Januar 2013: Der zerissene April von Ismail Kadare

Am 26. Januar 2013 besprechen wir im Lesekreis „Der zerrissene April“ von Ismail Kadare. Ismail Kadares im Jahr 1980 erschienener Roman führt uns ins albanische Hochland und konfrontiert uns mit dem Kanun, ein aus dem Mittelalter stammendes, möglicherweise sogar vorrömisches Gewohnheitsrecht, das bis heute angewendet wird. Der Kanun regelt das Schuldrecht, Ehe- und Erbrecht, Strafrecht sowie Kirchen-, Landwirtschafts-, Fischerei- und Jagdrecht.

Der zerrissene April“ behandelt die im Kanun geregelte Blutrache infolge einer lang zurückliegenden Ehrverletzung einer albanischen Familie. Nur durch Tötungen von Familiemitgliedern der verfeindeten Parteien kann diese Verletzung der Ehre gerächt werden. Sie stellt die Ultima Ratio der Konfliktbewältigung innerhalb der Fehde dar.

Wir treffen uns zur Besprechung um 21 Uhr bei Eli und Ibrahim.

Kurzbeschreibung
Der zerrissene April handelt von der albanischen Blutrache, einer Geißel der Menschen Albaniens, die auch heute noch gemäß dem jahrhundertealten Gesetz handeln müssen, wollen sie der Ehre nicht verlustig gehen: Der Kanun besagt, daß vergossenes Blut nur mit zu vergießendem Blut gesühnt werden kann.

Seit 70 Jahren geht die Fehde zwischen zwei Familien aus demselben Dorf. 44 Opfer sind zu beklagen. Die beiden Familien sind gleichermaßen Opfer wie Täter, die nicht etwa Haß, sondern der Kanun in seinen starren Mechanismus zwingt. Kadare skelettiert minutiös dieses tödliche Gesetz und absurd mag erscheinen, wie dem Todgeweihten, einem Bauernjungen, eine letzte Frist gewährt wird, genau 30 Tage, bis auch er sein Ende finden wird. Noch wenige Tage bleiben ihm, der Monat April.

Der Junge begegnet während dieser Frist einer Städterin, einer jungen schönen Frau, und während er, der unglückliche Todesbote, für sie zu einem Zeichen der Vergänglichkeit ihres behüteten urbanen Daseins wird, wird sie für ihn zum Inbegriff des Lebens.

Über den Autor
Ismail Kadare, geboren 1936 in der südalbanischen Stadt Gjirokastra, lebte bis 1990 in Tirana; heute lebt er abwechselnd in Tirana und Paris. Für sein Werk hat er zahlreiche Preise erhalten, zuletzt den Man Booker International Prize (2005) und den Prinz-von-Asturien-Preis (2009). Seine Romane sind bis heute in mehr als dreißig Sprachen übersetzt worden.

November 2012: Ungeschliffener Diamant von Alice Pung

Am 24. November 2012 besprechen wir im Lesekreis „Ungeschliffener Diamant von Alice Pung„. Der Debütroman der 31-jährigen australischen Autorin setzte sich in der Abstimmung gegen „Der zerrissene April von Ismail Kadare“ und „Alte Liebe von Elke Heidenreich“ durch.

Wir treffen uns zur üblichen Zeit bei Ellen und Jürgen.

Kurzbeschreibung
Alice kommt als Tochter chinesisch-kambodschanischer Einwanderer kurz nach deren Ankunft in Melbourne zur Welt und wächst dort zwischen zwei Kulturen auf, wie sie gegensätzlicher nicht sein könnten: hier die strenge Tradition der chinesischen Enklave, Hausgötter, Aberglauben und Alltagszeremonien, dort die Freiheit des westlichen Wunderlands, in dem alles möglich scheint. Schon bald kommt ihr die Welt der Eltern exotischer vor als die neue Heimat, wo der Vater einen Elektrohandel betreibt und sich in Arbeit stürzt, während die Mutter Goldschmuck fertigt und an der neuen Sprache scheitert. Irgendwann gehen Alice die Worte aus, um sich mit ihrer Mutter zu verständigen. Mal ernst und verzweifelt, dann wieder leichtfüßig ironisch entfaltet dieses erzählerische Juwel seinen unwiderstehlichen Charme.

