur US-Verfasssung, verbietet u.a. die gesetzliche Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit, A.d.Ü

Das gab den Startschuss für die Bewegung für Meinungsfreiheit. Es war der Beginn der Hippies, aber von hier nahmen auch ein paar radikalere Studentenbewegungen ihren Anfang. Black-Power-Gruppen wie die Black Panthers, und später auch Gruppen für Schwulenrechte wie die Pink Panthers, radikale Frauengruppen, sogar ,lesbische Separatisten†™, die Männer komplett abschaffen wollten. Und die Yippies. Hat schon mal jemand von den Yippies gehört?†

†œWollten die nicht das Pentagon zum Schweben bringen?†, fragte ich. Darüber hatte ich mal eine Doku gesehen.

Sie lachte. †œDas hatte ich vergessen, aber du hast Recht, das waren sie. Yippies waren so etwas wie sehr politische Hippies, aber sie waren nicht in dem Sinne ernsthaft, wie wir uns Politik heute vorstellen. Sie waren ziemlich verspielt, Faxenmacher. Sie haben Geld in die New Yorker Börse geworfen und das Pentagon mit Hunderten Leuten umringt, um es mit einem Zauberspruch zu levitieren. Sie haben eine fiktive Art von LSD erfunden, das man mit Wasserpistolen versprühen sollte, und dann haben sie sich gegenseitig bespritzt und so getan, als ob sie stoned seien.

Sie waren lustig und ziemlich telegen †“ einer der Yippies, ein Clown namens Wavy Gravy, brachte in der Regel Hunderte von Demonstranten dazu, sich wie der Weihnachtsmann zu verkleiden, so dass man abends in den Fernsehnachrichten sehen konnte, wie Polizisten den Weihnachtsmann festnahmen -, und sie mobilisierten eine Menge Leute.

Ihre große Stunde war die Democratic National Convention 1968, als sie zu Protesten gegen den Vietnamkrieg aufriefen. Tausende von Leuten kamen nach Chicago, schliefen in den Parks und demonstrierten jeden Tag. In diesem Jahr hatten sie eine Menge bizarrer Aktionen; zum Beispiel ließen sie ein Schwein namens Pigasus als Präsidentschaftskandidat antreten. Die Polizei und die Demonstranten kämpften in den Straßen †“ das hatten sie vorher auch schon oft getan, aber die Polizisten in Chicago waren nicht klug genug, die Presse in Ruhe zu lassen. Sie verprügelten die Reporter, und die rächten sich, indem sie endlich ausführlich berichteten, was bei diesen Demonstrationen wirklich passierte. Plötzlich sah das ganze Land, wie seine Kinder ziemlich brutal von Polizisten zusammengeschlagen wurden. Sie nannten es einen ,Polizei-Aufstand†™.

Die Yippies sagten immer: †œTrau keinem über 30†³. Damit meinten sie, dass Leute, die vor einem bestimmten Zeitpunkt geboren waren, als Amerika Feinde wie die Nazis bekämpfte, es nie begreifen würden, was es bedeutete, sein Land so sehr zu lieben, dass man es ablehnen musste, gegen die Vietnamesen zu kämpfen.Sie dachten, dass du, wenn du erst mal 30 warst, deine Einstellungen nicht mehr ändern würdest und niemals begreifen könntest, wieso die Kinder der damaligen Zeit auf die Straße gingen und Krawall machten.

San Francisco war der Ausgangspunkt für all das. Hier wurden revolutionäre Armeen gegründet. Einige davon jagten im Dienst ihrer Sache Häuser in die Luft oder raubten Banken aus. Viele der Jugendlichen von damals wurden später mehr oder weniger normal, während andere im Gefängnis landeten. Einige von den Studienabbrechern erreichten Erstaunliches †“ Steve Jobs und Steve Wozniak zum Beispiel, die den PC erfunden haben.†

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Die Sache begann mich zu faszinieren. Ein bisschen was wusste ich schon davon, aber so wie heute hatte man mir die Geschichte noch nie erzählt. Auf einmal sahen die lahmen, betulichen, erwachsenen Straßenproteste gar nicht mehr so lahm aus. Vielleicht war diese Sorte Action auch in der Xnet-Bewegung möglich.

Ich hob meine Hand. †œHaben sie gewonnen? Haben die Yippies gewonnen?†

Sie sah mich lange an, als ob sie darüber nachdenken musste. Niemand sagte ein Wort. Wir waren alle auf die Antwort gespannt.

†œVerloren haben sie nicht†, sagte sie schließlich. †œSie sind sozusagen implodiert. Einige von ihnen sind wegen Drogen oder anderer Vergehen ins Gefängnis gekommen. Einige haben ihr Fähnchen gedreht und sind Yuppies geworden, und dann sind sie auf Vortragsreisen gegangen und haben herumerzählt, wie dumm sie gewesen seien und dass Gier doch eine gute Sache sei.

Aber sie haben die Welt verändert. Der Vietnamkrieg ging zu Ende, und die Art von Konformismus und vorbehaltlosem Gehorsam, die bis dahin als Patriotismus gegolten hatte, war jetzt völlig out. Die Rechte von Farbigen, Frauen und Schwulen wurden nachhaltig weiterentwickelt. Die Rechte von Chicanos oder von Behinderten, überhaupt unsere gesamte Tradition bürgerlicher Freiheiten, wurden von diesen Leuten überhaupt erst ins Leben gerufen oder gestärkt. Die heutige Protestbewegung ist ein unmittelbarer Abkömmling der damaligen Auseinandersetzungen.†

†œIch fass es nicht, wie Sie über die Leute reden†, sagte Charles. Er lehnte halb stehend in seinem Stuhl, und sein mageres, kantiges Gesicht war rot angelaufen. Seine Augen waren groß und feucht und seine Lippen riesig, und wenn er sich aufregte, sah er immer ein bisschen wie ein Fisch aus.

Ms. Galvez verspannte sich merklich, dann sagte sie, †œJa, bitte, Charles?†

†œSie haben gerade Terroristen beschrieben. Echte Terroristen. Sie sagen, dass sie Häuser gesprengt haben. Die wollten die Börse zerstören. Die haben Polizisten verprügelt und sie davon abgehalten, Gesetzesbrecher zu verhaften. Die haben uns angegriffen!†

Ms. Galvez nickte bedächtig. Mir war klar, dass sie drüber nachdachte, wie sie mit Charles umgehen solle, der tatsächlich aussah, als würde er gleich platzen.

†œCharles spricht da einen interessanten Aspekt an. Die Yippies waren keine fremden Agenten, sondern amerikanische Bürger. Wenn du sagst, ,die haben uns angegriffen†™, dann musst du dir klarmachen, wer ,die†™ und ,wir†™ sind. Wenn deine Mitbürger…†

†œSchwachsinn!†, rief er. Er war jetzt aufgestanden. †œWir waren damals im Krieg. Diese Typen haben den Feind unterstützt. Es ist doch ganz einfach, wer ,wir†™ sind und wer ,die†™: Wenn du Amerika unterstützt, gehörst du zu uns. Wenn du die Leute unterstützt, die auf Amerikaner schießen, gehörst du zu denen.†

†œMöchte vielleicht sonst jemand etwas dazu sagen?†

Einige Hände schossen hoch. Ms. Galvez rief sie auf. Ein paar Leute wiesen darauf hin, dass die Vietnamesen bloß auf Amerikaner geschossen hatten, weil die Amerikaner nach Vietnam geflogen waren, um dort bewaffnet im Dschungel herumzurennen. Andere fanden, dass Charles insofern Recht hatte, dass es nicht erlaubt sein dürfe, verbotene Dinge zu tun.

Alle diskutierten angeregt; alle außer Charles, der sich drauf beschränkte, Leute anzubrüllen und sie zu unterbrechen, wenn sie ihre Standpunkte erläutern wollten. Ms. Galvez versuchte ein paar Mal, ihn zum Warten zu bewegen, aber er wollte davon nichts wissen.

Ich schlug derweil was in meinem SchulBook nach, von dem ich wusste, dass ich es schon mal gelesen hatte.

Ich fand es. Ich stand auf. Ms. Galvez blickte mich erwartungsvoll an. Die Anderen folgten ihrem Blick und verstummten. Selbst Charles schaute nach einer Weile zu mir hin; in seinen großen, feuchten Augen loderte sein Hass auf mich.

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†œIch möchte etwas vorlesen†, sagte ich. †œEs ist kurz: ,daß, um diese Rechte zu sichern, Regierungen eingesetzt sein müssen, deren volle Gewalten von der Zustimmung der Regierten herkommen; daß zu jeder Zeit, wenn irgend eine Regierungsform zerstörend auf diese Endzwecke einwirkt, das Volk das Recht hat, jene zu ändern oder abzuschaffen, eine neue Regierung einzusetzen, und diese auf solche Grundsätze zu gründen, und deren Gewalten in solcher Form zu ordnen, wie es ihm zu seiner Sicherheit und seinem Glücke am zweckmäßigsten erscheint.† (4) -  Fortsetzung Kapitel 12

(4) Zitat folgt einschließlich damaliger Rechtschreibung der Übersetzung von 1849, wie veröffentlicht auf www.verfassungen.de/us/unabhaengigkeit76.htm, A.d.Ü

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Hintergründe, Handlung und weitere Informationen zu Little Brother findet ihr unter: Jugendthriller: Little Brother von Cory Doctorow komplett im Netz

Hier handelt es sich um die deutsche Übersetzung von Christian Wöhrl

Little Brother ist unter einem Creative Commons Namensnennung-Keine kommerzielle Nutzung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenzvertrag lizenziert.

Das Original wurde unter: http://craphound.com/littlebrother veröffentlicht.

Little Brother von Cory Doctorow: Kapitel 10

Little Brother

Kapitel 10

Dieses Kapitel ist Anderson†™s Bookshops gewidmet, Chicagos legendärer Kinderbuchhandlung. Anderson†™s ist ein sehr, sehr altes familiengeführtes Unternehmen, das in grauer Vorzeit damit angefangen hatte, als Apotheke ein paar Bücher nebenher zu verkaufen. Heute ist es ein florierendes Kinderbuchimperium mit zahlreichen Niederlassungen und mit ein paar unglaublich innovativen Buchvertriebsideen, die auf spannende Weise Bücher und Kinder zusammenbringen. Am besten sind ihre mobilen Buchmessen; dafür schicken sie riesige rollende Bücherregale mit exzellenten Kinderbüchern auf LKWs direkt an die Schulen †“ voilà, eine Instant-Buchmesse!

