Little Brother von Cory Doctorow: Kapitel 3

Little Brother

Kapitel 3

Dieses Kapitel ist Borderlands Books gewidmet, San Franciscos großartiger unabhängiger Science-Fiction-Buchhandlung. Borderlands liegt ziemlich genau gegenüber der fiktiven Cesar Chavez Highschool, die in †œKleiner Bruder† beschrieben ist, und ihren Ruf hat sie nicht nur wegen fantastischer Events, Signierstunden, Buchclubs und derlei, sondern auch wegen der erstaunlichen haarlosen ägyptischen Katze namens Ripley, die sich wie ein schnurrender Drache auf dem Computer vorn im Laden zu räkeln pflegt.

Borderlands ist die wohl freundlichste Buchhandlung, die man sich nur wünschen kann, voll mit lauter kuschligen Ecken zum Sitzen und Lesen und mit unglaublich kompetenten Angestellten, die alles wissen, was es über Science Fiction zu wissen gibt. Besser noch: Sie nehmen gern telefonisch oder per Internet Bestellungen für mein Buch entgegen, halten es vor, bis ich mal vorbeikomme, um es zu signieren, und versenden es dann innerhalb der USA kostenfrei!

Borderlands Books:

http://www.borderlands-books.com/

866 Valencia Ave, San Francisco CA USA 941 10 +1 888 893 4008

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Auf dem Weg zur Powell Street BART kamen wir auf der Straße an enorm vielen Leuten vorbei. Sie rannten oder gingen, bleich und stumm oder panisch und schreiend. Obdachlose kauerten sich in Hauseingänge und beobachteten alles, während eine große farbige Transen-Hure zwei schnurrbärtigen jungen Männern etwas zurief.

Je näher wir der BART kamen, desto heftiger wurde das Gedränge. Bis wir an der Treppe zur Station runter angekommen waren, hatte es sich zum Mob entwickelt †“ ein unabsehbares Gewimmel von Menschen, die alle zur schmalen Treppe runterdrängten. Mein Gesicht wurde in den Rücken meines Vordermanns gepresst, jemand anderer rammte in meinen Rücken.

Darryl war immer noch neben mir †“ er war groß genug, um nicht so leicht umgeschubst zu werden -, und Jolu folgte ihm oder hing vielmehr an seiner Hüfte. Vanessa sah ich ein paar Meter entfernt, von anderen Leuten eingezwängt.

†œFick dich selbst!†, hörte ich sie schreien. †œPerverser! Nimm die Pfoten weg!† Gegen den Druck der Massen drehte ich mich zu Van um und sah, wie sie einen älteren Kerl im feinen Anzug mit Abscheu musterte, der sie anzugrinsen schien. Sie kramte in ihrer Tasche, und ich wusste, was sie suchte.

†œNicht das Tränengas!†, brüllte ich über den Lärm hinweg. †œDu erwischst uns alle mit.†

Als er †œTränengas† hörte, sah der Typ plötzlich ängstlich aus und versuchte nach hinten zu entwischen, während ihn die Menge weiter nach vorn drängte.

Vor mir sah ich, wie eine Frau mittleren Alters im Hippie-Dress zusammensackte und stürzte. Sie schrie auf, als sie fiel, und ich sah, wie sie sich bemühte, wieder auf die Beine zu kommen, aber vergeblich: Das Drängen der Masse war zu heftig. Als ich mich ihr näherte, bückte ich mich, um ihr aufzuhelfen, und wurde fast selbst umgeworfen. Am Ende trat ich ihr in den Unterleib, als die Menschenmenge mich an ihr vorbeischob; aber ich glaube, da war sie schon nicht mehr in einem Zustand, in dem sie noch irgendwas spürte.

Ich hatte Angst wie noch niemals zuvor. Überall war Gebrüll, mehr Körper lagen am Boden, und der Druck von hinten war so unnachgiebig wie von einem Bulldozer. Nur auf meinen Füßen bleiben †“ das war alles, worum es jetzt noch ging.

Wir erreichten die offene Bahnhofshalle mit den Drehkreuzen. Dort war†™s kaum besser †“ in dem umschlossenen Raum hallten die Stimmen um ums herum wie Echos und machten einen Lärm, dass mein Schädel brummte; und der Geruch und das Gefühl all dieser Körper erzeugten in mir eine Klaustrophobie, von der ich nie wusste, dass ich anfällig dafür war.

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Immer noch drängten Leute die Treppen runter, immer mehr quetschten sich an den Drehkreuzen vorbei und über die Rolltreppen runter zu den Gleisen, aber mir war klar, dass dort kein Happy-End zu erwarten war.

†œRiskieren wirs oben?†, fragte ich Darryl.

†œVerdammt noch mal ja†, sagte er. †œDas hier ist böse.† Ich blickte in Richtung Vanessa †“ keine Chance, dass sie mich hören würde. Irgendwie kramte ich mein Handy raus und simste sie an.

> Wir verschwinden hier raus

Ich sah, wie sie den Vibrationsalarm ihres Handys spürte, draufblickte, dann zu mir schaute und nachdrücklich nickte. Darryl hatte inzwischen Jolu gebrieft.

†œWie wollen wirs machen?†, brüllte Darryl mir ins Ohr.

†œRückwärtsgang, irgendwie†, schrie ich zurück und zeigte auf die erbarmungslose Menschenflut.

†œUnmöglich!†, sagte er.

†œJe länger wir warten, desto unmöglicher wird†™s!†

Er zuckte die Schultern. Van drängte sich zu mir durch und schnappte mein Handgelenk. Ich griff Darryl, und der nahm Jolu bei der anderen Hand, und dann drängten wir nach draußen.

Leicht wars nicht. Am Anfang schafften wir vielleicht zehn Zentimeter pro Minute, dann auf der Treppe wurden wir noch langsamer. Zudem waren die Leute, denen wir begegneten, nicht eben glücklich darüber, dass wir sie aus dem Weg zu drängen versuchten. Einige fluchten, und ein Typ hätte mich vermutlich verprügelt, wenn er bloß seine Arme hätte freimachen können. Wir mussten über drei weitere niedergetrampelte Leute klettern, aber ich hatte keine Chance, ihnen zu helfen. Zu dem Zeitpunkt dachte ich wohl schon gar nicht mehr dran, irgendjemandem zu helfen. Das Einzige, woran ich dachte, war das nächste bisschen nutzbarer Freiraum vor mir, Darryls schmerzhafter Griff um mein Handgelenk und mein verzweifeltes Klammern an Van hinter mir.

Nach einer halben Ewigkeit ploppten wir plötzlich ins Freie wie Champagnerkorken und blinzelten ins rauchiggraue Licht. Die Luftalarm-Sirenen plärrten immer noch, und das Jaulen der Krankenwagen-Sirenen, die Market Street hinunterrasten, war sogar noch lauter. Fast niemand war mehr auf der Straße, nur noch die Menschen, die vergeblich versuchten, nach unten zu gelangen. Viele von ihnen weinten. Ich erblickte ein paar leere Parkbänke, auf denen sich sonst schmuddelige Penner breit machten, und deutete darauf.

Wir liefen drauf zu, gebückt und mit eingezogenen Schultern durch Sirenenlärm und Qualm. Grade als wir bei den Bänken ankamen, stürzte Darryl nach vorn.

Alle schrien wir auf, und Vanessa griff nach ihm und drehte ihn um. Sein Hemd war an der Seite rot gefleckt, und der Fleck breitete sich aus. Sie zog das Hemd hoch, wodurch ein langer, tiefer Schnitt in seinem stämmigen Leib sichtbar wurde.

†œScheiße, irgendjemand in der Menge hat ihn abgestochen†, sagte Jolu, die Hände zu Fäusten geballt. †œHimmel, ist das fies.†

Darryl stöhnte und blickte erst zu uns, dann an seinem Körper runter, dann stöhnte er noch mal, und sein Kopf kippte wieder nach hinten.

Vanessa zog ihre Jeansjacke aus und dann auch noch den Kapuzensweater, den sie drunter trug. Sie rollte ihn zusammen und presste ihn Darryl in die Seite.

†œNimm seinen Kopf†, sagte sie zu mir, †œhalt ihn hoch.† Und zu Jolu: †œNimm seine Füße hoch; mach ne Rolle aus deinem Mantel oder so.†

Jolu reagierte sofort. Vanessas Mutter ist Krankenschwester, und jeden Sommer im Camp hatte sie nen Erste-Hilfe-Kurs gehabt. Sie machte sich einen Spaß draus, drauf zu achten, wie Leute in Filmen die Erste Hilfe falsch machen. Mann, war ich froh, sie dabei zu haben.

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Wir saßen eine ganze Weile so da und pressten die Kapuzenjacke gegen Darryls Seite. Er sagte dauernd, es gehe ihm gut und wir sollten ihn aufstehen lassen, und Van sagte dauernd, er solle den Mund halten und liegen bleiben, oder es setze was.

†œSollen wir nicht mal 911 anrufen?†, fragte Jolu.

Ich kam mir wie der letzte Depp vor. Schnell holte ich mein Handy raus und tippte 911. Was ich zu hören bekam, war noch nicht mal ein Besetztzeichen †“ es klang eher wie das schmerzvolle Wimmern des Telefonnetzes. Solche Sachen hört man nur, wenn drei Millionen Leute alle auf einmal dieselbe Nummer wählen. Wer braucht schon Botnetze, wenn es Terroristen gibt?

†œWikipedia vielleicht?†, schlug Jolu vor.

†œKein Netz, keine Daten†, entgegnete ich.

†œUnd die da?†, fragte Darryl und zeigte die Straße entlang. Ich folgte seiner Geste und erwartete einen Polizisten oder Sanitäter zu sehen, aber da war niemand.

†œIst alles gut, Kumpel, bleib mal liegen†, sagte ich.

†œNein, du Idiot, die da, die Bullen in den Wagen. Da!† Er hatte Recht. Alle paar Sekunden sauste ein Streifenwagen, eine Ambulanz oder ein Feuerwehrwagen vorbei. Die würden uns helfen können. Ich war echt ein Idiot.

†œAlso gut†, sagte ich, †œwir bringen dich irgendwo hin, wo sie dich sehen, und halten einen an.† Vanessa war skeptisch, aber ich nahm an, an einem Tag wie diesem würde kein Bulle stehenbleiben, bloß weil ein junger Kerl auf der Straße den Hut schwenkte. Aber vielleicht würden sie anhalten, wenn sie sahen, wie Darryl blutete. Wir zankten uns kurz, was Darryl unterbrach, indem er mühsam aufstand und sich Richtung Market Street schleppte.

Das erste Fahrzeug, das vorbeiraste, ein Notarztwagen, wurde nicht mal langsamer. Der Streifenwagen danach auch nicht, auch nicht das Feuerwehrauto und auch nicht die nächsten drei Polizeiwagen. Darryl gings nicht gut †“ er war kreidebleich und keuchte. Vans Sweater war blutüberströmt.

Ich hatte die Faxen dick von Autos, die an mir vorbeirasten. Als das nächste Mal ein Fahrzeug in Market Street auftauchte, stellte ich mich mitten auf die Straße, schwenkte die Arme überm Kopf und schrie †œSTOP!† Der Wagen bremste ab, und da erst erkannte ich, dass es weder ein Polizeiwagen noch eine Ambulanz oder die Feuerwehr war.

Es war ein militärisch aussehender Jeep, wie ein gepanzerter Hummer, bloß ohne jegliche Militärabzeichen drauf. Die Kiste kam unmittelbar vor mir zum Stehen, ich machte einen Satz rückwärts, verlor das Gleichgewicht und fand mich auf der Straße liegend wieder. Ich spürte, wie neben mir Türen aufschwangen, dann sah ich ein Durcheinander von Stiefeln in nächster Nähe. Ich blickte hoch und starrte auf eine Horde von Typen, die wie Soldaten aussahen, in Overalls steckten, riesige, fette Gewehre trugen und deren Gesichter hinter Gasmasken mit getönten Gläsern verschwanden.

Ich hatte kaum Zeit, sie überhaupt wahrzunehmen, als die Knarren schon auf mich gerichtet waren. Nie zuvor hatte ich in die Mündung eines Gewehrs geblickt, aber alles, was man darüber hört, ist wahr. Du gefrierst an Ort und Stelle, die Zeit bleibt stehen und dein Herz donnert in deinen Ohren. Ich öffnete meinen Mund, schloss ihn wieder, und dann nahm ich, sehr langsam, meine Hände nach oben.

