Rezension: Kalteis von Andrea Maria Schenkel

Nachdem wir hier so viel über Andrea Maria Schenkel, Tannöd und Kalteis berichtet haben, ist eine Buchbesprechung über ihre Neuveröffentlichung Kalteis längst überfällig. Hannes Hintermeier trifft meiner Meinung nach mit seiner Rezension den Nagel auf den Kopf.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.08.2007

Dem Traum folgt kein Erwachen mehr

Nach ihrem Überraschungsbestseller „Tannöd“ spürt Andrea Maria Schenkel in „Kalteis“ einem neuen historischen Kriminalfall nach. Im München des Jahres 1938 geht ein Frauenmörder um. Der Nachfolgeroman beweist, dass die Autorin einen eigenen Ton gefunden hat.

Von Hannes Hintermeier

Nicht glauben konnte sie es, dass sie mit ihrem Debüt einen solchen Bestseller landen würde – so müsste man wohl schreiben, wenn man in der typischen Diktion Andrea Maria Schenkels über den großen Erfolg des Romans „Tannöd“ sinnieren wollte. Denn die Autorin ist als Kehlmann-Verdrängerin in die jüngste Literaturgeschichte eingegangen, „Tannöd“ hat „Die Vermessung der Welt“ vom Platz eins der „Spiegel“-Bestsellerliste geschoben. Zwanzig Monate nach Erscheinen ihres Romans, sieben Monate nach der Stürmung der Bestenlisten, zwei Preise und zweihunderttausend verkaufte Exemplare später macht sie sich jetzt mit einem zweiten Roman selbst Konkurrenz: „Kalteis“, wiederum ein schlankes Buch, wieder bei der Edition Nautilus. Wieder ein historischer Kriminalfall, aber hoffentlich weniger geeignet, mit den Umständen seiner Recherche ins Zwielicht zu geraten, wie dies bei „Tannöd“ der Fall war (F.A.Z. vom 2. Juni).

Sein Stoff ist ein Frauenmörder, der im Spätsommer 1938 in München umging: Mit dem Fahrrad streifte er umher, auf der Suche nach schönen jungen Frauen mit üppigen Hinterteilen. Immer bestialischer wurden seine Verbrechen, zum Schluss verstümmelte er seine Opfer bei lebendigem Leib. Johann Eichhorn machte Schlagzeilen; 1939 wurde er wegen vielfacher Vergewaltigung und Mord in einem Schnellverfahren verurteilt und hingerichtet. Es lag wohl in der Familie: Schon Eichhorns Großvater wurde als Frauenmörder verurteilt, kam allerdings mit Zuchthaus davon.

Bei Andrea Maria Schenkel heißt dieser Frauenmörder Josef Kalteis, und die Natur überkommt ihn wie den Woyzeck Büchners. Seine noch junge Ehe ist schon erloschen, er hat begonnen, seine Frau zu schlagen, die Kinder interessieren ihn nicht. Es fängt mit Übergriffen an, mit Grabschen. Dann würgt er seine Opfer, vergewaltigt sie, schließlich bleibt ihm dabei die erste „unter der Hand“: Das heizt ihn weiter an, er wird zum Serienmörder.

Dies ist nun freilich ein Genre, dessen Varianten vollkommen ausgeschöpft sein dürften, bedenkt man die Romanflut angelsächsischer Provenienz, die seit gut fünfzehn Jahren den deutschen Markt überschwemmt. Schenkels Ansatz könnte nicht gegensätzlicher sein: Der Mörder interessiert sie nur am Rande, die Handlung auf einen Höhepunkt hinzutreiben auch nicht. Stattdessen komponiert sie – wie in „Tannöd“ – eine Dramaturgie aus diversen erzählerischen Versatzstücken: Verhörprotokolle, Zeugenberichte in der Ich-Form, Erzählungen aus der Perspektive der Opfer und ihrer Angehörigen, mal im historischen Präsens, dann wieder im Imperfekt, nicht immer in der Zeitenfolge stimmig.

Krimi- oder Heimatliteratur?