Anderson†™s Bookshops:

http://www.andersonsbookshop.com/search.php?qkey2=doctorow+little+brother&sid=5156&imageField.x=0&imageField.y=0

123 WestJefferson, Naperville, IL 60540 USA + 1 630 355 2665

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Was würdet ihr tun, wenn ihr rausfindet, dass ihr einen Spion in eurer Mitte habt? Ihr könntet ihn verurteilen, an die Wand stellen und umlegen. Aber vielleicht habt ihr irgendwann einen anderen Spion unter euch, und der neue wäre dann viel vorsichtiger als der erste und würde sich dann nicht mehr so leicht schnappen lassen.

Hier kommt eine bessere Idee: Fangt an, die Kommunikation des Spions abzufangen, und dann füttert ihn und seine Auftraggeber mit Fehlinformationen. Angenommen, seine Hintermänner instruieren ihn, Informationen über eure Unternehmungen zu sammeln. Dann lasst ihn ruhig hinter euch herrennen und so viele Notizen machen, wie er möchte, aber macht hinterher die Umschläge auf, die er ans Hauptquartier sendet, und ersetzt seinen Bericht eurer Unternehmungen durch einen fiktiven Bericht.

Wenn ihr wollt, könnt ihr ihn als wirr und unzuverlässig dastehen lassen und so dafür sorgen, dass er abgesägt wird. Ihr könnt auch Krisen konstruieren, die die eine oder andere Seite dazu veranlassen, die Identität anderer Spione preiszugeben. Kurz: Ihr habt sie in der Hand.

Das nennt man Man-in-the-Middle-Angriff oder auch Janus-Angriff, und wenn man sichs recht überlegt, ist das eine ziemlich erschreckende Sache. Ein Man-in-the-Middle in eurem Kommunikationsstrang kann euch auf tausenderlei Arten übers Ohr hauen.

Aber natürlich gibt es eine Möglichkeit, einem Man-in-the-Middle-Angriff zu begegnen. Benutzt Krypto. Mit Krypto ist es egal, ob der Feind eure Nachrichten sehen kann, denn er kann sie nicht entziffern, verändern oder neu verschicken. Das ist einer der Hauptgründe, Krypto zu benutzen.

Aber denkt dran: Damit Krypto funktioniert, braucht ihr Schlüssel für die Leute, mit denen ihr reden wollt. Ihr und euer Partner müsst ein, zwei Geheimnisse teilen, ein paar Schlüssel, die ihr dazu benutzt, eure Nachrichten so zu ver- und entschlüsseln, dass der Man-in-the-Middle außen vor bleibt.

Hier kommt die Idee des öffentlichen Schlüssels ins Spiel. Jetzt wirds ein bisschen haarig, aber es ist dabei auch unglaublich elegant.

In Krypto mit öffentlichem Schlüssel bekommt jeder Benutzer zwei Schlüssel. Das sind lange Folgen von mathematischem Krickelkrackel, die eine geradezu magische Eigenschaft haben: Was immer du mit dem einen Schlüssel unleserlich machst, kannst du mit dem anderen wieder entziffern und umgekehrt. Mehr noch: Es sind die einzigen Schlüssel, die diese Eigenschaft haben †“ wenn du mit dem einen Schlüssel eine Nachricht entziffern kannst, dann weißt du mit Sicherheit, dass sie mit dem anderen verschlüsselt worden ist (und umgekehrt).

Also nimmst du einen der beiden Schlüssel, egal welchen, und veröffentlichst ihn einfach. Du machst ihn total ungeheim. Du willst, dass jeder auf der ganzen Welt ihn kennt. Aus naheliegenden Gründen nennt man das deinen †œöffentlichen Schlüssel†.

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Den anderen Schlüssel vergräbst du in den hintersten Windungen deines Gehirns. Du verteidigst ihn mit deinem Leben. Du lässt nie jemanden erfahren, welches dieser Schlüssel ist. Das nennt man deinen †œprivaten Schlüssel†. (Na klar.)

Jetzt mal angenommen, du bist ein Spion und willst mit deinen Chefs reden. Ihr öffentlicher Schlüssel ist jedem bekannt. Dein öffentlicher Schlüssel ist jedem bekannt. Niemand kennt deinen privaten Schlüssel außer du selbst. Niemand kennt den privaten Schlüssel deiner Chefs außer sie selbst.

Du willst ihnen eine Nachricht schicken. Zuerst verschlüsselst du sie mit deinem privaten Schlüssel. Jetzt könntest du die Nachricht schon verschicken, und das wäre so weit okay, weil deine Chefs wissen würden, dass die Botschaft tatsächlich von dir kommt. Warum? Nun, dadurch, dass sie die Nachricht mit deinem öffentlichen Schlüssel entziffern können, ist klar, dass sie nur mit deinem privaten Schlüssel verschlüsselt worden sein kann. Das ist ungefähr so wie dein Siegel oder deine Unterschrift unter einer Nachricht. Es besagt: †œIch habe das geschrieben, niemand sonst. Niemand kann daran herumgefuhrwerkt und es verändert haben.†

Blöderweise sorgt das allein noch nicht dafür, dass deine Nachricht geheim bleibt. Denn dein öffentlicher Schlüssel ist ja weithin bekannt (das muss er auch, denn sonst bist du darauf beschränkt, Nachrichten an die paar Leute zu schicken, die deinen öffentlichen Schlüssel haben). Jeder, der die Nachricht abfängt, kann sie lesen. Er kann sie zwar nicht ändern und dann wieder so tun, als käme sie von dir, aber wenn du Wert drauf legst, dass niemand erfährt, was du zu sagen hast, dann brauchst du eine bessere Lösung.

Also verschlüsselst du die Nachricht nicht bloß mit deinem privaten Schlüssel, sondern zusätzlich mit dem öffentlichen Schlüssel deiner Chefs. Jetzt ist sie doppelt gesperrt. Die erste Sperre †“ der öffentliche Schlüssel der Chefs †“ lässt sich nur mit dem privaten Schlüssel deiner Chefs lösen. Die zweite Sperre †“ dein privater Schlüssel †“ lässt sich nur mit deinem öffentlichen Schlüssel lösen. Wenn deine Chefs die Nachricht bekommen, dann entschlüsseln sie sie mit beiden Schlüsseln und wissen jetzt zweierlei ganz sicher: a) du hast sie geschrieben und b) nur sie selbst können sie lesen.

Das ist ziemlich cool. Noch am selben Tag, an dem ich das entdeckte, tauschten Darryl und ich Schlüssel aus; und dann verbrachten wir Monate damit, zu gackern und uns die Hände zu reiben über unsere militärischen Geheimnisse, wo wir uns nach der Schule treffen wollten und ob Van ihn wohl je bemerken würde.

Aber wenn du Sicherheit richtig begreifen willst, musst du auch die paranoidesten Möglichkeiten in Betracht ziehen. Was ist zum Beispiel, wenn ich dich dazu bringe zu glauben, dass mein öffentlicher Schlüssel der öffentliche Schlüssel deiner Chefs ist? Dann würdest du die Nachricht mit deinem geheimen und meinem öffentlichen Schlüssel verschlüsseln. Ich entziffere sie, lese sie, verschlüssele sie dann wieder mit dem echten öffentlichen Schlüssel deiner Chefs und schicke sie weiter. So weit deine Chefs wissen, kann niemand außer dir die Botschaft geschrieben haben, und niemand außer ihnen selbst hätte sie lesen können.

Und dann sitze ich in der Mitte, wie eine dicke Spinne in ihrem Netz, und all deine Geheimnisse gehören mir.

Der einfachste Weg, das Problem zu beheben, besteht darin, deinen öffentlichen Schlüssel wirklich sehr weit bekannt zu machen. Wenn es wirklich für jedermann leicht ist zu wissen, welches dein öffentlicher Schlüssel ist, dann wird Man-in-the-Middle immer schwieriger. Aber weißt du was? Dinge sehr weit bekannt zu machen ist genauso schwierig wie sie geheim zu halten. Überleg mal †“ wie viele Milliarden werden für Shampoo-Werbung und anderen Mist ausgegeben, bloß um sicherzustellen, dass möglichst viele Leute etwas kennen, was sie laut der Meinung irgendeines Werbis kennen sollten?

Es gibt noch eine billigere Art, Man-in-the-Middle-Probleme zu lösen: das Web of Trust. Nimm an, bevor du das Hauptquartier verlassen hast, sitzen deine Chefs und du bei einem Kaffee zusammen, und ihr verratet euch gegenseitig eure Schlüssel.

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Schluss-aus-vorbei für den Mann in der Mitte! Du bist dann absolut sicher, wessen Schlüssel du hast, weil du sie direkt in die Hand bekommen hast.

So weit, so gut. Aber es gibt eine natürliche Begrenzung für so etwas: Wie viele Leute kannst du im wahren Leben tatsächlich treffen, um Schlüssel mit ihnen zu tauschen? Wie viele Stunden des Tages willst du daran aufwenden, das Äquivalent deines eigenen Telefonbuchs zu schreiben? Und wie viele von diesen Leuten sind wohl bereit, dir auf diese Weise ihre Zeit zu opfern?

Es hilft tatsächlich, sich diese Sache wie ein Telefonbuch vorzustellen. Die Welt war mal ein Ort mit einer ganzen Menge von Telefonbüchern, und wenn du eine Nummer brauchtest, dann hast du sie im Buch nachgeschlagen. Aber eine Menge derjenigen Nummern, die du so übern Tag brauchst, kennst du entweder auswendig oder kannst sie von jemandem erfragen.

Selbst heute, wenn ich mit meinem Handy unterwegs bin, frag ich noch Darry oder
Jolu, ob sie mir eine bestimmte Nummer geben können. Das ist schneller und einfacher, als online nachzuschlagen, und zuverlässiger ist es sowieso. Wenn Jolu eine Nummer weiß, dann traue ich ihm, also traue ich auch der Nummer. Das nennt sich †œtransitives Vertrauen† †“ Vertrauen, das sich über das Netz deiner Bekanntschaften hinweg fortpflanzt.