Der gesichts- und augenlose Mann über mir zielte mit seinem Gewehr genau auf mich. Ich wagte nicht zu atmen. Van schrie etwas, und Jolu brüllte; ich schaute einen Augenblick lang zu ihnen rüber, und im selben Moment stülpte jemand einen rauen Sack über meinen Kopf und zog ihn um die Kehle herum dicht †“ so schnell und rabiat, dass ich kaum eben Luft holen konnte, als er schon um mich rum geschlossen war.

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Dann schubste man mich grob, aber teilnahmslos auf den Bauch, und irgendwas wurde zweimal um meine Handgelenke gewickelt und festgezogen †“ es fühlte sich an wie Draht und schnitt höllisch ein. Ich schrie auf, aber meine Stimme wurde von der Kapuze gedämpft.

Nun war ich von absoluter Dunkelheit umgeben, und ich bemühte mich, zumindest zu hören, was mit meinen Freunden geschah. Durch den geräuschdämpfenden Stoff des Sacks konnte ich sie rufen hören, dann wurde ich ohne viele Umstände an den Handgelenken emporgerissen †“ ein stechender Schmerz durchzuckte meine Schultern, als die Arme hinterm Rücken hochgebogen wurden.

Ich stolperte, dann drückte eine Hand meinen Kopf nach unten, und ich war im Hummer drin. Andere Körper wurden grob neben mich geschubst.

†œLeute†, rief ich und kassierte dafür einen heftigen Hieb auf den Kopf. Ich hörte Jolu antworten, dann spürte ich, wie er ebenfalls einen Schlag abbekam. In meinem Kopf pulsierte es wie ein Gong.

†œHe†, sagte ich zu den Soldaten, †œhören Sie zu! Wir sind doch bloß Schüler. Ich hab Sie anhalten wollen, weil mein Freund blutet. Jemand hat ihn mit nem Messer verletzt.† Ich hatte keine Ahnung, wie viel davon durch den dicken Sack durchdrang. Trotzdem redete ich weiter. †œHören Sie doch †“ das muss ein Missverständnis sein. Wir müssen meinen Freund ins Krankenhaus bringen…†

Wieder hieb mir jemand was auf den Schädel. Fühlte sich an wie ein Gummiknüppel †“ so hart war ich noch nie am Kopf getroffen worden. Mir schossen Tränen in die Augen, und vor Schmerz blieb mir die Luft weg. Einen Moment später bekam ich wieder Luft, aber ich sagte nichts mehr. Ich hatte meine Lektion gelernt.

Wer waren diese Clowns? Abzeichen hatten sie keine. Vielleicht waren es Terroristen! Bisher hatte ich nicht so recht an Terroristen geglaubt †“ okay, es gab sie wohl irgendwo auf der Welt, aber für mich waren die keine echte Bedrohung gewesen. Die Welt kannte Abermillionen Möglichkeiten, mich umzubringen †“ angefangen bei einem besoffenen Raser, der mich auf der Valencia überfahren könnte -, die alle sehr viel direkter und wahrscheinlicher waren als Terroristen. Terroristen brachten weniger Leute um als Ausrutscher im Badezimmer oder versehentliche Stromschläge. Mir über Terroristen Sorgen zu machen war mir immer ähnlich sinnvoll vorgekommen, wie Angst vor einem Blitzschlag zu haben.

Doch auf der Rückbank des Hummer, Kapuze überm Kopf, Hände hinterm Rücken gefesselt, vor- und zurücktaumelnd, während die Beulen am Kopf anschwollen, fühlte sich Terrorismus plötzlich sehr viel gefährlicher an.

Der Wagen wippelte und neigte sich bergauf. Nach meiner Schätzung waren wir in Richtung Nob Hill unterwegs, und der Neigungswinkel ließ vermuten, dass wir eine der steileren Routen nahmen †“ eventuell Powell Street.

Jetzt ging es ebenso steil bergab. Wenn meine innere Landkarte mich nicht trog, steuerten wir Fisherman†™s Wharf an. Von dort könnte man auf einem Boot entkommen. Das passte zu der Terror-Hypothese. Aber warum zum Teufel sollten Terroristen ein paar Schüler kidnappen?

Mit einem Ruck kamen wir an einem Hang zum Halten. Der Motor erstarb, und die Türen öffneten sich. Jemand zerrte mich an den Armen raus auf die Straße, dann wurde ich stolpernd eine gepflasterte Straße entlanggeschubst. Nach wenigen Sekunden purzelte ich über eine eiserne Treppe und schlug mir die Schienbeine auf. Die Hände hinter mir schubsten mich erneut. Vorsichtig stieg ich die Stufen hoch, unfähig, meine Hände benutzen zu können. Auf der dritten Stufe angekommen, tastete ich nach der vierten, fand aber keine und fiel fast wieder hin. Doch andere Hände griffen von vorn nach mir, zogen mich auf einen stählernen Fußboden, zwangen mich in die Knie und schlossen meine Hände an irgendetwas hinter meinem Rücken an.

Mehr Bewegung, dann das Gefühl, wie Körper einer nach dem anderen neben mir angebunden wurden. Stöhnen, unterdrückte Geräusche. Gelächter. Dann eine lange, zeitlose Ewigkeit in gedämpftem, trübem Halbdunkel, meinen eigenen Atem atmen, die Geräusche meines eigenen Atems im Ohr.

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Irgendwie schaffte ichs sogar, hier zu schlafen, auf Knien, Beine nicht anständig durchblutet, den Kopf im Zwielicht des Sackstoffs. Mein Körper hatte eine Jahresration Adrenalin binnen 30 Minuten ausgeschüttet; und der Stoff gibt dir zwar kurzfristig die Kraft, Autos über geliebten Menschen hochzustemmen oder über hohe Gebäude zu springen, aber die Nachwirkungen sind immer biestig.

Ich erwachte, als jemand die Kapuze von meinem Kopf wegzog. Sie machten es weder grob noch vorsichtig, einfach nur… unpersönlich. Wie jemand bei McDonald†™s, der einen Hamburger zubereitet.

Das Licht im Raum war so grell, dass ich die Augen zukneifen musste; aber nach und nach öffnete ich sie zu Schlitzen, zu Spalten, dann komplett und schaute mich um.

Wir alle befanden uns im Auflieger eines LKWs, einem großen Achtachser. Ich konnte die Radkästen in regelmäßigen Abständen über die gesamte Länge erkennen. Der Auflieger war zu einer Art mobiler Kommandozentrale mit Gefängnis umfunktioniert. Entlang der Wände standen Stahltische, darüber schicke Flachbildschirme an Schwenkarmen, mit denen die Benutzer die Schirme im Halbkreis um sich herum anordnen konnten. Vor jedem Tisch stand ein Wahnsinns-Bürostuhl mit genug Reglern, um jeden Millimeter der Sitzfläche einzeln zu verstellen, Höhe und Neigung in jeder Achse sowieso.

Dann war da noch der Gefängnisbereich †“ vorn im Truck, möglichst weit weg von den Türen, waren Stahlschienen an den Wänden befestigt, und an diese Schienen hatte man die Gefangenen angekettet.

Van und Jolu entdeckte ich sofort. Mag sein, dass Darryl sich unter dem übrigen Dutzend dort hinten befand, aber das war nicht zu erkennen †“ einige von ihnen lagen übereinander und versperrten mir die Sicht. Es stank nach Schweiß und nach Angst hier hinten.

Vanessa blickte mich an und biss sich auf die Lippe. Sie hatte Angst. Ich auch. Und auch Jolu, der seine Augen wie wild verdrehte, dass man ständig das Weiße sah. Ich hatte Angst. Und außerdem musste ich pissen wie ein Rennpferd.

Ich schaute mich nach unseren Kidnappern um. Bislang hatte ich es vermieden, sie anzuschauen, ganz so, wie man es vermeidet, in einen dunklen Schrank zu schauen, wenn man sich grade ausgedacht hat, dass da drin ein Monster lauert. Dann will man einfach nicht wissen, ob man Recht hat.

Aber ich musste mir diese Kerle, die uns gekidnappt hatten, jetzt mal genauer anschauen. Wenn es Terroristen waren, wollte ich das wissen. Ich wusste allerdings nicht, wie Terroristen aussahen, obwohl Fernseh-Shows sich alle Mühe gegeben hatten, mir beizupulen, dass es braune Araber mit dichten Bärten, Strickmützen und schlabbrigen Baumwollkutten bis runter zu den Knöcheln waren.

Unsere Kidnapper sahen nicht so aus. Die hätten ebenso gut Cheerleader in der Halbzeitpausen-Show beim Super Bowl sein können. Sie sahen auf eine Art amerikanisch aus, die ich nicht recht beschreiben konnte. Ausgeprägte Kiefer, kurze, ordentliche Haarschnitte, aber nicht wirklich militärisch. Es waren Weiße und Farbige dabei, Männer und Frauen, und sie lächelten sich unbeschwert an, wie sie da am anderen Ende des Lasters zusammensaßen, witzelten und Kaffee aus Pappbechern tranken. Ne, das waren keine Fundis aus Afghanistan: Sie sahen aus wie Touris aus Nebraska.

Ich fixierte die eine, eine junge Brünette, kaum älter als ich und auf so eine abweisende Business-Art irgendwie süß. Wenn du jemanden lange genug anstarrst, guckt er dich irgendwann auch an. Sie auch; und sofort nahm ihr Gesicht einen völlig anderen Ausdruck an: leidenschaftslos, wie eine Maschine. Das Lächeln war wie ausgeknipst.

†œHey†, sagte ich, †œwissen Sie, ich kapier nicht, was hier abgeht, aber ich muss mal pinkeln, ja?†

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Sie guckte durch mich durch, als hätte sie kein Wort gehört.

†œEcht jetzt, wenn ich nicht bald ein Klo finde, gibts hier einen bösen Unfall. Dann wird†™s hier hinten ziemlich übel riechen, okay?†

Sie drehte sich zu ihren Kollegen um, sie steckten die Köpfe zusammen und tuschelten miteinander, so leise, dass es über die Lüfter der Computer nicht zu verstehen war.

Dann wandte sie sich wieder zu mir um. †œHalt mal noch zehn Minuten an, dann dürft ihr alle mal austreten.†

†œIch glaub nicht, dass ichs noch zehn Minuten halten kann†, sagte ich und legte etwas mehr Dringlichkeit in meine Stimme, als ich tatsächlich empfand. †œEhrlich, gute Frau, jetzt oder nie.†

Sie schüttelte den Kopf und guckte mich an, als wär ich der totale Versager. Sie und ihre Freunde berieten sich noch mal, dann kam ein anderer auf mich zu. Er war älter, vielleicht Anfang Dreißig, und mächtig breit in den Schultern wie ein Bodybuilder. Er sah wie ein Chinese oder Koreaner aus †“ nicht mal Van kann das immer unterscheiden -, aber mit einer Haltung, die †œAmerikaner† ausdrückte, ohne dass ich das genauer hätte beschreiben können.

Er schob seine Sportjacke nach hinten und ließ mich nen Blick auf seine Hardware am Gürtel werfen. Ich erkannte eine Pistole, einen Elektroschocker und eine Dose mit Tränengas oder Pfefferspray, bevor er die Jacke wieder drüberfallen ließ.

†œKeinen Ärger†, sagte er.

†œKein Stück†, stimmte ich ihm zu.

Er berührte irgendwas an seinem Gürtel, die Fesseln hinter mir gaben nach, und meine Arme fielen plötzlich zur Seite. Mann, der Typ schien Batmans Gimmickgürtel zu tragen: Funkfernsteuerung für Fesseln! War aber auch logisch irgendwie: Mit all dem tödlichen Geraffel am Gürtel würde man sich ja nicht über seine Gefangenen beugen wollen †“ die waren im Stande, sich die Wumme mit den Zähnen zu schnappen und mit der Zunge den Abzug zu ziehen oder so.

Meine Hände waren immer noch mit so Plastikhandschellen hinter meinem Rücken zusammengebunden, und als ich jetzt nicht mehr von den Fesseln gehalten wurde, stellte ich fest, dass sich meine Beine durch das lange Kauern in einer Position in Korkklumpen verwandelt hatten. Kurzer Sinn: Ich knallte nach vorn aufs Gesicht und zappelte mit den Beinen, die kribbelten wie bescheuert, um sie unter meinen Körper zu bekommen und mich auf die Füße stemmen zu können.

Der Typ riss mich auf die Füße, und ich wackelte ganz ans Ende des Trucks zu einer kleinen Klokabine. Auf dem Weg versuchte ich Darryl zu entdecken, aber es hätte jeder von den fünf, sechs hingesackten Leuten sein können. Oder keiner.

†œRein da†, sagte der Typ.

Ich zog an meinen Handgelenken. †œKönnten Sie die abnehmen, bitte?† Meine Finger fühlten sich nach Stunden der Fesselung an wie lila Würste.

Der Typ rührte sich nicht.