Es regiert die Parataxe, die Satzordnung ist derjenigen der Umgangssprache angepasst. Die Figuren sprechen „restricted code“ – wie es früher im Germanistikstudium hieß, das Andrea Maria Schenkel nicht absolvieren durfte, weil das ihrer Mutter nicht geheuer war. So kam sie zur Post und konnte ihre literarischen Ambitionen erst mit Anfang vierzig, als Hausfrau und Mutter dreier Kinder, ausleben. Ihr erzählerisches Verfahren beherrscht sie, sie hat einen eigenen Ton gefunden. Das große Lob, das man dem Debüt entgegenschleuderte, ist aber auch eine Bürde. Will sie denn überhaupt Kriminalliteratur schreiben? Eher nein. Heimatliteratur? Auch nicht.

Aber Trittsicherheit im abgebildeten Milieu wird man verlangen müssen, und hier gibt es im neuen Buch Schwachstellen. München, damals immerhin die fahnengeschmückte „Hauptstadt der Bewegung“, bleibt merkwürdig blass und schematisch. Zwischen Tal und Wiesn, Ickstatt- und Lothringer Straße, Schäftlarn und Milbertshofen wird die Atmosphäre der dörflichen Großstadt mehr behauptet als in Details ausgearbeitet. Auch sprachlich verzichtet die Autorin auf Differenzierung. Die Erzählung bleibt im Hauptton einem sonderbaren Kunstbairisch treu, das zuletzt der Österreicher Wolf Haas künstlerisch weiter vorangetrieben hat. Diese überformte Umgangssprache wird aufgeladen mit Dialekteinsprengseln – etwa mit der gar nicht so geläufigen Nebenform „Tschamster“ (statt „Tschamsterer“ für Liebhaber, Hausfreund) – und mit Stilbrüchen: „Schnürsenkel“, das „große Hallo“, die „verdammte Lüge“, „alle Zeit der Welt“ sind jedenfalls Redewendungen, die nicht ins München des Jahres 1938 passen.

Gerda, Kuni, Herta, Erna, Marlis, Kathie. Junge Frauen vom Land und aus der Stadt, deren Aufbruch ins Leben Kalteis zerstört. Die einen hätten den Aufstieg ins Bürgertum geschafft, die anderen hätten sich nicht halten können, sie landen wie das Landei Kathie in der Gosse. Der immerwährende Traum von der großen Stadt, vom Leben in Freiheit jenseits der vermeintlichen dörflichen Enge, der wird im Fall Kathies ganz schnell zu einem Abrutschen ins Milieu der (Gelegenheits-) Prostitution.

Der Traum ist ausgeträumt, an seine Stelle müssen andere treten, und die führen geradewegs auf die schiefe Bahn des Kitsches. Etwa, wenn sich die Protagonistin ein ums andere Mal „kalt und leer“ fühlt und sich in Tagträumen von Wolken und Fliegen verliert. Bei solchen Hinweisen ahnt man schon: Es geht jetzt gleich dahin mit der Kathie. Ihren Oktoberfest-Ausflug schildert sie so: „Geschaukelt bin ich. Geschaukelt bis hinauf in den Himmel. Noch ein bisschen und ich flieg hinein in die Wolken, wie ein Vogel hab ich gedacht. So leicht war mir. Natürlich weiß ich, dass das nicht geht. Aber wenn einer so hoch schaukelt, dann wird einem ganz leicht, und dann glaubt man wirklich, wenn auch nur für einen ganz kurzen Augenblick, für den Bruchteil einer Sekunde, einen Wimpernschlag, man würde fliegen. So leicht ist einem da ums Herz.“

Es gibt keinen Ermittler, es gibt nur einen Fall. Der handelt von den Opfern, die nun nach siebzig Jahren ein literarisches Begräbnis dem Vergessen entreißt. Wie das arische Parteimitglied Kalteis zur Strecke gebracht wurde, erfahren wir nicht. Es spielt keine Rolle, denn die „geheime Reichssache“ wird schon im Prolog vollstreckt: Der schildert die letzten Stationen vor der Hinrichtung durch das Fallbeil. Wie das Buch ausgeht, ist damit aber noch nicht gesagt.

– Andrea Maria Schenkel: „Kalteis“. Roman. Edition Nautilus, Hamburg 2007. 152 Seiten. 12,90 Euro

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