Ein Web of Trust ist dasselbe in größer. Mal angenommen, ich treffe Jolu und bekomme seinen Schlüssel. Den kann ich an meinen †œSchlüsselbund† hängen †“ eine Liste von Schlüsseln, die ich mit meinem privaten Schlüssel signiert habe. Das bedeutet, du kannst ihn mit meinem öffentlichen Schlüssel entschlüsseln und weißt mit Sicherheit, dass ich †“ oder zumindest jemand mit meinem Schlüssel †“ sage, †œdieser-und-jener Schlüssel gehört zu dieser-und-jener Person†.

Also gebe ich dir meinen Schlüsselbund, und †“ vorausgesetzt, du traust mir so weit, zu glauben, dass ich die Leute zu all diesen Schlüsseln wirklich getroffen und ihre Schlüssel bestätigt habe †“ jetzt kannst du ihn nehmen und zu deinem Schlüsselbund hinzufügen. So wird der Schlüsselbund größer und größer, und vorausgesetzt, du vertraust dem Nächsten in der Kette, und er traut dem Nächsten, und so weiter, dann ist die Sache ziemlich sicher.

Und damit komm ich zu Keysigning-Partys. Das ist haargenau das, was der Name sagt: eine Party, wo sich Leute treffen und die Schlüssel aller anderen signieren. Als Darryl und ich Schlüssel tauschten, war das so was wie eine Mini-Keysigning-Party, eine mit bloß zwei traurigen Geeks. Aber mit mehr Leuten dabei legst du das Fundament für ein Web of Trust, und von da an kann das Netz sich weiter ausdehnen.

Und in dem Maße, wie jeder an deinem Schlüsselbund in die Welt rausgeht und mehr Leute trifft, kommen mehr und mehr Namen am Schlüsselbund zusammen. Du musst diese neuen Leute gar nicht mehr in echt treffen, du musst bloß drauf vertrauen, dass die signierten Schlüssel, die du von den Leuten in deinem Netz bekommst, gültig sind.

Und deswegen passen ein Web of Trust und Partys zusammen wie Faust auf Auge.

†œSag ihnen aber, dass es eine superprivate Party ist, nur mit Einladung†, sagte ich. †œUnd sag ihnen, dass sie niemanden mitbringen dürfen, sonst werden sie nicht reingelassen.†

Jolu schaute mich über seinen Kaffee hinweg an. †œMachst du Witze? Wenn du den Leuten das sagst, dann bringen sie erst recht noch ein paar Mann extra mit.†

†œMist†, sagte ich. Ich verbrachte jetzt eine Nacht pro Woche bei Jolu, um den indienet-Code auf dem neuesten Stand zu halten. Pigspleen zahlte mir sogar einen gewissen Betrag dafür, was ich irgendwie ziemlich abseitig fand. Ich hatte nie gedacht, dass ich mal dafür bezahlt würde, Code zu tippen.

†œWas machen wir denn dann? Wir wollen da doch nur Leute haben, denen wir total vertrauen, und wir wollen erst die Schlüssel haben und geheime Nachrichten senden können, bevor wir denen allen erklären, warum wir das so machen.†

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Jolu war am Debuggen, wobei ich ihm über die Schulter schaute. Das hatte man früher mal †œExtremprogrammieren† genannt, aber das war ein bisschen lächerlich. Heute hieß das nur noch †œProgrammieren†. Zwei Leute finden einfach besser die Fehler als nur einer, wie das Klischee besagt: †œMit genug Augen werden alle Fehler unbedeutend†.

Wir arbeiteten uns durch die Bug-Meldungen und machten die neue Revision startklar. Die aktualisierte sich automatisch im Hintergrund, so dass unsere Nutzer sich um überhaupt nichts kümmern mussten, sie bekamen einfach einmal pro Woche oder so ein besseres Programm. Es war ziemlich irre zu wissen, dass der Code, den ich schrieb, gleich morgen von Hunderttausenden Leuten benutzt wurde!

†œTja, was machen wir? Mann, ich weiß nicht. Schätze mal, wir müssen einfach damit leben.† Ich dachte zurück an unsere Tage mit Harajuku Fun Madness. Zu dem Spiel hatten auch Berge von sozialen Herausforderungen gehört, bei denen man es mit großen Menschengruppen zu tun hatte.

†œOkay, du hast Recht. Aber lass uns zumindest versuchen, die Sache geheim zu halten. Sagen wir ihnen, sie dürfen höchstens eine andere Person mitbringen, und das muss jemand sein, den sie schon seit mindestens fünf Jahren persönlich kennen.†

Jolu sah vom Bildschirm hoch. †œHey†, sagte er. †œHey, das wird garantiert klappen. Ich seh das schon. Ich meine, wenn du mir sagst, ich soll niemanden mitbringen, dann denk ich doch ,was glaubt der, wer er ist?†™ Aber so rum klingt das wie irgendwas tolles 007-Mäßiges.†

Ich fand einen Fehler. Wir tranken Kaffee. Ich ging heim, spielte ein bisschen Clockwork Plunder, wobei ich versuchte, nicht an Aufzieher mit neugierigen Fragen zu denken, und schlief dann wie ein Baby.

Sutro Baths sind San Franciscos original falsche Römerruinen. Bei der Eröffnung 1896 waren sie die größte Schwimmhalle der Welt, ein riesiges Viktorianisches Glassolarium, voll mit Pools, Wannen und sogar einer frühen Wasserrutsche. In den Fünfzigern gings bergab, und die Besitzer fackelten sie 1966 für die Versicherungssumme ab. Was davon übrig blieb, ist ein Labyrinth verwitterter Steine inmitten der vertrockneten Klippenlandschaft von Ocean Beach.

Es sieht für die ganze Welt wie eine römische Ruine aus, verfallen und geheimnisvoll, und direkt unterhalb gibt es noch ein paar Höhlen, die zum Meer führen. Bei stürmischer See rauschen die Wellen durch die Höhlen und überspülen die Ruinen †“ man weiß sogar von dem einen oder anderen Touristen, der mitgerissen wurde und ertrank.

Ocean Beach ist weit draußen hinter Golden Gate Park, eine kahle Klippe, gesäumt von teuren, aber dem Untergang geweihten Häusern, die zu einem schmalen Streifen Strand hin abfällt, wo man Quallen und mutige (wahnsinnige) Surfer antrifft. Es gibt da einen riesigen weißen Felsen, der sich kurz vor der Küste aus dem seichten Wasser erhebt. Den nennt man Robbenfelsen, und er war der Versammlungsplatz der Seelöwen, bevor man sie in die touristenfreundlichere Gegend bei Fisherman†™s Wharf umsiedelte.

Nach Einbruch der Dunkelheit ist kaum mehr jemand da. Es wird dort sehr kalt, und der Salznebel weicht dich völlig durch, wenn du nichts Geeignetes anhast. Die Felsen sind scharfkantig, außerdem liegen Glasscherben und vereinzelt mal eine gebrauchte Spritze rum.

Es ist ein Wahnsinns-Ort für eine Party.

Die Tarps und chemischen Handschuhwärmer mitzubringen war meine Idee. Jolus Job war es, für das Bier zu sorgen †“ sein älterer Bruder, Javier, hatte einen Kumpel, der einen regelrechten Getränkedienst für Minderjährige unterhielt: Wenn du genug zahltest, belieferte er deine abgeschottete Party mit Kühlkisten und so viel Gebräu, wie du nur wolltest. Ich opferte was von meiner indienet-Programmierkohle, und der Typ war pünktlich: Um acht, eine gute Stunde nach Sonnenuntergang, wuchtete er sechs Schaum-Kühlboxen von seinem Pickup runter und rein in die Ruinen der Badeanstalt. Er brachte sogar eine leere Box für die Abfälle mit.

Seite 86

†œIhr Kids geht aber echt auf Nummer Sicher†, sagte er und tippte sich an die Hutkrempe. Er war ein fetter Samoaner mit einem breiten Lächeln und einem furchterregenden Tanktop, unter dem sein Achsel-, Brust- und Schulterhaar hervorquoll. Ich wickelte ein paar Zwanziger von meiner Rolle ab und gab sie ihm. Seine Marge war 150 Prozent †“ kein schlechtes Geschäft.

Er starrte auf meine Rolle. †œWeißte, ich könnte dir die jetzt einfach wegnehmen†, sagte er, ohne dabei aufzuhören zu lächeln. †œImmerhin bin ichn Krimineller.†

Ich steckte die Rolle in die Tasche zurück und sah ihm fest in die Augen. Es war dumm von mir gewesen, ihm zu zeigen, was ich dabei hatte, aber ich wusste, manchmal musste man einfach fest bleiben.

†œIch mach bloß Quatsch†, sagte er schließlich. †œAber sei vorsichtig mit der Kohle. Zeigs nicht so viel rum.†

†œDanke†, sagte ich, †œaber der Heimatschutz passt eh auf mich auf.† Sein Lächeln wurde noch breiter. †œHa! Das sind doch nicht mal echte Bullen! Die Spacken haben doch gar keinen Plan.† Ich schaute zu seinem Lieferwagen rüber. Hinter der Windschutzscheibe klemmte gut sichtbar ein FasTrak. Ich fragte mich, wie lange es wohl noch dauern würde, bis sie ihn hopsnehmen würden.

†œHabt ihr Bräute hier heute nacht? Braucht ihr dafür das ganze Bier?† Ich grinste und winkte ihm zu, als ginge er zurück zum Wagen (was er jetzt endlich tun sollte). Irgendwann begriff er den Wink und fuhr davon, aber er lächelte immer noch.

Jolu half mir, die Kühlboxen im Schutt zu verstecken, wobei wir uns mit kleinen weißen LED-Lampen an Stirnbändern behalfen. Sobald sie verstaut waren, steckten wir weiße LED-Schlüsselanhänger rein, die leuchteten, sobald man die Styropordeckel anhob, damit man sehen konnte, was man tat.

Der Nachthimmel war mondlos und bedeckt, und die Straßenlaternen in der Ferne warfen kaum Licht bis hierher. Ich wusste, auf einem Infrarotdetektor würden wir uns klar und deutlich abzeichnen, aber eine ganze Truppe Leute würden wir nirgends zusammentrommeln können, ohne dabei observiert zu werden. Na gut, dann würden wir eben als kleine betrunkene Strandparty durchgehen.