†œSchaun Sie mal†, sagte ich und bemühte mich, weder sarkastisch noch wütend zu klingen (was nicht leicht war). †œSchaun Sie, Sie müssen entweder meine Hände losschneiden, oder Sie zielen für mich. Ein Toilettenbesuch ist nichts, was sich freihändig bewältigen ließe.† Irgendjemand im Truck kicherte. Der Typ mochte mich nicht, das konnte ich daran sehen, wie seine Kiefermuskeln arbeiteten. Mann, diese Leute waren verdammt hart.

Er griff zum Gürtel und brachte ein sehr cooles Multiwerkzeug zum Vorschein. Dann klappte er ein fies aussehendes Messer aus, schnitt die Plastik-Handschellen durch, und meine Hände gehörten wieder mir.

†œDanke†, sagte ich.

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Er schubste mich in die Kabine. Meine Hände konnte ich nicht gebrauchen, die fühlten sich an wie Lehmklumpen an den Handgelenken. Als ich die schlaffen Finger ein bisschen bewegte, kribbelten sie; dann wurde das Kribbeln zu einem Brennen, dass ich fast anfing zu weinen. Ich klappte den Sitz runter, zog die Hose runter und setzte mich hin. Ich hätte nicht drauf gewettet, stehen bleiben zu können.

Als sich meine Blase erleichterte, tatens meine Augen ihr gleich. Ich weinte. Still heulte ich vor mich hin und kippelte auf dem Klositz, während mir Tränen und Rotz die Wangen runterliefen. Das einzige, was mir blieb, war, lautes Schluchzen zu unterdrücken †“ ich hielt mir die Hand vor den Mund und ließ keinen Ton raus. Diese Genugtuung wollte ich ihnen nicht gönnen.

Irgendwann war ich mit Pinkeln und Heulen fertig, und der Typ hämmerte gegen die Tür. Mit Bündeln von Klopapier säuberte ich mein Gesicht, so gut es eben ging, stopfte alles ins Klo und spülte; dann suchte ich ein Waschbecken, fand aber bloß eine Pumpflasche mit starker Desinfektionslösung, auf der in kleiner Schrift eine Liste biologischer Wirkstoffe zu lesen war. Ich rieb ein bisschen was in die Hände ein und verließ die Klokabine.

†œWas hast du da drin gemacht?†, wollte der Typ wissen.

†œDie sanitären Anlagen benutzt†, entgegnete ich. Er drehte mich um, griff meine Hände, und ich fühlte, wie ein neues Paar Plastikschellen sich darum schlossen. Seit er die anderen abgeschnitten hatte, waren meine Handgelenke angeschwollen, und die neuen schnitten brutal in die empfindliche Haut; aber ich weigerte mich, ihnen die Befriedigung zu verschaffen, mich schreien zu hören.

Er fesselte mich wieder an meinen Platz und schnappte sich meinen Nebenmann †“ Jolu, wie ich jetzt erst sah, das Gesicht verschwollen und eine hässliche Schramme auf der Wange.

†œBist du okay?†, fragte ich ihn, woraufhin mein Freund mit dem Gimmickgürtel mir die Hand auf die Stirn legte und einmal kurz, aber heftig drückte. Mein Hinterkopf donnerte gegen die Metallwand des Trucks, als ob die Uhr eins schlug. †œReden verboten†, sagte er, während ich mühsam meinen verschwommenen Blick wieder fokussierte.

Ich mochte diese Leute nicht. Genau in diesem Moment wusste ich, dass sie all das würden bezahlen müssen.

Einer nach dem anderen durften die Gefangenen aufs Klo, kamen zurück, und als alle fertig waren, ging mein Bewacher zu seinen Freunden zurück, trank noch einen Kaffee †“ ich konnte sehen, dass sie aus einer großen Papp-Kanne von Starbucks tranken -, und sie unterhielten sich undeutlich, aber mit viel Gelächter.

Dann öffnete sich die Tür hinten im Truck, und frische Luft strömte herein, nicht rauchverhangen wie zuvor, sondern von Ozon durchzogen. Wie ich durch den Türspalt erkennen konnte, bevor die Tür sich wieder schloss, war es dunkel und regnerisch draußen, die San-Francisco-Sorte Regen, die zugleich Nebel ist.

Der Mann, der hereinkam, trug eine Militäruniform. Eine US-Militäruniform. Er grüßte die Leute im Truck, und sie grüßten zurück; und da wusste ich: Ich war kein Gefangener irgendwelcher Terroristen †“ ich war ein Gefangener der Vereinigten Staaten von Amerika.

Sie stellten eine kleine Sichtblende hinten im Truck auf und machten uns dann einzeln los und führten uns dorthin. Nach meinen Schätzungen †“ im Kopf Sekunden zählen, einundzwanzig, zweiundzwanzig †“ dauerte jede Befragung rund sieben Minuten. Mein Schädel brummte vor Flüssigkeitsmangel und Koffeinentzug.

Ich kam als Dritter dran, die Frau mit dem strengen Haarschnitt brachte mich hin. Aus der Nähe sah sie müde aus, mit Ringen unter den Augen und tiefen Linien um die Mundwinkel.

†œDanke†, sagte ich automatisch, als sie mich mit einer Fernbedienung losmachte und auf die Füße zog. Ich hasste mich selbst für die unwillkürliche Höflichkeit, aber so war ich nun mal gedrillt worden.

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Sie verzog keine Miene. Ich ging vor ihr her zum anderen Ende des Trucks und hinter die Sichtblende. Ein einzelner Klappstuhl war für mich; zwei von ihnen, Frau Strenger Haarschnitt und Herr Gimmickgürtel, blickten mich von ihren ergonomischen Superstühlen herab an.

Zwischen ihnen stand ein Tischchen, auf dem sie den Inhalt meiner Brieftasche und meines Rucksacks ausgebreitet hatten.

†œHallo, Marcus†, sagte Frau Strenger Haarschnitt. †œWir müssen dir einige Fragen stellen.†

†œBin ich verhaftet?†, wollte ich wissen. Das war keine sinnlose Frage. Wenn du nicht verhaftet bist, dann gibt es Beschränkungen, was die Bullen mit dir machen können und was nicht. Zunächst mal können sie dich nicht unendlich lange festhalten, ohne dich festzunehmen, dir ein Telefonat zu erlauben oder dich mit nem Anwalt sprechen zu lassen. Und ein Anwalt, Mann, mit dem würde ich als allererstes sprechen.

†œWas soll das hier?†, fragte sie und hielt mein Handy hoch. Auf dem Monitor war die Fehlermeldung zu sehen, die erschien, wenn man versuchte, an die Daten zu kommen, ohne das richtige Passwort einzugeben. Es war eine etwas derbe Botschaft †“ eine animierte Hand, die eine allgemein bekannte Geste formte -, denn ich liebte es, meine Geräte zu individualisieren.

†œBin ich verhaftet?†, wiederholte ich. Wenn du nicht verhaftet bist, können sie dich auch nicht dazu zwingen, Fragen zu beantworten, und wenn du fragst, ob du verhaftet bist, müssen sie dir antworten. So ist die Regel.

†œDu bist im Gewahrsam des Ministeriums für Heimatschutz†, blaffte die Frau.

†œBin ich verhaftet?†

†œVor allem bist du kooperativer als bisher, Marcus, und zwar ab sofort.† Sie sagte nicht †œsonst†, aber das klang mit.

†œIch möchte einen Anwalt sprechen†, sagte ich. †œIch möchte wissen, was man mir vorwirft. Und ich möchte, dass Sie beide sich irgendwie ausweisen.†

Die beiden Agenten wechselten Blicke.

†œIch glaube, du solltest deine Haltung in dieser Lage noch mal überdenken†, sagte Frau Strenger Haarschnitt. †œUnd ich glaube, das solltest du auf der Stelle tun. Wir haben eine Reihe verdächtiger Gegenstände bei dir gefunden. Wir haben dich und deine Komplizen in der Nähe des Tatorts des schwersten Terroranschlags vorgefunden, den dieses Land jemals erlebt hat. Bring die beiden Fakten in Verbindung, und für dich siehts nicht gut aus, Marcus. Du kannst kooperieren, oder es wird dir sehr, sehr Leid tun. Und jetzt?†

†œSie denken, ich bin ein Terrorist? Ich bin siebzehn!†

†œGenau das richtige Alter †“ Al Kaida rekrutiert am liebsten idealistische Kids, die sich noch beeindrucken lassen. Wir haben dich mal gegoogelt, weißt du? Du hast eine Menge hässliches Zeug im öffentlichen Internet gepostet.†

†œIch möchte einen Anwalt sprechen†, sagte ich.

Frau Strenger Haarschnitt sah mich an, als sei ich ein Käfer. †œDu liegst völlig falsch mit der Annahme, dass die Polizei dich wegen eines Verbrechens geschnappt hat. Schlag dir das aus dem Kopf. Du befindest dich als möglicher feindlicher Kämpfer im Gewahrsam der Regierung der Vereinigten Staaten. An deiner Stelle würde ich sehr genau drüber nachdenken, wie du uns davon überzeugen kannst, kein feindlicher Kämpfer zu sein. Sehr genau. Denn weißt du, es gibt da dunkle Löcher, in denen feindliche Kämpfer verschwinden können, sehr tiefe dunkle Löcher, in denen man einfach verschwinden kann. Für immer. Hörst du mir gut zu, junger Mann? Ich möchte, dass du dein Telefon entsperrst und die Daten im Speicher dechiffrierst. Ich möchte, dass du Rechenschaft darüber ablegst, warum du auf der Straße warst. Was weißt du über den Anschlag auf diese Stadt?†

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†œIch werde mein Telefon nicht für Sie entsperren†, sagte ich zornig. Im Speicher meines Handys hatte ich alles Mögliche an privatem Krams: Fotos, Mails, kleine Hacks und Cracks, die ich installiert hatte. †œDas sind meine Privatsachen.†

†œWas hast du zu verbergen?†

†œIch habe ein Recht auf Privatsphäre†, sagte ich. †œUnd ich möchte einen Anwalt sprechen.†

†œDas ist deine letzte Chance, Kleiner. Ehrliche Leute haben nichts zu verbergen.†

†œIch möchte einen Anwalt sprechen.† Meine Eltern würden dafür aufkommen. Sämtliche FAQs übers Verhaftetwerden waren in dem Punkt eindeutig: Einfach nur einen Anwalt fordern, egal was sie sagen. Wenn du mit den Bullen sprichst, ohne dass dein Anwalt dabei ist, kommt nichts Gutes bei raus. Diese beiden hier sagten, sie seien keine Bullen. Aber wenn dies keine Verhaftung war, was war es dann? – Fortsetzung Kapitel 4

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Hintergründe, Handlung und weitere Informationen zu Little Brother findet ihr unter: Jugendthriller: Little Brother von Cory Doctorow komplett im Netz

Hier handelt es sich um die deutsche Übersetzung von Christian Wöhrl

Little Brother ist unter einem Creative Commons Namensnennung-Keine kommerzielle Nutzung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenzvertrag lizenziert.

Das Original wurde unter: http://craphound.com/littlebrother veröffentlicht.

Little Brother von Cory Doctorow: Kapitel 2

Little Brother

Kapitel 2

Dieses Kapitel ist Amazon.com gewidmet, dem größten Internet-Buchhändler der Welt. Amazon ist umwerfend †“ ein †œLaden†, in dem man praktisch jedes jemals publizierte Buch kaufen kann (nicht zu vergessen: praktisch alles andere auch, vom Laptop bis zur Käsereibe); wo Empfehlungen zu einer eigenen Kunstform erhoben worden sind; wo es ausdrücklich erlaubt ist, dass Kunden direkt miteinander sprechen; und wo permanent neue, verbesserte Techniken erfunden werden, um Bücher mit Lesern in Kontakt zu bringen.

Amazon hat mich stets wie pures Gold behandelt †“ sein Gründer, Jeff Bezos, veröffentlichte sogar eine Leserbesprechung meines ersten Romans -, und ich kaufe dort ein wie bescheuert (meinen Listen nach zu urteilen, durchschnittlich einmal alle sechs Tage). Amazon ist mittendrin, die Buchhandlung des 21. Jahrhunderts neu zu erfinden, und ich könnte mir kein Team vorstellen, das besser in der Lage wäre, die damit verbundenen Probleme anzugehen.

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Vielleicht studier ich Physik, wenn ich nach Berkeley gehe†, sagte Darryl. Sein Vater lehrte an der University of California in Berkeley, so dass er dort keine Studiengebühren würde zahlen müssen. Und ob er dort hin ginge, das stand in Darryls Haushalt nie zur Debatte.

