Ein Zeitalter in einem Satz – von Leo Tolstoi aus Zwei Husaren

Leo TolstoiUm das Jahr 1800, in jenen Zeiten, als es noch keine Eisenbahnen gab, keine Chausseen, keine Gasbeleuchtung, keine Stearinkerzen, keine niedrigen Sofas mit Sprungfedern, keine unlackierten Möbel, keine blasierten Jünglinge mit Monokel, keine freidenkerischen weiblichen Philosophen, keine holden Kameliendamen, an denen unsere Zeit so reich ist – in jenen naiven Zeiten, als man im Reisewagen oder in einer Kutsche von Moskau nach Petersburg reiste und eine Unmasse häuslicher Küchenerzeugnisse mitnahm, volle acht Tage auf weichen, staubigen oder morastigen Landstraßen unterwegs war und auf Koteletts Posharski, waldaische Glöckchen und Kringel schwor, da an langen Herbstabenden die Talglichter herunterbrannten und Familienkreise von zwanzig, dreißig Menschen beleuchteten, als bei Bällen Wachs- und Walratkerzen auf die Armleuchter gesteckt wurden, als man die Möbel symmetrisch aufstellte, als unsere Väter noch jung waren, nicht allein durch das Fehlen von Runzeln und grauen Haaren, und sich um der Frauen Willen schossen und diensteifrig vom anderen Zimmerende herbeistürzten, um zufällig oder nicht zufällig fallengelassene Taschentücher aufzuheben, als unsere Mütter kurze Taillen und gewaltige Ärmel trugen und Familienangelegenheiten durch das Ziehen von Loszettelchen entschieden, als die verführerischen Kameliendamen sich vor dem Tageslicht versteckten – in den naiven Zeiten der Freimaurerlogen, der Martinisten, des Tugendbundes, in den Zeiten von Männern wie Miloradowitsch, Dawydow, Puschkin – fand in der Gouvernementsstadt K. nach Beendigung der Adelswahlen eine Versammlung von Gutsbesitzern statt.
(Erster Satz aus Leo N. Tolstoj, Zwei Husaren)

11 Gedanken zu „Ein Zeitalter in einem Satz – von Leo Tolstoi aus Zwei Husaren

  1. Hallo Anjelka,
    habe den Satz nach einem Punkt, den du vielleicht übersehen haben könntest, abgesucht, aber natürlich nichts, außer einer doppelten Kameliendame, gefunden 🙂 Ein wahrlich monströser erster Satz, vielen Dank dafür! LG

  2. Guten Morgen, dolcevita,

    die doppelten Kameliendamen haben mich auch gewundert, aber ich hab deshalb auch doppelt hingeschaut, und sie stimmten – wenigstens nach meiner Ausgabe.

    Die Anregung zum Satz kam ja genaugenommen von dem immer wieder verdienstvollen Don F. 🙂 !

    Einen schönen Tag wünsch ich Dir!
    Anjelka

  3. PS: Allerdings ist in „auf Weichen, staubigen oder morastigen Landstraßen“ das Wort „weichen“ groß geschrieben – ich hab gerade mal geschaut, ob ich das ändern kann, das scheint aber nachträglich nicht mehr möglich zu sein, oder?

  4. Guten Morgen, Anjelka,
    habe deine Weichen, wahrscheinlich warst du in Gedanken noch bei den Eisenbahnen, entsprechend abgeändert. Aber bitte erkläre mir doch die Bedeutung der freidenkerischen weiblichen Philosophen? Ich habe zwar so eine vage Vorstellung, hätte aber gerne eine konkretere Erläuterung. Na ja, und Tolstoi war schon Mitte 60, als er von den Kameliendamen sprach und wir wissen ja, dass das Interesse der Männer an zarten Nymphen im Alter nicht nachlässt 😉
    Wünsche dir auch einen wunderschönen Tag und schicke dir herzliche Grüße

  5. Schöne Idee mit der Spielwiese, und wahrlich ein beeindruckender Satz – wenn ich auch einen kleinen Hinweis auf dessen eigentlichen Entdecker vermisse… 😉

    Und zum Thema Kameliendame: Vielleicht hat Tolstoi ja mal die junge Sarah Bernhardt in der Bühnenfassung von Dumas (d. J.) gesehen, die muss wirklich beeindruckend gewesen sein! Vielleicht erklärt das die doppelte Erwähnung. Während allerdings die Damen in Anjelkas Fassung als „hold“ und „verführerisch“ bezeichnet werden, sind sie in meiner (von der Übersetzung her leicht abweichenden) Ausgabe durchweg „reizend“.