Ich trinke nicht wirklich viel. Seit ich 14 bin, gabs auf den Partys Bier, Pot und Ecstasy, aber ich hasste Rauchen (obwohl ich nichts gegen ein gelegentliches Haschkekschen hatte), Ecstasy dauerte zu lange †“ wer hat schon das ganze Wochenende Zeit, high zu werden und wieder runterzukommen? -, und Bier, na ja, es war okay, aber mir war nicht klar, was daran jetzt toll sein sollte. Mein Ding waren ja eher riesige, kunstvolle Cocktails, die Sorte, die in Keramikvulkanen serviert wird, sechs Schichten, flambiert, ein Plastikaffe außen am Rand, aber das war eigentlich nur wegen dem Brimborium.

Betrunken bin ich eigentlich ganz gern. Nur den Kater kann ich nicht ausstehen, und oh Mann, was krieg ich immer für einen Kater! Obwohl †“ das kann natürlich auch an den Getränken liegen, die üblicherweise in Keramikvulkanen ausgeschenkt werden.

Aber du kannst keine Party schmeißen, ohne mindestens ein, zwei Kisten Bier kaltzustellen. Das wird so erwartet. Es entkrampft. Leute machen dummes Zeug, wenn sie ein paar Biere zu viel intus haben, aber die wenigsten meiner Freunde haben Autos. Und außerdem machen Leute sowieso dummes Zeug, ob nun wegen Bier oder Gras oder was auch immer, das ist dabei zweitrangig.

Jolu und ich machten jeder ein Bier auf †“ Anchor Steam für ihn, ein Bud Lite für mich †“ und stießen damit an, wie wir so auf den Felsen saßen.

†œHast du ihnen neun Uhr gesagt?†

Seite 87

Jo†, sagte er.

†œIch auch.†

Wir tranken schweigend. Das Bud Lite war das am wenigsten alkoholische Getränk im Kühler. Ich würde später einen klaren Kopf brauchen.

†œKriegst du manchmal Angst?†, fragte ich schließlich.

Er drehte sich zu mir um. †œNe, Mann, ich krieg keine Angst. Ich hab immer Angst. Seit den Explosionen hab ich jede Minute Angst gehabt. Manchmal hab ich so viel Schiss, dass ich gar nicht aus dem Bett kriechen will.†

†œWarum machst dus trotzdem?†

Er lächelte. †œWas das angeht†, sagte er, †œvielleicht mach ich es gar nicht mehr lange. Ich mein, es war toll, dir zu helfen. Toll. Wirklich klasse. Wüsste nicht, wann ich schon mal so was Wichtiges gemacht habe, Aber Marcus, Alter, ich muss sagen…† Er verstummte.

†œWas?†, fragte ich, obgleich ich wusste, was nun kommen würde.

†œIch kann das nicht mehr ewig weitermachen†, sagte er endlich. †œVielleicht nicht mal mehr einen Monat. Ich glaube, das wars für mich. Ist einfach zu riskant. Du kannst einfach nicht gegen das DHS in den Krieg ziehen. Das ist bescheuert. Wirklich totaler Wahnsinn.†

†œDu hörst dich an wie Van†, sagte ich. Meine Stimme klang viel bitterer, als ich es wollte.

†œIch kritisier dich nicht, Mann. Ich finds klasse, dass du den Mut hast, die Sache die ganze Zeit durchzuziehen. Ich hab ihn nicht. Ich kann mein Leben nicht in permanenter Angst leben.†

†œWas meinst du damit?†

†œIch meine, ich bin raus. Ich werde einer dieser Typen, die so tun, als ob alles in Ordnung ist und als ob bald alles wieder normal wird. Ich werde im Internet surfen wie immer und das Xnet nur noch zum Spielen benutzen. Ich zieh mich raus, das mein ich. Ich werde kein Teil deiner Pläne mehr sein.†

Ich sagte kein Wort.

†œIch weiß, das bedeutet, dich im Stich zu lassen. Ich will das nicht, glaub mir. Ich will viel lieber, dass du mit mir zusammen aufgibst. Du kannst keinen Krieg gegen die Regierung der USA erklären. Das ist ein Kampf, den du nicht gewinnen kannst. Und dir dabei zugucken, wie dus versuchst, ist wie zugucken, wie ein Vogel immer noch mal gegen die Scheibe fliegt.†

Er erwartete, dass ich was sagte. Was ich sagen wollte, war Oh Gott, Jolu, herzlichen Dank dafür, dass du mich im Stich lässt! Hast du schon vergessen, wies war, als sie uns abgeholt haben? Hast du vergessen, wie es in diesem Land aussah, bevor sie es übernommen haben? Aber das war es nicht, was er von mir hören wollte. Was er hören wollte, war:

†œIch verstehe, Jolu. Und ich respektiere deine Entscheidung.†

Er trank den Rest aus seiner Flasche, zog sich eine neue raus und öffnete sie.

†œDa ist noch was†, sagte er.

†œWas?†

†œIch wollts nicht erwähnen, aber ich will, dass du wirklich kapierst, warum ich das tun muss.†

†œOh Gott, Jolu, was denn?†

†œIch hasse es, das zu sagen, aber du bist weiß. Ich nicht. Weiße werden mit Kokain geschnappt und gehen dann ein bisschen auf Entzug. Farbige werden mit Crack erwischt und wandern für zwanzig Jahre in den Knast. Weiße sehen Bullen auf der Straße und fühlen sich sicherer. Farbige sehen Bullen auf der Straße und fragen sich, ob sie wohl gleich gefilzt werden. So, wie das DHS dich behandelt, so war das Gesetz in diesem Land für uns schon immer.†

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Es war so unfair. Ich hatte es mir nicht ausgesucht, weiß zu sein. Ich glaubte auch nicht, mutiger zu sein, nur weil ich weiß bin. Aber ich wusste, was Jolu meinte. Wenn die Bullen in der Mission jemanden anhielten und nach den Papieren fragten, dann war dieser Jemand typischerweise kein Weißer. Welches Risiko ich auch einging †“ Jolu ging das höhere ein. Welche Strafe ich zu zahlen hätte, Jolu würde mehr zu zahlen haben.

†œIch weiß nicht, was ich sagen soll†, sagte ich.

†œDu musst nichts sagen†, entgegnete er. †œIch wollte bloß, dass dus weißt, damit dus verstehen kannst.†

Ich konnte Leute auf dem Nebenweg auf uns zukommen sehen. Es waren Freunde von Jolu, zwei Mexikaner und ein Mädchen, das ich vom Sehen kannte, klein und eher der intellektuelle Typ; sie trug immer süße schwarze Buddy-Holly-Brillen, die sie aussehen ließen wie eine ausgestoßene Kunststudentin in einem dieser Teenie-Streifen, die schließlich den Megaerfolg landet.

Jolu stellte mich vor und verteilte Bier. Das Mädchen nahm keins, sondern holte einen kleinen silbernen Flachmann mit Wodka aus ihrer Handtasche und bot mir einen Schluck an. Ich nahm einen †“ warmer Wodka muss ein anerzogener Geschmack sein †“ und beglückwünschte sie zu dem Fläschchen, das mit einem wiederholten Motiv aus Parappa-the-Rapper-Charakteren geprägt war.

†œIst japanisch†, sagte sie, während ich es mit einem LED-Schlüsselanhänger begutachtete. †œDie haben jede Menge irren Trinkerbedarf mit Kinderspielzeug-Motiven. Total abgefahren.†

Ich stellte mich vor und sie sich auch. †œAnge†, sagte sie und nahm meine Hand in ihre beiden Hände †“ trocken, warm, mit kurzen Fingernägeln. Jolu stellte mich seinen Kumpels vor, die er schon seit dem Computercamp in der vierten Klasse kannte. Dann kamen noch mehr Leute †“ fünf, zehn, dann zwanzig. Jetzt wars eine richtig große Gruppe.

Wir hatten den Leuten eingeschärft, bis Punkt halb zehn da zu sein, und warteten bis viertel vor, um zu sehen, wer alles kommen würde. Ungefähr drei Viertel waren Jolus Freunde. Ich hatte alle Leute eingeladen, denen ich vertraute. Entweder war ich wählerischer als Jolu oder nicht so beliebt. Aber da er mir nun erzählt hatte, dass er aufhören wolle, nahm ich an, dass er weniger wählerisch war. Ich war echt stinkig auf ihn, aber versuchte es mir nicht anmerken zu lassen, indem ich mich drauf konzentrierte, mit ein paar anderen Leuten bekannt zu werden. Aber er war nicht blöd. Er wusste, was los war. Ich konnte ihm ansehen, dass er ziemlich niedergeschlagen war. Gut.

†œOkay†, sagte ich und kletterte auf eine der Ruinen, †œokay, hey, hallo?† Ein paar Leute in der Nähe schenkten mir ihre Beachtung, aber die weiter hinten schnatterten weiter. Ich hob meine Arme in die Höhe wie ein Schiedsrichter, aber es war zu dunkel. Dann kam ich auf die Idee, meinen LED-Schlüsselanhänger anzuknipsen und immer abwechselnd einen der Sprecher und dann mich selbst anzublinken. Nach und nach wurde die Menge still.

Ich begrüßte sie und dankte ihnen allen fürs Kommen, dann bat ich sie darum, näher ranzukommen, um ihnen erklären zu können, warum wir hier waren. Ich merkte, dass sie von der Geheimnistuerei schon angesteckt waren, fasziniert und ein bisschen angewärmt vom Bier.

†œAlso, es geht darum: Ihr benutzt alle das Xnet. Es ist kein Zufall, dass das Xnet so kurz, nachdem das DHS die Stadt übernommen hat, entstanden ist. Die Leute, die das angeleiert haben, sind eine Organisation, die sich persönliche Freiheit auf die Fahne geschrieben hat und die für uns ein Netzwerk geschaffen haben, in dem wir sicher vor DHS-Schnüfflern und Vollstreckern sind.† Jolu und ich hatten uns das vorher so zurechtgelegt. Wir wollten uns nicht als die Leute hinter dem Ganzen offenbaren, nicht gegenüber jedem. Das war viel zu riskant. Stattdessen hatten wir ausgetüftelt, dass wir bloß Leutnants in †œM1k3y†s Armee seien und damit beauftragt, den örtlichen Widerstand zu organisieren.

†œDas Xnet ist nicht rein†, sagte ich. †œEs kann von der Gegenseite genauso einfach benutzt werden wie von uns. Wir wissen, dass es DHS-Spione gibt, die es gerade in diesem Moment benutzen. Sie verwenden Techniken sozialer Manipulation, um uns dazu zu bringen, unsere Identität offenzulegen, damit sie uns hochgehen lassen können.