†œOkay, aber könntest du das nicht auch online lesen?†

†œMein Dad sagte, ich solle das Buch nehmen. Im Übrigen hatte ich nicht geplant, heute noch ein Verbrechen zu begehen.†

†œSchule schwänzen ist kein Verbrechen, sondern ein Vergehen. Das ist was ganz anderes.†

†œWas machen wirn jetzt, Marcus?†

†œHm, verstecken geht nicht, also muss ichs grillen.†

RFIDs zu killen ist ne schwarze Kunst. Kein Händler kann bösartige Kunden brauchen, die in seinem Shop rumrennen und hirntote Waren zurücklassen, denen der unsichtbare Strichcode fehlt. Deshalb haben die Hersteller sich geweigert, ein †œKill-Signal† vorzusehen, mit dem man per Funk den RFID ausschalten kann. Mit den geeigneten Boxen kann man RFIDs umprogrammieren, aber ich hasse es, das mit Büchereibüchern zu tun. Es ist nicht dasselbe wie Seiten rauszureißen, aber es ist schon übel, weil ein Buch mit umprogrammiertem RFID nicht mehr einsortiert und nicht mehr gefunden werden kann. Es wird zu einer Stecknadel im Heuhaufen.

Also blieb mir nur eine Option: das Ding zu grillen. Im Wortsinn. 30 Sekunden in der Mikrowelle kriegen so ziemlich jeden handelsüblichen RFID klein. Und weil der Chip dann überhaupt nichts mehr sagen würde, wenn D es in die Bibliothek zurückbrächte, müssten sie bloß einen neuen ausdrucken und mit den Katalogdaten des Buchs codieren; dann würde es ganz ordentlich wieder auf seinem Regal landen.

Alles, was wir jetzt brauchten, war eine Mikrowelle.

†œLass uns noch zwei Minuten warten, dann ist das Lehrerzimmer leer†, sagte ich.

Darryl schnappte sich sein Buch und ging zur Tür. †œVergiss es einfach. Ich geh zurück in die Klasse.†

Ich griff ihn am Ellbogen und zog ihn zurück. †œHey, D, entspann dich. Alles wird gut.†

†œLehrerzimmer, ja? Hast du mir nicht zugehört? Wenn die mich noch einmal schnappen, bin ich weg vom Fenster. Begriffen? Die werfen mich raus!†

†œSie schnappen dich aber nicht†, antwortete ich. Wenn es einen Ort gab, an dem um diese Zeit kein einziger Lehrer war, dann das Lehrerzimmer. †œWir gehen hintenrum rein.†

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Das Lehrerzimmer hatte an einer Seite eine Küchenzeile mit separatem Eingang für Lehrer, die nur kurz auf einen Becher reinkamen. Die Mikrowelle, die immer nach Popcorn und verschütteter Suppe stank, war auch da drin †“ oben auf dem Minikühlschrank.

Darryl stöhnte, und meine Gedanken rasten.

†œHey, es hat schon wieder geklingelt. Wenn du jetzt ins Studierzimmer gehst, kriegst du ne Ermahnung für Zuspätkommen. Dann doch lieber gar nicht erst auftauchen. Ich krieg uns unbemerkt in jeden Raum auf dem Campus rein und wieder raus, D. Hast du doch schon gesehen. Mit mir bist du sicher, Alter.†

Er stöhnte wieder. Das war einer von Darryls Tells: Wenn er erst mal anfängt zu stöhnen, dann ist er bereit nachzugeben.

†œAuf gehts†, sagte ich, und wir legten los.

Es ging reibungslos. Vorbei an den Klassenräumen, rückwärtige Treppe nach unten, vordere Treppe direkt vorm Lehrerzimmer wieder hoch. Kein Piep war von drinnen zu hören; ich drehte den Türgriff und zog Darryl nach innen, um die Tür leise wieder hinter uns zu schließen.

Das Buch passte grade so in die Mikrowelle, die sogar noch unappetitlicher aussah als beim letzten Mal, als ich sie brauchte. Ich wickelte das Buch penibel in Papiertücher, bevor ich es reinsteckte. †œMann, Lehrer sind Schweine†, zischelte ich. Darryl, bleich und angespannt, erwiderte nichts.

Der RFID-Chip starb in einem Funkenregen, was ganz entzückend aussah (wenn auch nicht annähernd so hübsch wie der Effekt, wenn man eine tiefgefrorene Traube hochjagt †“ das muss man sehen, um es zu glauben).

Jetzt also bloß noch anonym weg vom Campus.

Darryl öffnete die Tür und schob sich nach draußen, ich direkt hinter ihm. Einen Moment später stand er auf meinen Zehen, seine Ellbogen in meine Brust gerammt, und drängte in die wandschrankgroße Küche zurück, die wir grade verlassen hatten.

†œZurück†, flüsterte er mit Nachdruck. †œMach schnell, Charles kommt!†

Charles Walker und ich können nicht miteinander. Wir sind im selben Jahrgang und kennen uns genauso lange, wie ich Darryl kenne, aber das wars auch schon an Gemeinsamkeiten. Charles war immer schon groß für sein Alter, und seit er Football spielt und Zeug schluckt, ist er noch größer. Er hat sein Temperament nicht unter Kontrolle †“ in der dritten Klasse ist ihm einer meiner Milchzähne zum Opfer gefallen -, und das bringt ihm nur deshalb keine Probleme, weil er einer der eifrigsten Spitzel an der Schule ist.

Ist ne üble Kombi, ein Schläger, der auch schnüffelt †“ es verschafft ihm enorme Befriedigung, mit jeder Kleinigkeit, von der er Wind kriegt, sofort zu den Lehrern zu rennen. Benson liebte Charles. Und der ließ gern durchblicken, dass er irgendein Problem mit der Blase hatte †“ perfekter Vorwand für ihn, in Chavez durch die Flure zu strolchen und zu gucken, wem er als Nächstes ans Bein pinkeln könnte.

Als Charles das letzte Mal was gegen mich in der Hand hatte, hatte das das Ende meiner LARP-Aktivitäten bedeutet. Von dem würde ich mich nicht noch mal erwischen lassen.

†œWas macht er?†

†œKommt genau in unsere Richtung†, sagte Darryl. Er zitterte.

†œOkay†, entgegnete ich. †œZeit für Notfall-Gegenmaßnahmen.† Ich holte mein Handy raus. Diese Sache hatte ich lange im Voraus geplant †“ Charles würde mich nie wieder drankriegen. Ich mailte meinen Server zuhause an, und der legte los.

Sekunden später kackte Charles†™ Handy spektakulär ab. Zehntausende von zufälligen Anrufen und SMS liefen parallel bei ihm auf, sämtliche Warn- und Klingeltöne meldeten sich gleichzeitig und dann wieder und wieder.

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Den Angriff hatte ich mithilfe eines Botnetzes bewerkstelligt, was mir einerseits ein schlechtes Gewissen bereitete; aber andererseits war es ja im Dienst einer guten Sache.

In Botnetzen fristen infizierte Rechner ihr untotes Dasein. Wenn du dir einen Wurm oder Virus fängst, sendet dein Rechner eine Botschaft an einen Chat-Kanal im IRC, dem Internet Relay Chat. Diese Botschaft zeigt dem Botmaster, also dem Typen, der den Wurm freigesetzt hat, dass da Computer sind, die auf seinen Befehl warten. Botnetze sind enorm mächtig, da sie aus Tausenden, manchmal Hunderttausenden von Rechnern bestehen, die über das ganze Internet verteilt sind, meist über Breitbandleitungen verbunden sind und auf schnelle Heim-PCs zugreifen. Normalerweise tun diese Rechner das, was ihre Besitzer wollen, aber wenn der Botmaster sie ruft, kommen sie wie die Zombies hervor, um ihm zu dienen.

Mittlerweile gibts im Internet so viele infizierte Rechner, dass die Mietpreise für ein, zwei Stunden Botnetz-Nutzung total im Keller sind. Die Kisten arbeiten zumeist als billige Spambots und fluten deine Mailbox mit Potenzpillen-Reklame oder wieder mit neuen Viren, um auch deine Kiste zu infizieren und fürs Botnetz zu rekrutieren.

Ich hatte also grade 10 Sekunden auf dreitausend Rechnern gemietet und jeden einzelnen angewiesen, eine SMS oder einen VoIP-Anruf an Charles†™ Handy abzusetzen; dessen Nummer hatte ich mal während einer dieser verhängnisvollen Bürositzungen bei Benson von einem Post-it abgelesen.

Muss ich erwähnen, dass Charles†™ Telefon nicht in der Lage war, damit umzugehen? Zuerst ließen die SMS den Gerätespeicher überlaufen, sodass das Handy nicht mal mehr seine Routinen ausführen konnte, etwa das Klingeln zu koordinieren und die gefälschten Rufnummern der eingehenden Anrufe aufzuzeichnen. (Wusstet ihr, dass es völlig simpel ist, die Rückrufnummer einer Anruferkennung zu faken? Dafür gibts ungefähr 50 verschiedene Möglichkeiten †“ einfach mal †œAnrufer-ID fälschen† googeln…)

Charles starrte sein Telefon fassungslos an und hackte auf ihm herum, die wulstigen Augenbrauen regelrecht verknotet ob der Anstrengung, dieser Dämonen Herr zu werden, die das persönlichste seiner Geräte in Besitz genommen hatten. Bis hierher war der Plan aufgegangen, aber nun tat er nicht, was er sollte †“ er sollte sich nämlich einen ruhigen Winkel suchen, wo er versuchen würde, sein Handy wieder unter Kontrolle zu bringen.

Darryl schüttelte mich an der Schulter, und ich zog mein Auge vom Türspalt weg.

†œWas macht er?†, flüsterte Darryl.

†œIch hab sein Handy geflutet, aber jetzt glotzt ers nur an, statt zu verschwinden.† Er würde Schwierigkeiten haben, das Ding zu rebooten. Wenn der Speicher erst mal komplett voll war, würde es schon schwer sein, auch nur den Programmcode zu laden, der fürs Löschen der Nachrichten gebraucht wurde; und bei seinem Handy konnte man auch nicht mehrere Nachrichten auf einmal entfernen, also würde er Tausende von Nachrichten einzeln löschen müssen.

Darryl schubste mich weg und schaute selbst durch den Türspalt. Kurz darauf begannen seine Schultern zu beben. Ich fürchtete schon, er hätte ne Panikattacke, aber als er sich umdrehte, sah ich, dass er so sehr lachen musste, dass ihm Tränen über die Wangen liefen.

†œGalvez hat ihn grade richtig rundgemacht, weil er während des Unterrichts im Flur war und sein Handy draußen hatte †“ hättst du sehen müssen, wie sie ihn zerfleischt hat. Hat ihr richtig Spaß gemacht.†

Darauf gaben wir uns die Hand; dann verschwanden wir zurück durch den Gang, Treppe runter, hinten rum, zur Tür raus, am Zaun vorbei und der strahlenden Nachmittagssonne über Mission entgegen. So schön war Valencia Street noch nie gewesen. Ich blickte auf die Uhr und erschrak.

†œTempo! Der Rest der Truppe erwartet uns in 20 Minuten bei den Cable-Cars!†

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Van sah uns zuerst. Sie hatte sich zu einer Horde koreanischer Touristen gesellt; das ist eine ihrer Lieblingstarnungen beim Schuleschwänzen. Seit dieses Schwänzer-Moblog online ist, wimmelt unsere Welt von neugierigen Ladeninhabern und Hobbyschnüfflern, die es für ihre Pflicht halten, Bildchen von uns zu machen und ins Netz zu stellen, wo sie von Schul-Offiziellen durchsucht werden können.

Sie kam aus der Menge heraus und steuerte auf uns zu. Darryl ist seit ewig hinter Van her, und sie ist so süß, so zu tun, als ob sies nicht merkt. Sie umarmte mich und ging dann zu Darryl weiter, um ihm ein züchtiges Küsschen auf die Wange zu drücken, das ihn bis über die Ohren knallrot anlaufen ließ.

Die beiden gaben ein lustiges Paar ab: Darryl ist ein bisschen stämmig, was bei ihm aber gar nicht schlecht aussieht, und hat einen rosigen Teint, der dazu neigt, an den Wangen rot zu werden, sobald er rennt oder aufgeregt ist. Er hatte schon mit 14 Bartwuchs entwickelt, aber glücklicherweise nach einer kurzen Zeit, die unter uns †œdie Lincoln-Jahre† hieß, mit Rasieren angefangen. Und er ist groß. Sehr, sehr groß. Basketballspielergroß.

Van dagegen ist sogar noch einen halben Kopf kleiner als ich, sie ist mager, und sie trägt ihr glattes schwarzes Haar in irrwitzig komplizierten Zöpfen, deren Machart sie im Internet raussucht. Sie hat hübsche kupferfarbene Haut und dunkle Augen, und sie steht auf Glasringe groß wie Rettich, die beim Tanzen gegeneinanderklirren.