Über die Autorin
Alice Pung, geb. 1981, lebt als Anwältin und Schriftstellerin in Melbourne, engagiert sich an Schulen und hält zahlreiche Vorträge an Universitäten in aller Welt. Ungeschliffener Diamant ist ihr erster Roman, er erschien 2006, stand auf zahlreichen Shortlists und wurde 2007 als bestes australisches Debüt ausgezeichnet.

Rezension

September 2012: Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche von Alina Bronsky

Am 29. September 2012 besprechen wir im Lesekreis Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche der 34-jährigen Autorin Alina Bronsky. In der Abstimmung setzte sich der Roman gegen Tea Obrehts Debütroman Die Tigerfrau durch.

Alina Bronsky, geb. 1978 in Jekaterinburg/Russland, verbrachte ihre Kindheit auf der asiatischen Seite des Ural-Gebirges und ihre Jugend in Marburg und Darmstadt. Nach abgebrochenem Medizinstudium arbeitete sie als Texterin in einer Werbeagentur und als Redakteurin bei einer Tageszeitung. Ihr Debütroman Scherbenpark  war zum Deutschen Jugendliteraturpreis 2009 sowie für den Aspekte-Literaturpreis nominiert. Ihr zweites Werk, Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche, stand auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2010. Die 34-jährige Autorin lebt in Frankfurt.

Wir treffen uns zur üblichen Zeit bei Gina und Tobi.

Kurzbeschreibung
Jenseits des Urals herrscht das heimliche Matriarchat und die schöne Tatarin Rosalinda fühlt sich viel zu jung, um Großmutter zu werden. Doch der Abtreibungsversuch an der Tochter Sulfia misslingt und Aminat wird geboren. Zum ersten Mal steht die despotische Rosalinda einem Geschöpf gegenüber, das sie mit Haut und Haaren liebt. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion führt Rosalindas Überlebenswille die drei unzertrennlichen Frauen nach Deutschland. Da ist die Tatarin längst die leidenschaftlichste Großmutter aller Zeiten und der Leser Zeuge haarsträubender Ereignisse und komischer Szenen.Ein Roman über das Aufwachsen eines Mädchens, das zwischen glückloser Mutter und selbstverliebter Großmutter zerrieben wird, über ein Leben zwischen drei Kulturen, über drei Jahrzehnte voller Schicksalsschläge und überraschender Wendungen, über die vergessenen Geheimnisse der tatarischen Küche mit einer Heldin, die auch als Putzfrau in Deutschland alle Fäden in der Hand hält.
Alina Bronsky lässt das Muttermonster munter aus der Schule der Diktatoren plaudern – grausam und ulkig.“ (Stern)
Ihr rasanter Stil ist zwingend, die Geschichte unterhaltsam und fesselnd, die Sprache witzig und böse.“ (NDR)

August 2012: Medicine River von Thomas King

In den nächsten vier Wochen wandeln wir im Münchner Lesekreis auf den Spuren der kanadischen Schwarzfußindianer und begeben uns mit dem Fotografen Will in seine Heimatstadt Medicine River.

Medicine River lautet der Titel des im Jahr 2008 im A1 Verlag erschienenen Romans von Thomas King. Der in Kanada lebende indianische Autor ist teils Cherokee, teils griechischer und deutscher Abstammung. In Medicine River porträtiert Thomas King mit Humor und voller subtiler Wahrheiten das Leben in einer Kleinstadt nahe einem Blackfoot-Reservat im Westen Kanadas. Das Buch erhielt mehrere Auszeichnungen und stand auf der Shortlist des Commonwealth Writers‘ Prize.