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Wenn das Xnet erfolgreich bleiben soll, dann müssen wir Mittel und Wege finden, wie wir sie davon abhalten können, uns auszuschnüffeln. Wir brauchen ein Netzwerk innerhalb des Netzwerks.†

Ich machte ne Pause und ließ das sacken. Jolu hatte gemeint, es sei vielleicht harter Stoff, zu erfahren, dass man gerade in eine revolutionäre Zelle eingeführt wird.

†œIch bin heute nicht hier, um euch darum zu bitten, selbst aktiv zu werden. Ihr sollt nicht losgehen und Systeme jammen oder so was. Ihr seid hierher gebeten worden, weil wir wissen, dass ihr cool seid; dass ihr vertrauenswürdig seid. Und diese Vertrauenswürdigkeit ist es, von der ich möchte, dass ihr sie heute Nacht hier einbringt. Ein paar von euch sind wahrscheinlich schon vertraut mit dem Konzept vom Web of Trust und mit Keysigning-Partys, aber für den Rest von euch will ich das noch mal kurz erklären…† Was ich dann auch tat.

†œWas ich heute Nacht von euch möchte, ist, dass ihr euch die Leute hier anschaut und euch überlegt, wie weit ihr ihnen trauen könnt. Dann helfen wir euch, Schlüsselpaare zu erzeugen und mit allen anderen hier zu tauschen.†

Dieser Teil war knifflig. Wir hätten nicht von den Leuten erwarten können, dass sie alle ihre Laptops mitbrachten, aber wir mussten trotzdem ein paar verdammt komplizierte Sachen machen, die mit Stift und Papier nicht wirklich funktionieren würden.

Ich hielt einen Laptop hoch, den Jolu und ich in der Nacht zuvor von Null aufgebaut hatten. †œIch vertraue dieser Maschine. Jedes Einzelteil haben wir von Hand eingebaut. Hier drauf läuft ein jungfräuliches ParanoidLinux, frisch von der DVD gebootet. Wenn es irgendwo auf der Welt einen vertrauenswürdigen Computer gibt, dann ist es dieser hier.

Ich habe hier einen Schlüsselgenerator geladen. Ihr kommt hier hoch und gebt dem ein bisschen Zufalls-Input

– Tasten drücken, Mauszeiger bewegen -, und auf dieser Basis erzeugt der Generator einen öffentlichen und einen privaten Schlüssel für euch, den er auf dem Monitor anzeigt. Ihr macht mit eurem Handy ein Foto von eurem privaten Schlüssel, und wenn ihr dann irgendeine Taste drückt, verschwindet der Schlüssel für immer †“ er wird definitiv nicht im Rechner gespeichert. Als nächstes zeigt er euren öffentlichen Schlüssel an. Dann ruft ihr all die Leute hoch, denen ihr vertraut und die euch vertrauen, und die machen dann ein Bild von dem Monitor mit euch daneben, damit sie wissen, wessen Schlüssel das ist.

Wenn ihr nach Hause kommt, müsst ihr die Fotos in Schlüssel umwandeln. Das ist eine Menge Arbeit, fürchte ich, aber ihr müsst das auch bloß ein Mal machen. Ihr müsst super-vorsichtig dabei sein, wenn ihr sie eintippt

– ein Vertipper, und die Sache ist im Arsch. Zum Glück lässt sich prüfen, ob ihrs richtig gemacht habt: Unter dem Schlüssel wird noch eine sehr viel kürzere Nummer stehen, euer ,Fingerprint†™. Sobald ihr den Schlüssel eingetippt habt, könnt ihr einen Fingerprint davon erzeugen und mit dem ersten Fingerprint vergleichen, und wenn sie passen, habt ihrs richtig gemacht.†

Alle starrten mich ziemlich erschreckt an. Okay, ich hatte sie darum gebeten, ein paar ziemlich abgefahrene Sachen zu machen, aber trotzdem… – Fortsetzung Kapitel 11

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Hintergründe, Handlung und weitere Informationen zu Little Brother findet ihr unter: Jugendthriller: Little Brother von Cory Doctorow komplett im Netz

Hier handelt es sich um die deutsche Übersetzung von Christian Wöhrl

Little Brother ist unter einem Creative Commons Namensnennung-Keine kommerzielle Nutzung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenzvertrag lizenziert.

Das Original wurde unter: http://craphound.com/littlebrother veröffentlicht.

Little Brother von Cory Doctorow: Kapitel 9

Little Brother

Kapitel 9

Dieses Kapitel ist Compass Books/Books Inc gewidmet, der ältesten unabhängigen Buchhandlung im Westen der USA. Sie hat Filialen überall in Kalifornien, in San Francisco, Burlingame, Mountain View und Palo Alto, aber am coolsten ist ihre Monster-Buchhandlung mitten in Downtown Disney im Disneyland Anaheim.
Ich bin ein Hardcore-Fan von Disney-Parks (wie mein erster Roman, †œDown and Out in the Magic Kingdom† †“ dt. †œBackup†, A.d.Ü. -) beweist, und wann immer ich in Kalifornien lebte, habe ich mir eine Disneyland-Jahreskarte gekauft und bei praktisch jedem Besuch auch einmal bei Compass Books in Downtown Disney reingeschaut.
Sie haben da eine fantastische Auswahl an unautorisierten, teils auch kritischen Büchern über Disney vorrätig, außerdem eine Menge Kinderbücher und Science Fiction, und im Kaffee nebenan machen sie einen fiesen Cappuccino.

Compass Books/Books Inc:

http://www.booksinc.net/NASApp/store/Product;jsessionid=abcF-ch09-pbU6m7ZRrLr?s=showproduct&isbn=0765319853

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Er war so wütend, dass ich dachte, gleich müsse er platzen. Sagte ich schon, dass ich erst ein paar Mal erlebt hatte, wie er die Fassung verlor? In dieser Nacht verlor er sie mehr als jemals zuvor.

†œIhr glaubt es nicht. Dieser Polizist war vielleicht 18, und der fragte dauernd, ,Warum waren Sie denn gestern in Berkeley, wenn Ihr Kunde doch in Mountain View sitzt?†™ Und dann hab ich ihm noch mal erklärt, dass ich in Berkeley unterrichte, und dann er wieder ,Aber ich dachte, Sie seien ein Berater†™, und dann ging das Ganze wieder von vorn los. Es war wie bei einer Sitcom, wo sie die Polizisten mit einem Dummheitslaser beschossen haben.

Aber schlimmer war: Der bestand darauf, ich sei auch heute in Berkeley gewesen, und ich sagte nein, war ich nicht, und er sagte doch, ich sei da gewesen. Dann hat er mir meine FasTrak-Abrechnung gezeigt, und da stand drauf, dass ich heute drei Mal über San Mateo Bridge gefahren sein soll!

Und das ist noch nicht alles†, sagte er und atmete so scharf ein, dass ich merkte, wie sauer er war. †œSie hatten Informationen über Orte, an denen ich gewesen sein soll, die überhaupt keine Mautstation haben. Die müssen meinen Pass einfach so auf der Straße eingelesen haben. Und das war alles falsch! Ach verdammt, die schnüffeln uns allen hinterher und sind dafür noch nicht mal kompetent genug!†

Während er sich so in Fahrt redete, war ich in die Küche verschwunden, und jetzt sah ich ihm von der Türschwelle aus zu. Mom begegnete meinem Blick, und wir hoben beide die Augenbrauen, wie um zu sagen †œwer sagt ihm jetzt ,siehst du†™?† Ich nickte ihr zu. Sie würde ihre ehefrauliche Macht nutzen können, seine Wut zu besänftigen, wie das mir als einer bloßen Nachwuchs-Einheit niemals möglich wäre.

†œDrew†, sagte sie und schnappte ihn am Arm, um ihn davon abzuhalten, weiter durch die Küche zu stratzen und mit den Armen zu wedeln wie ein Straßenprediger.

†œWas?†, schnappte er.

†œIch glaube, du schuldest Marcus eine Entschuldigung.† Ihre Stimme war ganz ruhig dabei. Dad und ich sind die Durchgeknallten im Haushalt †“ Mom ist ein echter Fels in der Brandung.

Dad schaute mich an. Seine Augen wurden schmal, während er einen Moment lang nachdachte. †œOkay†, sagte er schließlich. †œDu hast Recht. Was ich meinte, war kompetente Überwachung. Diese Typen waren die totalen Anfänger. Es tut mir Leid, mein Junge†, sagte er. †œDu hattest Recht. Es war lächerlich.† Er streckte seine Hand aus und schüttelte meine, dann zog er mich plötzlich an sich und umarmte mich heftig.

†œOh Gott, was machen wir mit diesem Land, Marcus? Deine Generation hätte es verdient, etwas Besseres zu erben als das hier.†

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Als er mich wieder los ließ, konnte ich die tiefen Furchen in seinem Gesicht sehen, Linien, die mir zuvor nie aufgefallen waren.

Ich ging zurück in mein Zimmer und spielte ein paar Xnet-Spiele. Es gab da eine gute Mehrspieler-Nummer, ein Uhrwerk-Piratenspiel, bei dem man jeden Tag ein paar Aufgaben lösen musste, um die Uhrfedern seiner ganzen Mannschaft neu aufzuziehen und wieder auf Raubzüge gehen zu können. Es war diese Sorte Spiel, die ich hasste, von der ich aber trotzdem nicht wegkam: Viele Aufgaben, die sich wiederholten und nicht sonderlich anspruchsvoll waren, ein paar Kämpfe Spieler gegen Spieler (Klingen kreuzen, um auszufechten, wer das Schiff kommandierte) und nicht gerade viele coole Rätsel zu lösen.

Hauptsächlich verursachte diese Sorte Spiel mir Heimweh nach Harajuku Fun Madness, dieser Kombination aus Rumrennen in der echten Welt, Online-Rätselaufgaben und Strategiesitzungen mit deinem Team.

Aber heute nacht war es genau das, was ich brauchte. Sinnlose Unterhaltung. Mein armer Dad.

Ich hatte ihm das angetan. Vorher war er zufrieden gewesen, zuversichtlich, dass seine Steuerdollars dafür ausgegeben wurden, ihn sicherer zu machen. Ich hatte diese Zuversicht zerstört. Natürlich war es eine falsche Zuversicht, aber es hatte ihn aufrecht erhalten. So wie ich ihn nun sah, am Boden zerstört, fragte ich mich, ob es wohl besser sei, klarsichtig und ohne Hoffnung zu leben oder in einem Paradies der Einfältigen. Diese Scham †“ dieselbe Scham, die ich seit dem Moment empfunden hatte, als ich meine Passwörter preisgab, als sie mich gebrochen hatten †“ kehrte zurück, machte mich träge und ließ mich wünschen, nur weit weg von mir selbst zu sein.