†œWo ist Jolu?†, begrüßte sie uns.

†œWie gehts dir, Van?†, fragte Darryl mit belegter Stimme. In unseren Gesprächen mit Van war er immer einen Satz hinterher.

†œSuper, D. Und wie gehts deinen Kleinigkeiten?† Oh, sie war ein Miststück. Darryl fiel fast in Ohnmacht.

Jolu erlöste ihn von drohender sozialer Ächtung, indem er just in diesem Moment auftauchte: in übergroßer Leder-Baseballjacke, rattenscharfen Turnschuhen und einem Netz-Cap mit Logo unseres mexikanischen Lieblings-Wrestlers, dem maskierten El Santo Junior. Jolu ist Jose Luis Torrez, und er macht unser Quartett komplett. Er ging auf eine superstrenge katholische Schule in Outer Richmond, weshalb es für ihn nicht grade leicht war wegzukommen. Aber er schaffte es immer: Niemand verschwand so wie unser Jolu. Er liebte seine Jacke, weil sie ziemlich weit runterhing (was in gewissen Ecken der Stadt ziemlich stylisch war) und sein Katholikenschul-Outfit komplett überdeckte, denn das war ja wien Fadenkreuz für Schnüffelspinner, die das Schwänzer-Moblog in ihren Handy-Favoriten hatten.

†œAlles abmarschbereit?†, fragte ich, sobald wir mit sämtlichen Hallos fertig waren. Ich holte mein Handy raus und zeigte den anderen die Karte, die ich in der BART runtergeladen hatte. †œSoweit ich es begriffen habe, müssen wir zum Nikko zurück, einen Block dahinter Richtung O†™Farrell, dann links hoch Richtung Van Ness. Da irgendwo müssten wir das Funksignal kriegen.†

Van zog die Stirn kraus. †œDas ist eine eklige Ecke vom Tenderloin.† Da war nichts dran zu deuteln. Dieser Teil von San Francisco ist eins der schrägeren Viertel: Geh durch den Vordereingang des Hilton, und du hast den ganzen Touristenkram wie den Cable-Car-Wendepunkt und die Familien-Restaurants. Geh durch zur anderen Seite, und du kommst im Loin raus †“ dem Sammelbecken sämtlicher abgewrackter Transen-Huren, harter Zuhälter, Dealer und durchgeknallter Penner der Stadt. Was dort gehandelt wurde, dafür war keiner von uns alt genug (obwohl sich auch reichlich Nutten unseres Alters im Loin anboten).

†œDenk positiv†, entgegnete ich. †œDa will sich nun wirklich niemand rumtreiben außer am hellichten Tag. Also lassen sich die anderen Spieler frühestens morgen da blicken. Wir im ARG-Gewerbe nennen so was einen Monster-Vorsprung.†

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Jolu grinste mich an. †œWenn man dich hört, klingt das richtig gut.†

†œBesser als Uni zu essen allemal†, sagte ich.

†œQuasseln wir oder gewinnen wir?†, mischte sich Van ein. Sie war nach mir definitiv der härteste Spieler unserer Gruppe. Gewinnen war etwas, das sie sehr, sehr ernst nahm.

Wir machten uns auf den Weg, vier gute Freunde, einen Hinweis zu decodieren, das Spiel zu gewinnen †“ und für immer alles zu verlieren, was uns jemals wichtig war.

Die physische Komponente des heutigen Hinweises war ein Satz von GPS-Koordinaten †“ je einer für alle wichtigen Städte, in denen Harajuku Fun Madness gespielt wurde -, der anzeigte, wo wir das Signal eines Funknetz-Knotenpunkts finden würden. Dieses wurde von dem Signal eines anderen, in der Nähe versteckten WLAN-Zugangs gezielt überlagert, so dass man das eigentliche Signal nicht mit konventionellen WLAN-Findern erkennen konnte (das sind kleine Schlüsselanhänger, die dir anzeigen, ob du in Reichweite eines Funknetzes bist, das du gratis mitbenutzen kannst).

Die Aufgabe war, den versteckten WLAN-Zugang zu lokalisieren; dazu würden wir die Stärke des sichtbaren Signals analysieren und denjenigen Punkt finden müssen, an dem das Funknetz ohne offensichtlichen Grund am schwächsten war. Dort würden wir einen weiteren Hinweis finden †“ beim letzten Mal war dieser im Tages-Special auf der Speisekarte des Anzu verborgen, dem todschicken Sushi-Restaurant im Nikko-Hotel im Tenderloin.

Das Nikko gehörte zu Japan Airlines, einem der Sponsoren von Harajuku Fun Madness, und die Leute da hatten ein Mords-Tamtam veranstaltet, als wir den Hinweis endlich gefunden hatten: Sie servierten uns Schüsseln mit Miso-Suppe und brachten uns sogar dazu, Uni zu probieren †“ das ist Seeigel-Sushi mit der Konsistenz von sehr weichem Käse und dem Aroma von sehr weicher Hundekacke. Aber es war sehr lecker. Behauptete zumindest Darryl. Ich hatte den Kram nicht probiert.

Der WLAN-Finder meines Handys schnappte das Signal drei Blöcke O†™Farrell hoch auf, kurz vor Hyde Street, vor einem dubiosen †œAsiatischen Massagesalon† mit blinkendem rotem †œGeschlossen†-Schild im Fenster. Die Netzwerkkennung war HarajukuFM, wir wussten also, wir waren richtig.

†œWenns da drin ist, geh ich nicht rein†, sagte Darryl.

†œAlle WLAN-Finder bereit?†, fragte ich.

Darryl und Van hatten Handys mit eingebauten Findern, nur Jolu, der kein Telefon benutzen würde, das größer war als sein kleiner Finger, hatte ein gesondertes kleines Ortungsgerät.

†œOkay, ausschwärmen und schauen, was wir finden. Ihr müsst auf einen plötzlichen Signalabfall achten, der stärker wird, je mehr man sich in seine Richtung bewegt.†

Ich trat einen Schritt zurück und stand plötzlich jemandem auf den Zehen. Eine Frauenstimme sagte †œAutsch†, und ich wirbelte herum aus Angst, gleich würde mich eine Nutte abstechen, weil ich ihr die Absätze ruiniert hatte.

Stattdessen blickte ich einem Kind meines Alters ins Gesicht. Sie hatte strahlend pinkfarbenes Haar und eine riesige Pilotenbrille im kantigen Nagetiergesicht. Unter einem schwarzen Omakleid, geschmückt mit Bergen von japanischen Buttons mit Anime-Figuren, Führern der Alten Welt und ausländischen Limo-Logos, trug sie gestreifte Strümpfe.

Sie zückte eine Kamera und machte ein Bild von mir und meinem Team.

†œCheese†, sagte sie. †œHier ist die versteckte Spitzel-Kamera!†

†œNe†, sagte ich. †œDu wirst doch nicht…†

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†œUnd ob ich werde†, entgegnete sie. †œIch schick dieses Foto in dreißig Sekunden ans Schwänzerblog, wenn ihr vier nicht von hier verschwindet und meinen Freundinnen und mir den Hinweis überlasst. In einer Stunde könnt ihr wiederkommen und damit machen, was ihr wollt. Das wäre wohl mehr als fair.†

Hinter ihr sah ich noch drei Mädchen in ähnlicher Aufmachung †“ eins mit blauen Haaren, eins mit grünen und eins mit violetten. †œWer seid ihr eigentlich, das Eis-am-Stiel-Quartett?†

†œWir sind das Team, das euer Team bei Harajuku Fun Madness am Arsch kriegt†, sagte sie. †œUnd ich bin die, die genau jetzt euer Foto hochlädt und euch so richtig in die Scheiße…†

Hinter mir spürte ich Van nach vorn drängen. Ihre Mädchenschule war für ihre Prügeleien berüchtigt, und mir war klar, dass sie dieser Puppe ordentlich eine reinsemmeln würde.

Dann änderte sich die Welt für immer.

Zuerst spürten wirs bloß, dieses fiese Schwabbeln des Zements unter den Füßen, das jeder Kalifornier instinktiv erkennt †“ †œErdbeben†. Mein erster Impuls war wegzulaufen, wie üblich: †œBist du ängstlich und allein, hilft nur rennen oder schrei†™n.† Aber hier waren wir ja schon am denkbar sichersten Platz: weder in einem Gebäude, das über uns zusammenstürzen könnte, noch in der Mitte der Straße, wo uns herabfallende Dach-Teile das Hirn zermatschen könnten.

Erdbeben sind beängstigend geräuschlos †“ zumindest am Anfang -, aber das hier war nicht geräuschlos. Das hier war laut †“ ein unglaubliches Brüllen, lauter als alles, was ich jemals zuvor gehört hatte. Der Lärm war so bestialisch, dass ich in die Knie ging, und ich war beileibe nicht der Einzige. Darryl zerrte mich am Arm und wies über die Gebäude hinweg, und da sahen wir sie: eine gewaltige schwarze Wolke, die sich aus Nordwesten über die Bay erhob.

Dann noch ein Grollen, und die Rauchwolke dehnte sich aus, diese expandierende schwarze Form, die wir alle aus den Kinofilmen unserer Jugend kannten. Irgendjemand hatte etwas in die Luft gejagt, und zwar ganz gewaltig.

Noch mehr Grollen, noch mehr Beben. Die Straße rauf und runter erschienen Köpfe an Fenstern. Wir starrten schweigend die pilzförmige Wolke an.

Dann gingen die Sirenen los.

Sirenen wie diese hatte ich zwar schon mal gehört †“ sie testen die Zivilschutz-Sirenen immer dienstagmittags. Aber dass sie außerplanmäßig losgingen, das kannte ich nur aus alten Kriegsfilmen und Videospielen, diese Sorte, wo irgendwer irgendwen aus der Luft bombardiert. Luftalarm-Sirenen. Das wouuuuuuu-Jaulen machte das Ganze irgendwie unwirklich.

†œSuchen Sie sofort die Notunterkünfte auf.† Es war wie die Stimme Gottes, sie kam aus allen Richtungen zugleich. Auf einigen der Strommasten waren Lautsprecher angebracht, was mir noch nie aufgefallen war; und die waren alle auf einmal angegangen.

†œSuchen Sie sofort die Notunterkünfte auf.† Notunterkünfte? Wir starrten uns fragend an. Welche Notunterkünfte? Die Wolke wuchs immer noch und dehnte sich aus. War es eine Atombombe? Waren das jetzt unsere letzten Atemzüge?

Das Mädchen mit den rosa Haaren schnappte ihre Freundinnen, und sie rasten wie bekloppt den Hang runter, zur BART-Station am Fuß der Hügel.

†œSUCHEN SIE SOFORT DIE NOTUNTERKÜNFTE AUF.† Inzwischen war das Geschrei losgegangen, und alles rannte wild durcheinander. Touristen †“ die erkennt man immer daran, dass sie glauben, in Kalifornien sei es warm, und in San Francisco in Shorts und T-Shirts frieren †“ stoben in alle Himmelsrichtungen auseinander.

†œWir müssen weg!†, brüllte Darryl mir ins Ohr, kaum zu verstehen über dem Sirenengeheul, das mittlerweile durch normale Polizeisirenen verstärkt wurde. Ein Dutzend SFPD-Streifenwagen raste an uns vorbei.

†œSUCHEN SIE SOFORT DIE NOTUNTERKÜNFTE AUF.†

†œRunter zur BART-Station†, brüllte ich. Meine Freunde nickten. Wir schlossen die Reihen und machten uns zügig auf den Weg bergab. – Fortsetzung Kapitel 3

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Hintergründe, Handlung und weitere Informationen zu Little Brother findet ihr unter: Jugendthriller: Little Brother von Cory Doctorow komplett im Netz

Hier handelt es sich um die deutsche Übersetzung von Christian Wöhrl

Little Brother ist unter einem Creative Commons Namensnennung-Keine kommerzielle Nutzung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenzvertrag lizenziert.

Das Original wurde unter: http://craphound.com/littlebrother veröffentlicht.