Wir treffen uns zur Besprechung am 4. August 2012 um 21 Uhr bei Tine und Markus.

Kurzbeschreibung
Will, ein Fotograf aus Toronto, kehrt in seine Heimatstadt Medicine River zurück, um an der Beerdigung seiner Mutter teilzunehmen. Eigentlich soll es nur ein kurzer Aufenthalt werden, doch Will hat die Rechnung ohne seinen Freund Harlen Bigbear gemacht.
Harlen, ständig darum bemüht, das Leben von Nachbarn und Freunde zu regeln, versucht ihn von der Idee zu überzeugen, ganz nach Medicine River zurückzukehren und als einziger Native-Fotograf ein Studio zu eröffnen. Will aber fühlt sich von seinen Wurzeln, der Familie und den Freunden entfremdet. Doch Harlen findet auf alles eine Antwort, und schon bald spielt Will im örtlichen All-Native-Basketball-Team und lernt die schwangere, unverheiratete Louise Heavyman kennen …
Jenseits von Ethno-Romantik oder aufgesetzter Sozialkritik schreibt King mit einer guten Dosis Humor über das Alltagsleben der Native Americans im Nordamerika von heute, über gebrochene Biographien, menschliche Schwächen, Freundschaft, Liebe und Tod.
Bei seinen grandiosen Dialogen und Wendungen, die er beherrscht wie kaum ein anderer, ist es nahezu unvermeidlich, dass man beim Lesen zuweilen laut auflachen muss.

Über den Autor
Thomas King, 1943 als Sohn eines Cherokee und einer Griechin geboren, wuchs in Kalifornien auf und studierte englische Literatur an der Universität von Utah. Heute lebt er in Kanada und lehrt an der Universität von Guelph. Er ist Autor von Romanen, Kurzgeschichten, Drehbüchern und Kinderbüchern, arbeitet als Fotograf und hat für den kanadischen Rundfunk eine äußerst erfolgreiche Comedy-Sendung entwickelt.Cornelia Panzacchi, geb. 1959, ist promovierte Ethnologin und Romanistin. Sie betrieb Feldforschung in Westafrika und ist Übersetzerin italienischer, französischer, englischer und afrikanischer Literatur.

Juni 2012: Fegefeuer von Sofi Oksanen

Am 23. Juni 2012 besprechen wir im Lesekreis „Fegefeuer“ von Sofi Oksanen. Der Roman setzte sich in der Abstimmung gegen den Klassiker „Das Herz der Finsternis“ von Joseph Conrad durch. Wir treffen uns zu üblichen Zeit bei Hanne.

Fegefeuer (Originaltitel: Puhdistus, erschienen 2008) ist der dritte Roman der finnisch-estnischen Autorin Sofi Oksanen. Basierend auf dem gleichnamigen Theaterstück (Uraufführung in Helsinki 2007), spielt der Roman 1992 in einem Dorf West-Estlands und schildert die außergewöhnliche Begegnung zweier Frauen, durch die nach und nach die leidvolle Geschichte ihrer Familie †“ verwoben mit der des ganzen Landes †“ offengelegt wird.

Das Cover der deutschsprachigen Ausgabe zeigt eine Fliege †“ überlebensgroß, ganz so, wie sie der Protagonistin und dem Leser in den allerersten Sätzen des Romans entgegentritt (Aliide Truu starrte die Fliege an, und die Fliege starrte zurück. Ihre Augen standen hervor, und Aliide wurde übel). Neben der titelgebenden ist die Fliege die wichtigste Metapher des Romans, die leitmotivisch in fast jedem Gegenwartskapitel auftaucht und die im fünften Teil, den fiktiven Geheimdokumenten, durch einen wichtigen Aspekt ergänzt wird.

Der Roman ist sinnlich und von starker Suggestivkraft. Die Intensität des Textes rührt zum einen aus der Verwendung der personalen Perspektive, zum anderen aus der sprachlichen Dichte und Präzision, mit der die Autorin äußere und innere Vorgänge beschreibt.