Mein Spielcharakter war ein Matrose auf dem Piratenschiff †œZombie Charger†, und er war abgelaufen, während ich offline war. Ich musste alle anderen Spieler auf dem Schiff anbeamen, um einen zu finden, der bereit war, mich wieder aufzuziehen. Das beschäftigte mich. Ich mochte es sogar. Es hat was Magisches, wenn ein völlig Fremder dir einen Gefallen tut. Und weil es das Xnet war, wusste ich, dass alle Fremden hier in gewissem Sinne Freunde waren.

> Woher kommste?

Der Charakter, der mich aufzog, hieß Lizanator, und er war weiblich, obwohl das nicht bedeuten musste, dass eine Frau dahintersteckte. Kerle hatten manchmal eine bizarre Neigung dazu, weibliche Charaktere zu spielen.

> San Francisco

sagte ich

> Nein, Idiot, wo in San Fran?

> Warum, biste pervers?

Das war normalerweise das Ende so einer Konversation. Natürlich war jede Spiele-Site voll von Pädos und Pervis sowie von Bullen, die hier als Köder für die Pädos und Perversen unterwegs waren (obwohl ich hoffte, dass es im Xnet keine Bullen gab!) So eine Anschuldigung war in neunzig Prozent aller Fälle genug für nen Themenwechsel.

> Mission? Potrero Hill? Noe? East Bay?

> Zieh mich bloß auf, ja?

Sie hörte auf, mich aufzuziehen.

> Hast Angst?

> Ne, wieso?

> Nur ne Frage

Ich hatte kein gutes Gefühl mit ihr. Sie war offensichtlich mehr als bloß neugierig. Nenn es Paranoia. Ich loggte mich aus und fuhr die Xbox runter.

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Dad schaute mich am nächsten Morgen übern Frühstückstisch hinweg an und sagte: †œSieht aus, als ob es endlich besser würde†. Er reichte mir den Chronicle, der auf der dritten Seite aufgeschlagen war.

Ein Sprecher der Heimatschutzbehörde bestätigte, dass das Büro in San Francisco in DC eine Budget- und Personalaufstockung um 300 Prozent beantragt habe.

Wie bitte?

Generalmajor Graeme Sutherland, der Kommandierende der DHS-Operationen in Nordkalifornien, bestätigte die Anfrage bei einer Pressekonferenz am Vortag, wobei er angab, dass ein Anstieg verdächtiger Aktivitäten in der Bay Area den Antrag ausgelöst habe. † Wir verzeichnen einen Zuwachs an Untergrund-Gerede und Aktivitäten und glauben, dass Saboteure absichtlich falsche Sicherheitswarnungen auslösen, um unsere Bemühungen zu unterminieren.†

Ich verdrehte die Augen. Ach du Sch…

†œDiese Fehlalarme sind möglicherweise ,Störfeuer†™, die dazu dienen sollen, von tatsächlichen Angriffen abzulenken. Der einzig effektive Weg, sie zu bekämpfen, besteht darin, unser Personal zu verstärken und die Analystenlevel zu erhöhen, so dass wir jede einzelne Spur konsequent verfolgen können.†

Sutherland bemerkte, die Verspätungen überall in der Stadt seien †œunglücklich†, und er zeigte sich entschlossen, sie zu beseitigen.

Vor meinem inneren Auge sah ich die Stadt mit vier oder fünf Mal so vielen DHS-Beamten, die alle hergekommen waren, um meine eigenen blöden Ideen anzugehen. Van hatte Recht. Je mehr ich sie bekämpfte, desto schlimmer wurde die Sache.

Dad zeigte auf die Zeitung. †œDiese Leute sind vielleicht Idioten, aber sie sind Idioten mit Methode. Die bewerfen das Problem einfach so lange mit Ressourcen, bis sie es lösen. Denn es ist lösbar, weißt du? Sämtliche Daten der ganzen Stadt erheben, jeder einzelnen Spur folgen. Sie werden die Terroristen fangen.†

Ich fasste es nicht. †œDad! Hörst du dir eigentlich selbst zu? Die reden davon, praktisch jeden einzelnen Menschen in ganz San Francisco unter die Lupe zu nehmen!†

†œJa†, sagte er, †œstimmt. Und sie werden jeden einzelnen Alimentenbetrüger, jeden Drogendealer, jeden Schmutzfink und jeden Terroristen fangen. Warts nur ab. Das hier könnte sich als das Beste erweisen, was dem Land je passiert ist.†

†œSag mir, dass du Witze machst†, sagte ich. †œIch bitte dich. Glaubst du wirklich, dass sie das haben wollten, als sie die Verfassung geschrieben haben? Und was ist mit der Bill of Rights?†

†œAls sie die Bill of Rights geschrieben haben, kannten sie noch keine Datenanalysen†, sagte er. Er war erschreckend abgeklärt dabei, völlig überzeugt davon, im Recht zu sein. †œDas Recht auf Versammlungsfreiheit ist ja gut und schön, aber warum sollte es der Polizei nicht erlaubt sein, dein soziales Netzwerk durchzugrasen, um rauszufinden, ob du mit Vergewaltigern und Terroristen abhängst?†

†œWeil es meine Privatsphäre beeinträchtigt!†, entgegnete ich.

†œNa und, was ist schon dabei? Ist dir Privatsphäre wichtiger als Terroristen?†

Urgs, ich hasste diese Sorte Diskussionen mit meinem Dad. Ich brauchte jetzt einen Kaffee.

†œDad, komm schon. Jemandem die Privatsphäre wegzunehmen hat nichts mit Terroristenfangen zu tun; das ist bloß dazu gut, normale Leute zu ärgern.†

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†œWoher willst du wissen, dass sie keine Terroristen fangen?†

†œWo sind denn die Terroristen, die sie gefangen haben?†

†œIch bin sicher, wir werden demnächst Verhaftungen erleben. Warts mal ab.†

†œDad, was zum Teufel ist denn seit letzter Nacht mit dir passiert? Du warst kurz vorm Platzen darüber, dass die Bullen dich gestoppt hatten …†

†œNicht in diesem Ton, Marcus. Was seit letzter Nacht passiert ist, ist, dass ich Gelegenheit hatte, über die Sache nachzudenken und dies hier zu lesen.† Er raschelte mit seiner Zeitung. †œDer Grund dafür, dass sie mich abgefangen haben, ist, dass die bösen Jungs ihnen Steine in den Weg legen. Sie müssen ihre Techniken anpassen, um diese Blockaden zu überwinden. Aber das werden sie schaffen. Und bis dahin ist die eine oder andere Straßensperre ein sehr bescheidener Preis. Jetzt ist einfach nicht die Zeit, sich zum Anwalt der Bill of Rights aufzuspielen. Jetzt ist die Zeit, ein paar Opfer zu bringen, um die Sicherheit unserer Stadt zu erhalten.†

Ich brachte meinen Toast nicht mehr runter. Also packte ich den Teller in die Spülmaschine und ging zur Schule. Ich musste einfach nur raus hier.

Die Xnetter waren nicht glücklich über die verstärkte Polizeiüberwachung, aber sie waren nicht bereit, sie ohne Gegenwehr zu akzeptieren. Irgendjemand rief bei einer Hörertelefon-Sendung auf KQED an und erzählte, die Polizei verschwende bloß Zeit und wir würden das System schneller durcheinanderbringen, als sie es entwirren könnten. Die Aufzeichnung war in dieser Nacht ein Top-Download im Xnet.

†œHier ist California Live, und wir sprechen mit einem anonymen Anrufer aus einer Telefonzelle in San Francisco. Er hat seine eigenen Informationen über die die Verzögerungen, die wir in dieser Woche überall in der Stadt erleben. Anrufer, Sie sind auf Sendung.†

Ja, hey, das ist erst der Anfang, wisst ihr? Ich mein, hey, wir fangen grad erst an. Sollen die doch ne Milliarde Schweine einstellen und Kontrollpunkte an jeder Ecke aufmachen. Wir jammen die alle! Und hey, was soll die Terroristenscheiße? Wir sind keine Terroristen! Ich mein, echt jetzt! Wir blocken das System, weil wir die Heimatschützer hassen und unsere Stadt lieben. Terroristen? Ich kann Dschihad nicht mal buchstabieren. Entspannt euch.†

Er klang wie ein Idiot. Nicht bloß die unzusammenhängenden Wörter, sondern auch sein hämischer Ton. Er klang wie ein Junge, der unanständig stolz auf sich selbst war. Er war ein Junge, der unanständig stolz auf sich selbst war.

Das Xnet schäumte über deswegen. Viele Leute dachten, es sei idiotisch, dass er da angerufen habe, und andere meinten, er sei ein Held. Ich machte mir Sorgen darüber, dass auf die Telefonzelle, die er benutzt hatte, wahrscheinlich eine Kamera gerichtet war. Oder ein RFID-Leser, der seinen Fast Pass ausgeschnüffelt haben könnte. Ich hoffte, der Junge war klug genug gewesen, seine Fingerabdrücke von der Münze zu wischen, die Kapuze aufzubehalten und all seine RFIDs daheim zu lassen. Aber ich bezweifelte es. Und ich fragte mich, ob sie wohl demnächst bei ihm an die Tür klopften.

Ich wusste, dass im Xnet eine große Sache abging, wenn ich plötzlich ne Million E-Mails von Leuten bekam, die M1k3y über die neuesten Entwicklungen informieren wollten. Und grade als ich über Herrn Dschihad-nicht-buchstabieren las, spielte meine Mailbox verrückt. Jeder hatte eine Botschaft für mich, einen Link zu einem Livejournal im Xnet, einem der vielen anonymen Blogs, die auf dem Freenet-Veröffentlichungssystem basierten, das auch von chinesischen Demokratieaktivisten benutzt wurde.

> Das war knapp

> Heute abend hingen wir wieder beim Embarcadero rum, um jedem einen neuen Autoschlüssel oder FastPass oder FasTrak zu verpassen und ein bisschen Pseudo-Schießpulver zu verstreuen.

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Überall waren Bullen, aber wir waren klüger als die; wir waren da so ziemlich jede Nacht und wurden nie erwischt.