  6. Guten Tag, Don F.,

    🙂 dann lies doch noch mal meinen Kommentar von heute, 8.18 Uhr, Mittelabsatz, hm? Wo werd ich mich denn mit fremden Federn ausschmücken lassen …

  7. @ dolcevita

    Ganz so ist es nicht: die „Zwei Husaren“ erschienen 1856, als Tolstoj erst 28 und sicherlich noch kein alter Mann war. Andererseits war die „Kameliendame“ sicherlich kein Nymphchen, wenn man damit den Gedanken an mädchenhaft-unschuldige Erotik verbindet (falls das kein Widerspruch in sich ist – aber was verbindet man sonst damit?). Immerhin waren sowohl die literarische Figur wie ihr früh verstorbenes Vorbild stadtbekannte Kurtisanen.
    (Hinweis dazu @ Don F.: Sarah Bernhardt spielte die Rolle der Marguerite Gautier meines Wissens erst nach dem Erscheinen der Erzählung.)

    Zu den freidenkerischen Philosphinnen (ich bin natürlich keine Tolstoj-Expertin und weiß daher nur folgendes – und ein bißchen hab ich noch dazugegoogelt):

    Tolstojs Frauenbild war sehr traditionell, aus heutiger Sicht geradezu
    reaktionär. Höchstes Ziel einer idealen Frau und Mutter hatte die opferbereite, stumm duldende Hingabe in den Dienst am Mann und der Familie zu sein, wobei der Mann seinerseits ruhig „die Manieren eines Ascheimers“ pflegen konnte (um nochmals mit Mary Kingsley zu sprechen; bei der Mehrheit der russischen Männer soll sich daran bis heute übrigens gar nicht so viel geändert haben).

    Er hatte also begreiflicherweise nicht viel übrig für die im 19. Jahrhundert auch in Russland auftauchenden Vertreterinnen mehr oder weniger gebildeter Weiblichkeit oder für die Forderungen nach gleichberechtigtem Zugang beider Geschlechter zu allen Bildungseinrichtungen. Die Diskussion darüber scheint in Russland schon zur Entstehungszeit der „Zwei Husaren“ recht intensiv geführt worden zu sein. Und Tolstoj bekam es im gesellschaftlichen Leben unvermeidlich mit Frauen zu tun, die sich mit der traditionellen Frauenrolle, wie er sie ihnen zudachte, nicht bescheiden wollten.

    Entsprechend seinen persönlichen Präferenzen hat er beispielsweise versucht, sich eine benachbarte Gutsbesitzerin zu einer Gattin nach seinem Geschmack zurechtzubiegen, aber vergeblich. Er scheint ihren Mangel an Gefügigkeit zunächst geradewegs als Lebensungerechtigkeit empfunden zu haben, so als sei ihm etwas Selbstverständliches vorenthalten worden.

    Mit Sofia Andrejewna heiratete er dann aber 1862 eine Frau, die seinen Maßstäben gerecht wurde. Hier eine Beschreibung ihrer Rolle in Tolstojs Leben, deren Herkunft leider nicht vermerkt ist; sie klingt aber authentisch:
    Ein Genie muss man verpflegen, waschen, kleiden, seine Werke sind unzählige Male abzuschreiben, man muß es lieben, darf keinen Anlaß zur Eifersucht geben, damit es seine Ruhe hat, man muß die die zahllosen Kinder, die das Genie in die Welt setzt, großfüttern und erziehen, denn das Genie hat ja keine Zeit, es muß mit Epiktet, Sokrates, Buddha und dergleichen Umgang pflegen und danach trachten, ihnen gleichzuwerden.
    (Ich glaube nicht, daß es für Tolstoj einen Unterschied gemacht hätte, ob seine Frau hier von einem „Genie“ oder einem „Mann“ sprach.)

  8. @ Anjelka:
    Da hab ich „Die zwei Husaren“ fälschlicherweise wohl zu spät angesiedelt!

    @ Dolcevita:
    Danke für das nette Angebot, aber ich komme bei meinen eigenen Projekten schon kaum noch nach…

  9. @ Don F.

    Ach so, das hatte ich nun wieder gar nicht bemerkt.

    @ dolcevita

    Kleine Anfügung noch: Dostojewskis Frau war wohl auch so ein Musterbild russischer Frauentugend.

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