Leseprobe
„Sie riss die Tür auf und trat auf die Schwelle. Ringsum lag Stille wie Dämmerung. Die Nacht wurde dichter. Zara machte ein paar Schritte und blieb im gelben Licht der Hoflampe stehen. Die Grillen zirpten, die Hunde des Nachbarn schlugen an. Es duftete nach Herbst. Die weißen Stämme der Birken schimmerten im Halbdunkel. Die Tore waren geschlossen, die friedlichen Felder ruhten in den Drahtaugen des Maschendrahtzauns. Sie sog die Luft so tief ein, dass ihr die Lunge schmerzte. Sie hatte sich geirrt. Vor Erleichterung knickten ihr die Knie weg, und sie plumpste auf die Schwelle. Kein Pascha, kein Lawrenti, kein schwarzes Auto. […] Sie schob die Tür weiter auf und sah das Mädchen auf der Treppe, kehrte in die Küche zurück und ließ das Mädchen ein. Erleichterung flatterte ins Zimmer. Der Rücken des Mädchens hatte sich aufgerichtet, und die Ohren hatten sich zurechtgerückt. Sie atmete ruhig und in tiefen Zügen. Warum war das Mädchen so lange draußen gewesen, wenn der Mann gar nicht da gewesen war? Das Mädchen wiederholte, draußen sei niemand. Aliide schenkte dem Mädchen eine Tasse frischen Muckefuck ein und begann gleichzeitig, über die Beschaffenheit von Tee zu plaudern, sie beschloss, die Gedanken des Mädchens so weit von Steinen und Fenstern abzulenken wie möglich.“

Kurzbeschreibung
Wer Äußerstes erlebt hat, ist auch zum Äußersten bereit…

Wer Äußerstes erlebt hat, ist auch zum Äußersten bereit †“ das zeigt dieser vielfach ausgezeichnete und hoch spannende Roman über zwei Frauen, die sich wie zufällig begegnen und die doch eine gemeinsame Geschichte und vergleichbare Erfahrungen verbinden: Egal welches politische System auch herrscht, Opfer sind immer die Frauen.

Sofi Oksanen © Teemu Rajala

Über die Autorin
Sofi Oksanen, geboren 1977, studierte Dramaturgie an der Theaterakademie von Helsinki. Mit ihrem dritten Roman „Fegefeuer“ gelang ihr der literarische Durchbruch: Der Roman stand monatelang auf Platz eins der finnischen Bestsellerliste, wurde in 38 Länder verkauft und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Finladia-Preis, dem Nordischen Literaturpreis und dem Europäischen Buchpreis.

Die Autorin ist mit Estland durch Verwandtschaft und persönliche Erfahrungen vertraut. In Finnland geboren und aufgewachsen, ist sie die Tochter eines Finnen und einer Estin. Deren Heimat hat sie durch Besuche bei ihrer Großmutter schon zu einer Zeit kennengelernt, als Estland noch Teil der Sowjetunion war.

Bei einer Präsentation ihres Buches in Deutschland berichtete sie von ihren Erinnerungen an die Schikanen vor der Einreise einerseits; zum anderen auch an endlose Wochen auf dem Hof der Großmutter. Das Muster des Tischtuchs, das Gesumme der Fliegen. Das Abschöpfen des Schaums beim Einwecken, die brodelnde Seife, der Bottich für das Waschen der Hände. Im Schrank die Gläser mit Tomaten und Pilzen, auf dem Boden die Kräuter, ausgebreitet zum Trocknen.

Sofi Oksanens frühzeitige Vertrautheit mit dieser Lebenswelt, ihre intime Kenntnis von Land und Leuten sind in den Roman eingeflossen, machen ihn authentisch und sind Teil der Wirkung und des Erfolgs.

Quelle: Wikipedia
Quelle Foto: Wikipedia © Teemu Rajala