> Aber heute haben sie uns erwischt. Blöder Fehler. Wir waren schlampig, und sie haben uns geschnappt. Einer von den Verdeckten hat erst meinen Freund und dann die anderen von uns erwischt. Die hatten die Menge schon lange beobachtet, und die hatten einen von diesen Trucks in der Nähe, da brachten sie vier von uns rein und haben den Rest entwischen lassen.

> Der Truck war PROPPEVOLL wie ne Sardinendose mit allen Arten von Leuten, alt jung schwarz weiß reich arm alle verdächtig, und zwei Bullen waren drin, die haben versucht, uns Fragen zu stellen, und die Verdeckten brachten immer noch mehr von uns rein. Die meisten Leute versuchten nach vorn in die Reihe zu kommen, um schneller mit der Fragerei durch zu sein, deshalb kamen wir immer weiter nach hinten und wir waren wohl stundenlang da drin und es wurde immer bloß noch voller statt leerer.

> So um acht abends hatten die Schichtwechsel und zwei neue Bullen kamen rein und schnauzten die anderen Bullen an, so was zum Teufel und macht ihr hier überhaupt irgendwas und so. Die hatten echt Streit und dann verschwanden die alten Bullen und die neuen setzten sich an die Tische und flüsterten ne Weile.

> Dann stand einer von den Bullen auf und fing an zu brüllen IHR ALLE HIER VERSCHWINDET JETZT EINFACH NACH HAUSE JESUS WIR HABEN BESSERES ZU TUN ALS EUCH FRAGEN ZU STELLEN OB IHR WAS FALSCH GEMACHT HABT MACHTS EINFACH NICHT NOCH MAL UND LASST ES EUCH ALLE EINE WARNUNG SEIN.

> Ein paar von den Anzügen wurden echt stinkig, das war UMWERFEND weil sie vielleicht zehn Minuten vorher rumgezickt hatten weil sie hier festgehalten werden, und jetzt haben sie rumgezickt weil sie rausgelassen wurden, ich mein, hä?

> Wir haben uns dann ganz schnell verdünnt und sind nach Hause verschwunden, um das hier zu schreiben. Glaubts uns, die Verdeckten sind überall. Wenn ihr zum Jammen geht, dann haltet die Augen offen und seid immer auf dem Sprung, falls es Probleme gibt. Wenn sie euch erwischen, versucht es auszusitzen die sind so beschäftigt dass sie euch vielleicht einfach wieder gehen lassen.

> Und nur wegen uns sind die so beschäftigt! Die ganzen Leute im Truck waren bloß wegen unseren Störaktionen da. Also: weiterjammen!

Ich hatte das Gefühl, ich müsse mich übergeben. Diese vier Leute †“ Kinder, die ich nie gesehen hatte -, die wären fast für immer verschwunden wegen einer Sache, die ich angeleiert hatte.

Wegen einer Sache, die ich ihnen aufgetragen hatte. Ich war kein bisschen besser als ein Terrorist.

Dem DHS wurde die Budgetanforderung bewilligt. Der Präsident war im Fernsehen zusammen mit dem Gouverneur, um uns zu erzählen, dass für Sicherheit kein Preis zu hoch sei. Wir mussten es am nächsten Tag in der Schulaula ansehen. Mein Dad war begeistert. Er hatte den Präsidenten seit dem Tag seiner Wahl gehasst, weil er fand, der sei kein Stück besser als der Typ vor ihm, und der sei ja wohl ein Totalausfall gewesen; aber jetzt fiel ihm nichts anderes mehr ein als zu erzählen, wie entschlossen und dynamisch der Neue doch sei.

†œSei nicht so hart mit deinem Vater†, sagte Mom eines Abends zu mir, als ich von der Schule heimkam. Sie hatte in letzter Zeit möglichst viel von zu Hause gearbeitet. Mom ist eine freiberufliche Übersiedelungsexpertin und hilft englischen Landsleuten, sich in San Francisco einzugliedern. Die UK High Commission bezahlt sie dafür, E-Mails von entgeisterten Briten im ganzen Land zu beantworten, die nicht damit klarkommen, wie völlig durchgeknallt wir Amerikaner sind. Sie verdient also ihr Geld damit, Amerikaner zu erklären, und sie sagte, dass es in diesen Tagen besser sei, das von daheim zu tun, wo sie keinem Amerikaner leibhaftig begegnete oder mit ihm sprechen müsste.

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Ich hab keine Illusionen über Großbritannien. Okay, Amerika ist vielleicht bereit, die Verfassung in die Tonne zu treten, sobald irgendein Dschihadist uns schief anguckt; aber wie ich in meinem freien Gesellschaftskunde-Projekt in der Neunten gelernt habe, haben die Briten noch nicht mal eine Verfassung.

Und sie haben Gesetze, die dir die Haare auf den Zehen kräuseln: Sie können dich da für ein ganzes Jahr in den Knast stecken, wenn sie wirklich total sicher sind, dass du ein Terrorist bist, ohne das aber beweisen zu können. Aber wie können sie so sicher sein, wenn sie keine Beweise haben? Wie kommen sie dazu? Haben sie dich in einem total lebendigen Traum dabei beobachtet, wie du terroristische Akte begehst?

Und die Überwachung in Großbritannien ließ Amerika wie nen blutigen Anfänger aussehen. Der durchschnittliche Londoner wird 500 Mal am Tag fotografiert, einfach dabei, wie er die Straße entlangläuft. Jedes Nummernschild wird an jeder Ecke des Landes fotografiert. Jeder, von den Banken bis zum Verkehrsunternehmen, ist total heiß drauf, dich zu tracken und dich zu verpetzen, wenn du auch nur im entferntesten verdächtig wirkst.

Aber Mom sah das nicht so. Sie hatte Großbritannien vor dem Highschool-Abschluss verlassen und war hier nie heimisch geworden, obwohl sie einen Jungen aus Petaluma geheiratet und einen Sohn hier großgezogen hatte. Für sie war dies hier für immer das Land der Barbaren, und Großbritannien würde auf ewig ihre Heimat sein.

†œMom, er liegt aber einfach daneben. Du solltest das noch am ehesten wissen. Alles, was dieses Land mal groß gemacht hat, wird durchs Klo gespült, und er findet das völlig in Ordnung. Hast du gemerkt, dass sie noch keinen einzigen Terroristen geschnappt haben? Dad sagt immer nur ,wir müssen sicher sein†™, aber er muss doch mal begreifen, dass sich die meisten von uns kein Stück sicher fühlen. Wir fühlen uns die ganze Zeit nur bedroht.†

†œIch weiß das alles, Marcus. Glaub mir, ich bin nicht begeistert davon, was mit diesem Land geschieht. Aber dein Vater ist…† Sie brach ab. †œAls du nach den Angriffen nicht nach Hause kamst, da dachte er …†

Sie stand auf und machte sich eine Tasse Tee †“ etwas, was sie immer tat, wenn sie sich unwohl oder verunsichert fühlte.

†œMarcus†, sagte sie dann, †œMarcus, wir glaubten, du seiest tot. Begreifst du das? Wir haben tagelang um dich getrauert. Wir haben uns vorgestellt, wie du in Stücke gebombt auf dem Meeresgrund liegst. Tot, weil irgendein Mistkerl der Meinung war, Hunderte ihm unbekannte Leute töten zu müssen, nur um irgendwas zum Ausdruck zu bringen.†

Das musste ich erst mal verdauen. Ich meine, klar hatte ich begriffen, dass sie sich Sorgen gemacht hatten. Eine Menge Leute waren bei den Bombenanschlägen gestorben †“ die aktuelle Schätzung lag bei viertausend -, und praktisch jeder kannte jemanden, der an diesem Tag nicht nach Hause gekommen war. An meiner Schule waren zwei Leute verschwunden.

†œDein Vater war so weit, jemanden zu töten. Irgendwen. Er war völlig außer sich; so hast du ihn noch nie gesehen. Nicht mal ich habe ihn schon mal so gesehen. Völlig außer sich. Er saß immer nur hier am Tisch und fluchte und fluchte und fluchte. Gemeine Worte, die ich ihn noch nie hatte sagen hören. An dem einen Tag †“ am dritten Tag †“ rief jemand an, und er war sicher, dass du es warst, aber es hatte sich bloß jemand verwählt, und da schmiss er das Telefon so in die Ecke, dass es in tausend Teile zerfallen ist.† Ich hatte mich schon gefragt, weshalb das Telefon in der Küche neu war.

†œIrgendetwas ist in deinem Vater zerbrochen. Er liebt dich. Wir lieben dich beide. Du bist das Allerwichtigste in unserem Leben, und ich glaube nicht, dass dir das klar ist. Erinnerst du dich, als du zehn warst, als ich für diese lange Zeit heim nach London ging? Erinnerst du dich?†

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Ich nickte stumm.

†œDamals waren wir so weit, uns scheiden zu lassen, Marcus. Oh, es ist jetzt egal, warum. Wir hatten bloß eine ganz schlechte Phase, wie das eben passiert, wenn Leute, die sich lieben, sich für ein paar Jahre nicht mehr richtig umeinander kümmern. Und er kam rüber zu mir und überzeugte mich, dass ich deinetwegen zurückkommen müsse. Wir konnten den Gedanken nicht ertragen, dir das anzutun. Deinetwegen haben wir uns wieder ineinander verliebt. Und deinetwegen sind wir heute noch zusammen.†

Jetzt hatte ich einen Kloß im Hals. Das hatte ich nicht gewusst. Das hatte mir nie jemand gesagt.

†œFür deinen Vater ist das jetzt eine schwere Zeit. Er ist nicht richtig er selbst. Es wird eine Weile dauern, bis er wieder zu uns zurückkommt; bis er wieder der Mann ist, den ich liebe. Bis dahin müssen wir versuchen, ihn zu verstehen.†

Sie umarmte mich eine Weile, und ich bemerkte, wie dünn ihre Arme geworden waren und wie faltig die Haut in ihrem Nacken. Wenn ich an meine Mutter dachte, sah ich sie immer jung, blass, mit rosigen Wangen und einem strahlenden Lächeln vor mir, wie sie schlau durch ihre metallgefassten Brillengläser schaut. Jetzt sah sie aus wie eine alte Frau. Ich hatte ihr das angetan. Die Terroristen hatten ihr das angetan. Die Heimatschutzbehörde hatte ihr das angetan. Auf eine merkwürdige Weise waren wir alle auf der gleichen Seite, und Mom und Dad und all die Leute, deren Daten wir manipuliert hatten, waren auf der anderen Seite.