Little Brother von Cory Doctorow: Kapitel 1

Little Brother

Kapitel 1

Dieses Kapitel ist BakkaPhoenix Books in Toronto, Kanada gewidmet. Bakka ist die älteste Science-Fiction-Buchhandlung der Welt, und ihretwegen wurde ich der Mutant, der ich heute bin. Mit ungefähr 10 Jahren schaute ich dort erstmals rein und fragte nach ein paar Empfehlungen. Tanya Huff (genau, die Tanya Huff, sie war damals allerdings noch keine berühmte Autorin) führte mich in die Second-Hand-Abteilung, drückte mir H. Beam Pipers †œLittle Fuzzy† in die Hand und veränderte so mein ganzes Leben.
Mit 18 arbeitete ich bei Bakka †“ als Nachfolger von Tanya, die dort aufgehört hatte, um ausschließlich zu schreiben -, und habe da bleibende Erfahrungen gemacht, wie und warum Leute Bücher kaufen. Meines Erachtens sollte jeder Autor mal in einer Buchhandlung arbeiten. Und bei Bakka haben im Lauf der Zeit eine Menge Schriftsteller gearbeitet: Zum 30-jährigen Bestehen erschien eine Anthologie mit Geschichten von Bakka-Autoren, darunter Michelle Sagara (bekannt als Michelle West), Tanya Huff, Nalo Hopkinson, Tara Tallan †“ und ich!
BakkaPhoenix Books:
http://www.bakkaphoenixbooks.com/
697 Queen Street West, Toronto ON Canada M6J1E6, +1 416 963 9993
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Ich bin ein Schüler an Cesar Chavez High in San Franciscos sonnigem Mission-Viertel, und damit bin ich einer der meistüberwachten Menschen der Welt. Mein Name ist Marcus Yallow, aber als diese Geschichte begann, kannte man mich als w1n5t0n. Gesprochen †œWinston†.
Nicht gesprochen †œWee eins enn fünf tee null enn† †“ es sei denn, man ist son planloser Schulleiter, der rückständig genug ist, das Internet immer noch †œDatenautobahn† zu nennen.
So einen kenn ich, und der heißt Fred Benson †“ einer von drei Stellvertretenden Direktoren an Cesar Chavez. Der Typ ist so sympathisch wie ein Loch in der Brust. Aber wenn schon im Knast, dann doch lieber mit planlosen Wärtern als mit solchen, dies drauf haben, oder?
†œMarcus Yallow†, sagte er an diesem Freitagmorgen über Lautsprecher. Die Anlage taugt sowieso nicht viel, und dazu noch Bensons übliches Murmeln, dabei kommt was raus, das nicht so sehr nach Schuldurchsage klingt als vielmehr nach jemandem, der sich abmüht, einen schlechten Burrito zu verdauen. Aber Menschen sind gut drin, aus Audiokuddelmuddel ihre eigenen Namen rauszuhören †“ verschafft dir Überlebensvorteile.
Ich schnappte mir meine Tasche, klappte den Laptop drei Viertel zu †“ wollte die Downloads nicht abbrechen †“ und bereitete mich auf das Unvermeidliche vor.
†œMelden Sie sich unverzüglich im Büro der Schulleitung.† Meine Gesellschaftskunde-Lehrerin Ms. Galvez verdrehte die Augen, und ich gab den Blick zurück. Der Typ hatte es immer auf mich abgesehen; nur weil ich durch die Schul-Firewall durchkomme wie durch nasse Tempos, die Schritterkennungs-Software austrickse und die Schnüffelsensoren zerlege, mit denen sie uns tracken. Egal, Galvez ist ne Gute, die dreht mir aus so was keinen Strick (zumal ich ihr mit ihrer Webmail helfe, damit sie mit ihrem im Irak stationierten Bruder reden kann).
Mein Kumpel Darryl gab mir nen Klaps hintendrauf, als ich an ihm vorbeikam. Den kenn ich schon, seit wir Windelkinder waren und die Vorschule schwänzten, und ich bring ihn ständig in die Bredouille, aber ich hau ihn auch immer wieder raus.

Seite 2

Ich reckte die Arme hoch wie ein Preisboxer, ließ Gesellschaftskunde Gesellschaftskunde sein und machte mich auf den Büßerweg ins Büro.
Auf halbem Weg meldete sich mein Handy. Auch son No-no †“ die Dinger sind an Chavez High muy prohibido -, aber was sollte mich das stören? Ich verschwand im Klo und schloss mich in der mittleren Kabine ein (die ganz hinten ist immer am ekligsten, weil so viele dahin gehen und denken, dass es da nicht so stinkig und siffig ist. Wer klug ist, geht in die Mitte, da ist es am saubersten). Ich hatte eine E-Mail auf dem Handy †“ weitergeleitet vom PC daheim. Es gab da wohl Neuigkeiten bei †œHarajuku Fun Madness†, dem besten Spiel aller Zeiten.
Ich grinste. Freitags in der Schule zu sein war sowieso ätzend, und ich war dankbar für die Ausrede, hier wegzukommen.
Ich trottete weiter zu Bensons Büro und winkte ihm beim Eintreten zu.
†œNa, wenn das mal nicht Wee eins enn fünf tee null enn ist†, sagte er. Frederick Benson (Sozialversicherungsnummer 545-03-2343, geboren 15. August 1962, Mädchenname der Mutter Di Bona, Heimatort Petaluma) ist ne ganze Ecke größer als ich. Ich bin bloß mickrige 1,73, er dagegen gut zwei Meter; und seine Basketball-Zeit am College liegt so lang zurück, dass seine Brustmuskulatur inzwischen zu Hängetitten degeneriert ist, die in seinen Billigheimer-Polo-Shirts scheußlich gut sichtbar sind. Er sieht ständig so aus, als wolle er dich mit dem Arsch zuerst dunken, und er steht total drauf, seine Stimme zu heben, um auf Dramatik zu machen. Nutzt sich beides aber ab, wenn mans ständig wiederholt.
†œNö, tschuldigung†, entgegnete ich. †œHab von Ihrer R2D2-Figur da noch nie was gehört.† †œW1n5t0n† buchstabierte er noch mal. Dann musterte er mich scharf und erwartete, dass ich klein beigäbe. Klar war das mein Nick, seit Jahren schon. Unter der Identität postete ich in Foren, in denen es um angewandte Sicherheitsforschung ging. Na ja, halt so Zeug wie heimlich aus der Schule verschwinden und die Signalverfolgung im Handy deaktivieren.
Aber er wusste nicht, dass das mein Nick war. Das wussten nur ne Handvoll Leute, und zu denen hatte ich vollstes Vertrauen.
†œÄhm, da klingelt nix†, antwortete ich. Unter dem Pseudo hatte ich ne Menge cooles Zeug gemacht †“ auf die Sache mit den Schnüffeletiketten-Killern war ich verdammt stolz -, und wenn er da eine Verbindung herstellen konnte, wäre ich geliefert. Niemand an der Schule nannte mich w1n5t0n oder auch bloß Winston, nicht mal meine Kumpels. Ich hieß hier Marcus, sonst nichts.
Benson ließ sich hinterm Schreibtisch nieder und pochte mit seinem Abschluss-Ring nervös auf dem Löschpapier rum. Machte er immer, wenn die Dinge nicht so gut für ihn liefen. Pokerspieler nennen das einen †œTell† †“ einen Anhaltspunkt dafür, was im Kopf des Gegenübers vorgeht. Ich kannte Bensons sämtliche Tells rauf und runter.
†œMarcus, du begreifst hoffentlich, wie ernst die Sache ist.†
†œSelbstverständlich, sobald Sie mir erklären, worum es geht, Sir.† Ich sag zu Autoritäts-Typen immer †œSir†, wenn ich sie verarschen will †“ das ist mein Tell.
Er schüttelte den Kopf über mich und senkte den Blick †“ noch ein Tell. Jeden Moment würde er anfangen mich anzubrüllen. †œHör mal, Kleiner! Wird Zeit, dass du begreifst, dass wir wissen, was du getan hast, und dass wir nicht gedenken, da ein Auge zuzudrücken. Du wirst von Glück reden können, wenn ich dich nicht von der Schule werfe, bevor wir mit unserer Unterhaltung fertig sind. Du willst doch noch einen Abschluss?†
†œMr. Benson, Sie haben immer noch nicht erklärt, was das Problem ist…†
Er schlug mit der Hand auf den Tisch und zeigte dann mit dem Finger auf mich. †œDas Problem, Mr. Yallow, besteht darin, dass Sie an einer kriminellen Verschwörung beteiligt sind mit dem Ziel, die Sicherheitssysteme dieser Schule zu unterwandern, und dass Sie Ihre Mitschüler mit entsprechenden Gegenmaßnahmen versorgt haben. Wie Sie wissen, haben wir Graciella Uriarte vergangene Woche der Schule verwiesen, da sie eines Ihrer Geräte in Verwendung hatte.†

Seite 3

Uriarte hatte es vergeigt †“ hatte in einem Headshop bei der BART-Station (1) 16. Straße nen Störsender gekauft, und das Ding hatte im Schulflur Alarm ausgelöst. Hatte ich nix mit zu tun, aber leid tat sie mir schon.
1 Bay-Area-Schnellbahn, Anmerkung des Übersetzers
†œUnd Sie denken, dass ich da mit drin stecke?†
†œWir haben zuverlässige Erkenntnisse, die darauf hindeuten, dass Sie w1n5t0n sind† †“ er buchstabierte es wieder, und ich fragte mich allmählich, ob er wohl begriffen hatte, dass die 1 ein i und die 5 ein s war. †œWir wissen, dass dieser Mensch namens w1n5t0n verantwortlich für den Diebstahl der standardisierten Prüfungen im letzten Jahr war.† Das allerdings war ich nicht gewesen; war aber ein gelungener Hack damals, und irgendwie schmeichelhaft, dass ers mir zuschrieb. †œDas bringt gut und gern ein paar Jahre Gefängnis, sofern Sie sich nicht kooperativ zeigen.†
†œSie haben zuverlässige Erkenntnisse†™? Ob ich die wohl mal sehen könnte?†
Er fixierte mich scharf. †œMit der Haltung kommen Sie hier nicht weit.†
†œNun, Sir, wenn es Beweise gibt, dann sollten Sie wohl die Polizei einschalten und denen die Sache übergeben. Klingt ganz so, als sei das was Ernstes, und ich wäre der Letzte, der einer intensiven Untersuchung durch die zuständigen Stellen im Wege stehen wollte.†
†œSie möchten also, dass ich die Polizei rufe?†
†œUnd meine Eltern; das wäre wohl das Beste.†
Übern Schreibtisch hinweg blickten wir einander an. Er hatte offensichtlich erwartet, dass ich einknicken würde, sobald er die Bombe platzen ließ. Ich knicke aber nie ein. Ich kenn einen Trick, mit dem man Leute wie Benson in Grund und Boden starrt. Ich gucke einen Hauch links an ihnen vorbei und denk an die Texte alter irischer Folksongs †“ die Sorte mit 300 Zeilen und so. Auf die Art seh ich aus wie völlig entspannt und im Lot.
† Und der Flügel am Vogel und der Vogel auf dem Ei und das Ei im Nest und das Nest auf dem Blatt und das Blatt am Zweig und der Zweig am Ast und der Ast am Stamm und der Stamm am Baum und der Baum im Moor †“ das Moor unten im Tal, oh! Heio, das rauschende Moor, der Baum drunten im Moor, oh!†
†œSie können in Ihre Klasse zurückgehen†, sagte er. †œIch rufe Sie wieder, sobald die Polizei bereit ist, mit Ihnen zu sprechen.†
†œRufen Sie sie jetzt sofort an?†
†œEs ist ein aufwendiges Verfahren, die Polizei einzuschalten. Ich hatte gehofft, wir könnten das kurz und schmerzlos unter uns klären, aber da Sie darauf bestehen …†
†œOh, es macht mir nichts aus, hier zu warten, während Sie die Polizei rufen†.
Er klopfte wieder mit seinem Ring, und ich machte mich auf den Ausbruch gefasst.
†œRaus!†, brüllte er. †œVerdammt noch mal raus aus meinem Büro, Sie kleiner Drecks-† Ich empfahl mich, ohne ne Miene zu verziehen. Er würde die Bullen nicht anrufen. Hätte er genug Beweise gehabt, um damit zur Polizei zu gehen, dann hätte ers gleich gemacht. Er konnte mich ums Verrecken nicht ausstehen. Vermutlich hatte er ein bisschen was an unbestätigten Gerüchten aufgeschnappt und gehofft, er könne mir ein Geständnis abtricksen.
Ich schlenderte munter den Gang runter, wobei ich für die Schritterkennungs-Kameras auf gleichmäßigen Gang achtete. Die waren im vorigen Jahr installiert worden, und ich liebte sie, weil sie so offensichtlich bescheuert waren. Früher war fast jeder öffentliche Winkel der Schule von Gesichtserkennungs-Kameras abgedeckt, aber die hatte ein Gericht als verfassungswidrig eingestuft. Also hatten Benson und ein paar andere paranoide Schulobere unser Bücher-Budget für diese schwachsinnigen Kameras verbraten, die angeblich den Gang zweier Leute voneinander unterscheiden konnten. Na klar.