In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Moms Worte schwirrten durch meinen Kopf. Dad war beim Abendessen angespannt und schweigsam gewesen, und wir hatten kaum ein Wort gewechselt, weil ich Angst hatte, ein falsches Wort zu sagen, und weil er sehr erregt über die neuesten Meldungen war, nach denen Al Kaida definitiv für die Bombenanschläge verantwortlich war. Sechs verschiedene Terrorgruppen hatten Verantwortung für die Angriffe übernommen, aber nur das Internetvideo von Al Kaida enthielt Informationen, von denen das DHS sagte, man habe sie nicht öffentlich gemacht.

Ich lag im Bett und hörte eine Late-Night-Anrufshow im Radio. Das Thema war Sexprobleme, mit diesem schwulen Typ, den ich normalerweise total gern hörte, weil er den Leuten ziemlich derbe, aber gute Tipps gab und sehr lustig und schwülstig war.

Heute Nacht konnte ich nicht lachen. Die meisten Anrufer wollten wissen, wie sie damit umgehen sollten, dass sie seit den Attentaten mit ihren Partnern nicht mehr in die Gänge kamen. Nicht mal im Sexprogramm im Radio war ich vor diesem Thema sicher.

Ich schaltete das Radio aus und hörte unten auf der Straße einen Motor schnurren.

Mein Schlafzimmer ist im obersten Stock unseres Hauses, einer dieser lackierten Ladies. Ich habe ein Schrägdach und Fenster auf beiden Seiten; eins davon überblickt den gesamten Mission-Distrikt, das andere die Straße vor unserem Grundstück. Dort fuhren zu allen Nachtstunden Autos vorbei, aber dieses Motorengeräusch war irgendwie anders.

Ich ging zum Straßenfenster und zog die Jalousien hoch. Auf der Straße unter mir war ein weißer, unbeschrifteter Lieferwagen, dessen Dach mit mehr Antennen verziert war, als ich jemals auf einem Auto gesehen hatte. Es fuhr sehr langsam die Straße runter, wobei sich eine kleine Schüssel obendrauf permanent drehte.

Während ich zusah, hielt der Wagen an, und eine der Hecktüren klappte auf. Ein Typ in einer DHS-Uniform †“ die erkannte ich mittlerweile auf hundert Meter †“ trat auf die Straße. Er hatte irgendein mobiles Gerät in der Hand, dessen blaues Leuchten sein Gesicht erhellte. Er ging auf und ab, suchte erst bei meinen Nachbarn, machte Notizen auf seinem Gerät und kam dann in meine Richtung. Es war etwas Vertrautes in der Art, wie er ging, runterschaute…

Er benutzte einen WLAN-Schnüffler! Das DHS suchte nach Xnet-Knoten. Ich ließ die Jalousien runter und flitzte quer durch den Raum zu meiner Xbox.

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Ich hatte sie angelassen, um ein paar coole Animationen runterzuladen, die einer der Xnetter aus der Kein-Preis-zu-hoch-Rede des Präsidenten gemacht hatte. Ich riss den Stecker aus der Dose, dann sauste ich zurück zum Fenster und öffnete die Jalousien nur einen Spalt breit.

Der Typ schaute wieder auf seinen Sniffer und ging vor unserem Haus auf und ab. Einen Moment später stieg er wieder in den Lieferwagen und fuhr an.

Ich holte meine Kamera raus und schoss so viele Bilder wie möglich von dem Auto und seinen Antennen. Dann öffnete ich die Fotos in dem freien Bildbearbeitungsprogramm GIMP und retuschierte aus den Bildern alles außer dem Van heraus, die ganze Straße und alles, was mich identifizieren könnte.

Dann lud ich sie ins Xnet hoch und schrieb dazu alles über den Lieferwagen, was mir einfiel. Diese Typen waren definitiv auf der Suche nach dem Xnet, darauf würde ich wetten.

Jetzt konnte ich wirklich nicht mehr schlafen.

Da blieb mir nichts übrig, als Aufziehpiraten zu spielen. Selbst um diese Zeit würde man da noch jede Menge Spieler treffen. Der echte Name von Aufziehpiraten war Clockwork Plunder, und es war ein Amateur-Projekt von jungen Death-Metal-Freaks aus Finnland. Mitspielen war dort völlig gratis, und es machte genauso viel Spaß wie jedes der 15-Dollar-pro-Monat-Angebote wie Ender†™s Universe, Middle Earth Quest oder Discworld Dungeons.

Ich loggte mich wieder ein, und da war ich, immer noch an Deck der †œZombie Charger†, und wartete auf jemanden, der mich aufziehen würde. Ich hasste diesen Teil des Spiels.

> He du

tippte ich einen vorbeikommenden Piraten an.

> Ziehst mich auf?

Er blieb stehen und schaute mich an.

> Was hab ich davon?

> Wir sind im selben Team. Und du kriegst Erfahrungspunkte.

Was fürn Depp.

> Wo kommst du her?

> San Francisco

Das fing an, mir bekannt vorzukommen.

> Wo in San Francisco?

Ich loggte mich aus. Irgendwas lief in dem Spiel grade ziemlich schräg. Ich sprang rüber zu den Livejournalen und fing an, Blog auf Blog zu durchwühlen. Nach einem halben Dutzend entdeckte ich etwas, das mir das Blut gefrieren ließ.

Blogger lieben Quizspiele. Welche Sorte Hobbit bist du? Bist du ein großer Liebhaber? Welchem Planeten bist du am ähnlichsten? Welcher Film-Charakter bist du? Was ist dein emotionaler Typus? Sie füllen die Fragebögen aus, und ihre Freunde füllen sie aus, und dann vergleichen alle ihre Ergebnisse. Harmlose Späßchen.

Aber das Quiz, das heute Nacht die Blogs beherrschte, war es, was mir Angst einjagte, denn es war alles andere als harmlos:

Welches ist dein Geschlecht?
In welcher Klasse bist du?
In welche Schule gehst du?
Wo in der Stadt lebst du?

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Die Quizseiten übertrugen die Ergebnisse auf eine Landkarte mit farbigen Pins für Schulen und Stadtviertel und lieferten dürftige Empfehlungen, wo man dort Pizza und Zeug kaufen konnte.

Aber seht euch mal die Fragen an. Nehmt mal meine Antworten:

Männlich
12
Chavez High
Potrero Hill

Es gab bloß zwei Leute in meiner Schule, auf die das Profil passte. An den meisten anderen Schulen würde es genauso sein. Wenn du rausfinden wolltest, wer die Xnetter waren, könntest du sie mit diesen Quizfragen alle finden.

Das war schon schlimm genug, aber schlimmer war, was es bedeutete. Jemand vom DHS benutzte das Xnet, um an uns ranzukommen. Das Xnet war vom DHS unterwandert.

Wir hatten Spione in unserer Mitte.

Ich hatte Hunderten von Leuten Xnet-DVDs gegeben, und die hatten wieder dasselbe getan. Die Leute, denen ich die Scheiben gegeben hatte, kannte ich einigermaßen gut. Mein ganzes Leben hatte ich immer im selben Haus gewohnt und über die Jahre Hunderte von Freunden kennen gelernt, von denen, die mit mir bei der Tagesmutter gewesen waren bis zu denen, mit denen ich gekickt hatte; LARPer, solche, die ich in Clubs getroffen hatte, solche, die ich aus der Schule kannte. Mein ARG-Team, das waren meine engsten Freunde, aber es gab noch viel mehr, denen ich genug vertraut hatte, um ihnen eine Xnet-DVD zu geben.

Die brauchte ich jetzt.

Ich weckte Jolu, indem ich ihn auf dem Handy anrief und nach dem ersten Mal auflegte, und das drei Mal hintereinander. Eine Minute später war er im Xnet, und wir konnten einen geschützten Chat halten. Ich wies ihn auf meinen Blogeintrag über die Funk-Lieferwagen hin, und eine Minute später war er völlig außer sich wieder da.

> Bist du sicher, die suchen nach uns?

Als Antwort schickte ich ihn zu dem Quiz.

> Oh Gott, wir sind geliefert

> Ne, so schlimm noch nicht, aber wir müssen rauskriegen, wem wir trauen können

> Wie?

> Das wollte ich dich fragen; wie vielen Leuten kannst du echt bedingungslos vertrauen?

> Hm, 20 oder 30 vielleicht

> Ich will eine Truppe von wirklich vertrauenswürdigen Leuten zusammentrommeln und ein Web of Trust mit Schlüsseltausch machen

Ein Web of Trust (†œNetz des Vertrauens†) ist eins dieser coolen Krypto-Dinger, von denen ich schon gelesen, sie aber noch nie ausprobiert hatte. Es ist eine nahezu narrensichere Methode, dich so mit den Leuten zu unterhalten, denen du vertraust, dass garantiert kein anderer mithören kann. Das Problem ist, dass du dich mit den Leuten im Netz mindestens einmal physisch treffen musst, um das Ding in Gang zu bringen.

> Schon kapiert. Nicht schlecht. Aber wie kriegen wir alle fürs Schlüsselsignieren zusammen?

> Das wollte ich dich fragen †“ wie machen wirs, ohne hopsgenommen zu werden?

Jolu tippte ein paar Wörter und löschte sie wieder, dann tippte er mehr und löschte noch mal.

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> Darryl wüsste was

tippte ich

> Gott, mit diesen Sachen war er gut

Jolu tippte erst mal gar nichts. Dann schrieb er

> Und was wäre mit ner Party? Wenn wir uns alle treffen wie Teenager, die sich zu ner Party treffen, dann haben wir eine Ausrede, wenn jemand vorbeikommt und wissen will, was wir machen

> Das würde absolut klappen! Jolu, du bistn Genie

> Ich weiß. Und jetzt kommts noch besser: Ich weiß auch schon, wo wirs machen

> Wo?

> Sutro Baths! – Fortsetzung Kapitel 10

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Hintergründe, Handlung und weitere Informationen zu Little Brother findet ihr unter: Jugendthriller: Little Brother von Cory Doctorow komplett im Netz

Hier handelt es sich um die deutsche Übersetzung von Christian Wöhrl

Little Brother ist unter einem Creative Commons Namensnennung-Keine kommerzielle Nutzung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenzvertrag lizenziert.

Das Original wurde unter: http://craphound.com/littlebrother veröffentlicht.