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Ich ging zurück in die Klasse und setzte mich hin; Ms. Galvez begrüßte mich freundlich. Dann packte ich das primäre Arbeitsgerät unserer Schule wieder aus und wählte den Klassenzimmer-Modus. Die SchulBooks waren die verräterischsten Geräte von allen †“ zeichneten jede Eingabe auf, kontrollierten den Netzwerkverkehr auf verdächtige Eingaben, zählten alle Klicks, zeichneten jeden flüchtigen Gedanken auf, den du übers Netz verbreitetest. Wir hatten sie in meinem ersten Jahr hier bekommen, und es hatte bloß ein paar Monate gedauert, bis der Reiz dieser Dinger verflogen war. Sobald die Leute merkten, dass diese †œkostenlosen† Laptops in Wirklichkeit für die da oben arbeiteten (und im Übrigen mit massenhaft nerviger Werbung verseucht waren), fühlten die Kisten sich plötzlich sehr, sehr schwer an.
Mein SchulBook zu cracken war simpel gewesen. Der Crack war binnen eines Monats nach Einführung der Maschine online zu finden, und es war eine billige Nummer †“ bloß ein DVD-Image runterladen, brennen, ins SchulBook stecken und die Kiste hochfahren, während man ein paar Tasten gleichzeitig gedrückt hielt. Die DVD erledigte den Rest und installierte etliche versteckte Programme auf dem Laptop, die von den täglichen Fernprüfungs-Routinen der Schulleitung nicht gefunden werden konnten. Man musste bloß hin und wieder ein Update aufspielen, um auch die neuesten Testverfahren der Direktion zu umgehen; aber das war ein bescheidener Preis dafür, ein bisschen Kontrolle über die Kiste zu bekommen.
Ich startete IMParanoid, den geheimen Instant Messenger, den ich immer benutzte, wenn ich mitten im Unterricht eine Diskussion nebenher starten wollte. Darryl war schon eingeloggt.
>  Im Spiel gehts ab! Irgendein großes Ding läuft bei Harajuku Fun Madness, Alter. Biste dabei?
> Ver! Giss! Es! Wenn die mich zum dritten Mal beim Schwänzen erwischen, flieg ich. Ey, weißt du doch. Nach der Schule, OK?
>  Du hast noch Mittagessen und Studienzeit, oder? Macht zwo Stunden. Genug Zeit, den Hinweis zu knacken, und wir sind zurück, bevor uns jemand vermisst. Ich mach das ganze Team klar.
Harajuku Fun Madness ist das beste Spiel aller Zeiten. Ja, hatten wir schon, aber das kann man ruhig zweimal sagen. Es ist ein ARG, ein †œAlternate Reality Game†, und es dreht sich darum, dass ein paar japanische Mode-Kids einen wundersam heilenden Edelstein im Tempel von Harajuku entdeckt haben †“ das ist da, wo coole japanische Teens quasi jede nennenswerte Subkultur der letzten zehn Jahre erfunden haben. Die werden gejagt von bösen Mönchen, der Yakuza (der Japsen-Mafia), Aliens, Steuerfahndern, Eltern und einer schurkischen künstlichen Intelligenz. Und sie geben den Mitspielern codierte Hinweise, die wir entschlüsseln müssen, um neue Hinweise zu finden, die uns zu neuen codierten Nachrichten führen und so weiter.
Stell dir den besten Nachmittag vor, den du in einer Stadt verbracht hast †“ du strolchst durch die Straßen und checkst all die merkwürdigen Leute, komischen Flugblätter, die Spinner auf der Straße und die schicken Läden. Und dazu noch eine Schnitzeljagd, bei der du dich mit irren alten Filmen und Songs und Jugendkulturen von früher und heute und überall auf der Welt beschäftigen musst. Außerdem ist es ein Wettbewerb, bei dem das beste Viererteam satte zehn Tage nach Tokio reisen darf †“ auf der Harajuku-Brücke chillen, im Geek-Mekka Akihabara stöbern, Astro-Boy-Gimmicks einsammeln, so viel du essen kannst (na ja, außer dass er in Japan †œAtom Boy† heißt)…
Das ist Harajuku Fun Madness, und wenn du erst mal ein, zwei Rätsel gelöst hast, führt kein Weg mehr zurück.
>  Nein, Mann, nein. NEIN. Frag erst gar nicht.
>  Ich brauch dich, D. Ich hab keinen Besseren als dich. Ich schwörs, ich bring uns unbemerkt raus und wieder rein. Kann ich. Weißt du doch.
>  Ich weiß, dass dus kannst.

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> Also bist du dabei?
>  Scheiße, nein.
>  Komm schon, Darryl. Du wirst dir schon nicht auf dem Sterbebett wünschen, mehr Zeit in der Schule verbracht zu haben.
>  Ich werd mir dann aber auch nicht wünschen, mehr Zeit mit ARGs verbracht zu haben.
> Aber vielleicht wirst du dir wünschen, mehr Zeit mit Vanessa Pak verbracht zu haben?
Van war ein Mitglied meines Teams. Sie besuchte eine private Mädchenschule in der East Bay, aber ich wusste, sie würde schwänzen, um die Mission mit mir zu erledigen. Und Darryl war nun schon seit Jahren in sie verknallt, schon bevor die Pubertät begonnen hatte, sie mit verschwenderischen Reizen zu bedenken. Darryl hatte sich in ihren Verstand verliebt. Echt traurig das.
>  Du Arsch.
>  Du bist dabei?
Er guckte zu mir rüber und schüttelte den Kopf. Dann nickte er. Ich blinzelte ihm zu und ging daran, den Rest des Teams zusammenzutrommeln.
ARG war nicht immer mein Ding. Ich hab ein finsteres Geheimnis: Ich war mal ein LARPer. LARPs sind Live-Action-Rollenspiele, und es ist genau so, wie es sich anhört: In Kostümen rumrennen, in lustigen Dialekten reden und so tun, als sei man ein Topspion, ein Vampir oder ein mittelalterlicher Ritter. Das ist so wie Fahnen erobern mit Monsterkutten, bisschen Drama Club dabei, und am besten waren die Spiele, die wir in Pfadfinderlagern draußen in Sonoma oder auf der Peninsula spielten.
Diese Drei-Tage-Events wurden manchmal echt haarig, wenn man den ganzen Tag wandern musste, ewig lang mit Schaumstoff- und Bambusschwertern kämpfte, Leute verhexte, indem man sie mit Bohnensäcken bewarf und †œFeuerball!† brüllte, all son Zeug. Total lustig; okay, auch albern. Aber nicht annähernd so ein Geek-Kram wie drüber zu reden, was dein Elb als nächstes tun wird, während man mit Diet Coke und bemalten Miniaturen bewaffnet um einen Tisch rumsitzt; und viel mehr physische Action als beim Mausschubsen bei einem Massive Multiplayer Game daheim.
Zum Verhängnis wurden mir die Minispiele in Hotels. Wann immer eine Science-Fiction-Convention in der Stadt war, überredete jemand die Leute, uns bei dem Event eine Reihe von Sechs-Stunden-Minispielen zu erlauben, so dass wir uns in deren gemietete Räumlichkeiten einklinken konnten. Gab der Convention ein bisschen Extra-Farbe, wenn da eine Horde enthusiastischer Kiddies in Kostümen rumrannten, und wir hatten Spaß mit Leuten, die noch härtere Sozialabweichler waren als wir.
Das Problem mit Hotels ist, dass da auch ne Menge Leute wohnen, die keine Gamer sind. Nicht bloß SciFi-Leute. Normale Leute. Aus Bundesstaaten, die vorne und hinten Vokale haben. Im Urlaub.
Und manchmal missverstehen solche Leute das Wesen solcher Spiele. Belassen wirs dabei, ja?
[x]
Die Schulstunde würde in zehn Minuten vorbei sein, ich hatte also nicht viel Zeit für die Vorbereitungen. Erster Tagesordnungspunkt waren die nervigen Schritterkennungs-Kameras. Wie gesagt: Ursprünglich waren da mal Gesichtserkennungs-Kameras, aber die waren ja für verfassungswidrig erklärt worden. Meines Wissens hat sich noch kein Gerichtshof mit der Frage befasst, ob die Gang-Cams tatsächlich legaler sind, und bis dahin hatten wir sie am Hacken.
†œGang† ist ein schickes Wort für die Art, wie man läuft. Menschen sind ziemlich gut drin, Gang zu erkennen: Wenn du nächstes Mal Camping machst, achte mal auf die Bewegungen des Taschenlampenlichts, wenn ein Freund von weit weg auf dich zukommt. Wahrscheinlich kannst du ihn bloß anhand der Lichtbewegung erkennen, anhand der typischen Art und Weise, wie das Licht rauf- und runterwackelt, was unseren Affenhirnen verklickert †œda ist ein Mensch, der auf dich zukommt†.

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Schritterkennungs-Software fotografiert deine Bewegungen, versucht dich auf den Bildern als Silhouette zu isolieren und probiert dann, diese Silhouette mit einer Datenbank abzugleichen, um herauszufinden, wer du bist. Ein biometrisches Identifikationssystem also, wie Fingerabdrücke oder Iris-Scans, hat aber viel mehr †œKollisionen† als die anderen beiden. Eine biometrische †œKollision† bedeutet, dass eine Messung zu mehr als einer Person passt. Deinen Fingerabdruck hast du ganz allein, aber dein Gang ist ziemlich gleich wie der von etlichen anderen Leuten.
Nur †œziemlich†, nicht exakt. Dein persönlicher Gang, auf den Zentimeter genau erfasst, ist deiner, ganz allein deiner. Dumm ist nur, dass du nie auf den Zentimeter genau gleich gehst, weil das davon abhängt, wie müde du bist, auf welcher Sorte Untergrund du gehst, ob du deinen Knöchel beim Basketball geprellt hast und ob du kürzlich erst neue Schuhe gekauft hast. Also nähert sich das System deinem Profil mit sowas wie Fuzzy Logic und guckt nach Leuten, die irgendwie so ähnlich gehen wie du.
Aber es gibt ne Menge Leute, die irgendwie so ähnlich gehen wie du. Und außerdem ist es simpel, eben nicht irgendwie so ähnlich zu gehen wie du selbst †“ zieh bloß mal einen Schuh aus. Natürlich wirst du dann so laufen wie †œdu mit nur einem Schuh an† eben immer läufst, und die Kameras werden früher oder später merken, dass dus trotzdem bist. Deshalb gehe ich meine Angriffe auf die Schritterkennung mit einer Zufallskomponente an: Ich kippe ne Handvoll Kiesel in jeden Schuh. Billig und wirksam, keine zwei Schritte sehen gleich aus. Und klasse Reflexzonenmassage gibts gratis dazu (war nur Spaß. Reflexzonenmassage hat um und bei denselben wissenschaftlichen Wert wie Schritterkennung).
Die Kameras waren anfangs so eingestellt, dass sie jedes Mal Alarm schlugen, wenn jemand den Campus betrat, den sie nicht kannten.
Gaaanz schlechte Idee.
Wir hatten alle zehn Minuten Alarm. Der Briefträger. Irgendein Elternteil. Die Handwerker, die das Basketballfeld reparierten. Sogar bei Schülern mit neuen Schuhen ging der Alarm los.
Deshalb versucht das System jetzt bloß noch aufzuzeichnen, wer wann wo ist. Wenn also jemand während der Unterrichtszeit das Schulgelände verlässt, wird der Gang daraufhin abgeglichen, ob es einer der Schüler sein könnte. Und wenn ja, wup-wup-wup, geht die Sirene los.
Chavez High ist von Kieswegen umgeben. Ich hab für alle Fälle immer ein paar Hände voll Steinchen in meiner Umhängetasche. Kommentarlos gab ich Darryl ein Dutzend von den kantigen Biestern rüber, und wir füllten beide unsere Schuhe.
Der Unterricht war nahezu vorbei, als mir klar wurde, dass ich immer noch nicht auf der Website von Harajuku Fun Madness nachgeschaut hatte, wo man den nächsten Hinweis finden würde! Ich war viel zu sehr auf die Flucht konzentriert gewesen und hatte mich nicht drum gekümmert, wohin wir zu fliehen hatten.
Also griff ich noch mal in die Tasten meines SchulBooks. Der Browser, den wir benutzten, kam vorinstalliert. Eine dichtgemachte Spyware-Version des Internet Explorers, Microsofts Crashware-Dreck, den kein Mensch unter 40 freiwillig benutzte.
Ich hatte einen Firefox auf dem USB-Laufwerk in meiner Uhr, aber das reichte nicht †“ das SchulBook lief mit Vista4Schools, einem antiken Betriebssystem, das Schuladministratoren die Illusion geben sollte, sie könnten kontrollieren, welche Programme auf den Rechnern ihrer Schüler laufen.
Aber Vista4Schools steht sich selbst im Weg. Ne Menge Programme sollen so laufen, dass man sie in Vista4Schools nicht ausschalten kann †“ Keylogger, Zensurprogramme -, und die müssen in einer speziellen Betriebsart laufen, damit sie vom System nicht gesehen werden. Du kannst sie nicht ausschalten, weil du sie gar nicht im System sehen kannst.

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Jedes Programm, dessen Name mit $SYS$ beginnt, ist fürs Betriebssystem unsichtbar. Es taucht weder im Explorer noch im Taskmanager auf. Also hatte ich meine Firefox-Kopie $SYS$Firefox genannt †“ und wenn ich es startete, wurde es für Windows unsichtbar und somit für die Schnüffelprogramme im Netzwerk.
Der Indie-Browser lief, jetzt brauchte ich nur noch eine Indie-Netzwerkverbindung. Das Schulnetz zeichnete jeden Klick rein und raus auf, und das konnte man ja nicht brauchen, wenn man fürn bisschen außerschulischen Spaß bei Harajuku Fun Madness vorbeisurfen wollte.
Die geniale Lösung heißt TOR †“ The Onion Router. So ein †œZwiebel-Router† ist eine Website, die Verbindungsanfragen zu Internetseiten entgegennimmt und zu anderen TORs weiterreicht; das Ganze ein paar Mal weiter, bis schließlich ein TOR die angeforderte Website aufruft und genauso durch die verschiedenen Zwiebel-Häute zurückgibt, bis sie bei dir ankommt. Der Netzwerkverkehr zu den Zwiebel-Routern ist verschlüsselt, so dass die Schule nicht sehen kann, wohin du eigentlich surfst, und die einzelnen Zwiebel-Häute wissen nicht, für wen sie arbeiten. Bei TOR gibts Millionen von Netzwerkknoten: Das Programm wurde vom Forschungsamt der US-Marine entwickelt, um den Navy-Leuten unzensierte Verbindungen in Ländern wie Syrien und China zu ermöglichen. Somit ist es das perfekte System im Bereich einer durchschnittlichen US-Highschool.
TOR funktioniert deshalb, weil die Schule eine begrenzte Liste von Schmuddeladressen pflegt, die wir nicht ansurfen dürfen, und weil die Adressen der Netzwerkknoten sich ständig ändern †“ keine Chance für die Schule, da ständig auf dem Laufenden zu bleiben. Firefox und TOR zusammen machten mich zum Unsichtbaren, unangreifbar für Schulbehördenschnüffelei, frei, zur Harajuku-FM-Site zu surfen und zu schauen, was abging.
Da war er, der neue Hinweis. Wie alle Hinweise bei Harajuku Fun Madness hatte auch dieser physische, Online- und mentale Komponenten. Der Online-Teil war ein Rätsel, und dafür musste man etliche knifflige Fragen beantworten. Diesmal waren dabei auch Fragen zur Handlung von Dojinshis †“ das sind Comics, die von Fans der japanischen Mangas gezeichnet werden. Dojinshis können genauso umfangreich sein wie die offiziellen Comics, von denen sie inspiriert sind, aber sie sind viel bizarrer, mit verschachtelten Handlungsfäden und manchmal völlig durchgeknallten Liedern und Action. Und massig Liebesgeschichten sowieso. Jeder Fan findet es toll, wenn seine Helden sich verknallen.
Um die Rätsel würde ich mich später daheim kümmern müssen. Das ging am leichtesten mit dem kompletten Team, weil man massenhaft Dojinshi-Files runterladen und nach Antworten auf die Rätselfragen durchflöhen musste.
Grade war ich fertig damit, die Hinweise zu sortieren, als die Schulglocke klingelte; unsere Flucht konnte beginnen. Unauffällig ließ ich die Kiesel in meine halbhohen Stiefel rieseln †“ knöchelhohe australische Blundstones, klasse zum Laufen und Klettern, und durch das Design ohne Schnürsenkel schnell aus- und angezogen, was bei den allgegenwärtigen Metalldetektoren natürlich praktisch ist.
Natürlich mussten wir auch die physische Überwachung austricksen, aber das wird im Grunde mit jeder neuen Schnüffeltechnik leichter †“ all der Alarmkrams vermittelt unserer geliebten Schulleitung ein trügerisches Gefühl von Sicherheit. Wir ließen uns mit all den anderen die Flure hinuntertreiben und steuerten meinen Lieblings-Hinterausgang an. Auf halber Strecke flüsterte Darryl: †œVerdammt, hab vergessen, dass ich noch ein Büchereibuch in meiner Tasche hab!†
†œMach kein Schei߆, entgegnete ich und zerrte ihn ins nächste Klo. Büchereibücher sind ne miese Sache. Bei denen ist immer ein RFID-Chip (ein Sensor zur Identifikation per Funk) in den Einband geklebt; damit können die Bibliothekare die Bücher ganz einfach auschecken, indem sie sie über ein Lesegerät ziehen, und ein Bücherei-Regal kann Bescheid sagen, ob eins der Bücher darin am falschen Platz steht.

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Aber es erlaubt der Schule auch, jederzeit den Aufenthaltsort jedes Buchs zu ermitteln. Auch so ein legales Hintertürchen: Die Gerichte hatten es verboten, uns per RFID zu tracken, aber Büchereibücher durfte man tracken, und ebenso war es erlaubt, mit den Schulaufzeichnungen abzugleichen, wer wohl wahrscheinlich grade welches Buch dabeihatte.
Ich hatte zwar einen kleinen Faraday-Beutel in der Tasche †“ das sind kleine Umschläge, die mit Kupferdraht-Gewebe gefüttert sind, Radiowellen wirksam blocken und RFID-Chips zum Schweigen bringen. Aber die Beutel waren dafür gedacht, Ausweise und Mautstellen-Transponder zu neutralisieren, nicht für…
†œEine Einleitung in die Physik?†, stöhnte ich. Das Buch war dick wie ein Lexikon. -  Fortsetzung Kapitel 2

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Hintergründe, Handlung und weitere Informationen zu Little Brother findet ihr unter: Jugendthriller: Little Brother von Cory Doctorow komplett im Netz

Hier handelt es sich um die deutsche Übersetzung von Christian Wöhrl

Little Brother ist unter einem Creative Commons Namensnennung-Keine kommerzielle Nutzung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenzvertrag lizenziert.

Das Original wurde unter: http://craphound.com/littlebrother veröffentlicht.

Jugendthriller: Little Brother von Cory Doctorow komplett im Netz

Der kanadische Science-Fiction-Autor, Journalist und Blogger (seit 2001 Co-Autor bei Boing Boning) Cory Doctorow ist einer der Mitgründer der Open Rights Group in England, die sich, ähnlich wie die EFF, unter anderem für eine Liberalisierung des Urheberrechts, gegen Digitale Rechteverwaltung und für den Datenschutz engagiert.

Seine Bücher veröffentlicht er unter einer Creative Commons-Lizenz, so auch 2008 seinen Jugendthriller Little Brother. Cory Doctorow ist überzeugt, dass die freie Verbreitung im Internet den Verkaufszahlen seines Buches nicht schadet.

Handlung
Der 17 jährige Schüler Marcus Yallow, der eine Schule in San Francisco besucht und sich Sicherheitssystemen beschäftigt wird Zeuge eines Terroranschlag auf die Bay Bridge. Anschließend wird er uns seine Freunde durch die Heimatschutzbehörde (Department of Homeland Security †“ kurz DHS) festgenommen, verhört und gefoltert wird, da er Hobbyhacker ist und sich weigert zunächst seine privaten Passwörter preis zu geben.
Als er nach einigen Tagen die Passwörter frei gibt, und nichts verdächtiges auf seinem Handy gefunden werden kann, wird er freigelassen. Er kehrt nach hause zurück und bemerkt, dass sein Laptop manipuliert wurde, und er von einem Tag auf den anderen zu einem gläsernen Menschen wurde. Als Reaktion darauf erklärt er dem DHS den Krieg. Außerdem wird sein Freund Darryl der in der Panik nach dem Anschlag verletzt wurde noch immer vermisst.
Mittels einer Distribution von Linux (ParanoidLinux – fiktiv!) gründet Marcus das sogenannte Xnet, ein Kommunikationsnetzwerk das der Widerstandsbewegung (Xnetter) eine verschlüsselte Kommunikation ermöglicht. Da die gesamte Stadt durch ein Überwachungssystem ununterbrochen beobachtet wird, findet Marcus schnell eine Schwachstelle: Wenn zu viele Fehlalarme, ausgelöst durch ungewöhnliche Bewegungsprofile, gegeben werden, bricht das System zusammen. Und so veröffentlicht er im Xnet eine Anleitung, wie man solche Fehlalarme provozieren kann (nämlich durch auslesen und verändern der FasTrack-Karten – einer Art „automatischer Stadt-Maut-Karte“).
Als der Kollaps kurz bevor steht, begreift das DHS die Sabotage und versucht gegen das Xnet vorzugehen, die jetzt auch als Terroristen angesehen werden. Das Xnet wird von DHS-Agenten infiltriert und ebenfalls überwacht, wodurch Marcus gezwungen wird das Medium zu wechseln und gründet ein Web-Of-Trust.
Marcus hat nur mehr eine Wahl: Er muss seine Geschichte veröffentlichen. Nach einem ersten gescheiterten Versuch, bei dem seine Aussagen nach belieben der jeweiligen Zeitung (sehr zu seinem Nachteil) interpretiert werden, bittet er Barbara Stratford, eine Reporterin, die Wahrheit zu veröffentlichen.
Mit Barbara Stratfords Hilfe schafft es Marcus schlussendlich die Stadt von dem DHS und seinen Freund Darryl aus der Gefangenschaft des DHS zu befreien. (Wikipedia)

Christian Wöhrl wollte nicht darauf warten, ob und wann Cory Doctorows Little Brother in einer deutschen Übersetzung auf den Markt kommt. Er ist zwar nicht der Meinung, dass Deutschland im Jahr 2008 ein totalitärer Staat ist,  findet die Einschätzungen von Bürgerrechtsaktivisten über einen schleichenden Umbau in einen Überwachungsstaat nicht abwegig.  Little Brother ist nicht nur ein spannender Entwicklungsroman über und für junge Erwachsene, sondern auch ein Plädoyer für angemessenen zivilen Ungehorsam und gegen undifferenzierte Terror-Hysterie. Im Sommer/Herbst 2008 hat Christian Wöhrl die tägliche U-Bahn-Pendelei dazu genutzt die Geschichte ins Deutsche zu „remixen“. Das vorliegende Ergebnis ist  inhaltlich kein „Mix“, sondern eine vorlagengetreue Übersetzung. Das Dokument versteht sich durchaus nicht als Endprodukt, sondern als „Work in Progress“. Sachliche Fehler werden laut Christian Wöhrl gerne entgegengenommen und in gegebenenfalls kommenden Versionen aktualisiert.

Little Brother, Doctorows erster Roman für Jugendliche, liest sich auch als Weckruf: für alle, die glauben, nichts zu verbergen zu haben, und für unbedachte Eigendatenschleudern in sozialen Netzwerken. Mehr als das: Er liest sich als Handlungsanleitung. Und seine Leser handeln, oft zur Begeisterung des Autors, unter einer Creative-Commons-Lizenz, die das Buch im Internet frei zugänglich macht und zu seiner Bearbeitung einlädt: In einer Wiki-Version des Buches können Fans Kommentare absetzen. In der Google Group „Watching Back†œ tauschen sich Jugendliche über Freiheit in der elektronischen Welt aus – ganz im Sinne des „Little Brother†œ, der dem Blick des Orwellschen „Big Brother†œ standhält. Eine Website erklärt die im Buch angeführten Tricks, Überwachung zu erkennen und zu verhindern, Programmierer wollen ParanoidLinux Wirklichkeit werden lassen, es gibt zahllose nichtkommerzielle Übersetzungen, allein in vier burmesische Sprachen“, schreibt die FAZ in einem Artikel vom 02.03.2010 unter dem Titel Amerikas Staatsfeinde 1 bis 4.

Little Brother erschien am 01.03.2010 in einer Übersetzung von Uwe-Michael Gutzschhahn im Rowohlt Verlag. Die 489 Seiten umfassende broschierte Taschenbuchausgabe wird Jugendlichen zwischen 14 und 15 Jahren empfohlen und ist für 14,95 Euro im Handel erhältlich.

Wer die Übersetzung von Christian Wöhrl als HTML-Dokument lesen möchte, findet die 23 Kapitel hier.