Europäische Literatur 2012: Hanna Krall erhält den mit 25.000 Euro dotierten Würth-Preis

Die 76-jährige polnische Autorin und Journalistin Hanna Krall erhält den Würth-Preis für Europäische Literatur 2012.

Die gemeinnützige Stiftung Würth des Unternehmens Adolf Würth GmbH & Co. KG unterstützt die Förderung von Wissenschaft und Forschung sowie von Kunst und Kultur. Mit dem Würth-Preis für Europäische Literatur, der seit 1998 alle zwei Jahre vergeben wird, sollen literarische Bemühungen um die kulturelle Vielfalt Europas gewürdigt werden. Er ist mit 25.000 Euro dotiert.

Die Jury würdigt Hanna Krall für ihre jahrzehntelange literarische Spurensuche nach jüdischem Leben in Polen.

Hanna Krall überlebte als Kind in einem Versteck das Warschauer Ghetto und arbeitete später als Journalistin und Schriftstellerin. Unter anderem schrieb sie für die Solidarnosc-Zeitung „Gazeta Wyborcza„.

Mit ihren Büchern, die auch in deutscher Sprache erschienen sind, gilt sie als Chronistin des Holocaust. Für ihre Werke wurde sie vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Untergrundpreis der Solidarnose, sowie der Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung.

Ihre Bücher sind bislang in 17 Sprachen übersetzt worden. Sie gilt als eine der wichtigsten polnischen Gegenwartsschriftstellerinnen. Zuletzt erschien im Neue Kritik Verlag im Jahr 2007 in deutschsprachiger Übersetzung der Roman „Herzkönig“ von Hanna Krall.

Kurzbeschreibung
„Das ist der letzte Abschnitt meiner Reise, und es wäre dumm, wenn ich jetzt verrückt werden würde.“

Diese nüchterne Feststellung stammt von Izolda Regensberg alias Maria Pawlicka. Seit der Deportation ihres Mannes nach Auschwitz besteht der Sinn ihres Lebens allein darin, ihren Herzkönig zu befreien. Die fieberhaften Bemühungen werden von Absurditäten und Zufällen, von glücklichen und unglücklichen Fügungen begleitet. In Zeiten der Vernichtung wundert sich Izolda über keine Grausamkeit – auch nicht über die eigene.Bis Izolda schließlich im Mai 1945 im Lager Ebensee auf ihren Ehemann trifft, hat sie eine Odyssee von Lagern und Gefängnissen hinter sich. Das Paar kehrt mit „polnischen“ Pässen nach Polen zurück. Jahre später fliegt die geborgte Identität auf, und die beiden erhalten jüdische Pässe, die sie zur Ausreise nach Wien zwingen.

Izolda, die hervorragende Spezialistin im Überleben, muss erkennen, dass sie das Leben nach dem Überleben nicht in den Griff bekommt. Sie empfindet zunehmend Fremdheit gegenüber der Welt, deren Fixpunkt ihr verloren gegangen ist. Sie zieht zu den Töchtern nach Israel. Umgeben von alltäglichen politischen Ausnahmezuständen und unverständlichen Wortfetzen lebt sie in ihrer Erinnerung noch im Zweiten Weltkrieg.

Herzkönig“ handelt vom Schicksal polnischer Juden – jener, die durch den Holocaust umkamen, und jener, die ihn mit Verletzungen unterschiedlichster Art überlebten. Erschütternde historische Situationen korrespondieren mit persönlichen Katastrophen. Und für jede findet die Autorin knappe Sätze, die beim Leser einen tiefen Schrecken hinterlassen. So einfach und zugleich poetisch schreibt nur Hanna Krall.

Quelle Foto: Wikipedia – Urheber: Mariusz Kubik

Autorinnen der Südhalbkugel: LiBeraturpreis 2011 geht an Nathalie Abi-Ezzi

Nathalie Abi-Ezzi erhält LiBeraturpreis 2011

Seit 1987 vergibt das Ökumenische Zentrum Christuskirche in Frankfurt am Main den LiBeraturpreis an Autorinnen aus Afrika, Asien und Lateinamerika. Der LiBeraturpreis wird ausschließlich an Frauen verliehen, da es Autorinnen vielen Ländern der Südhalbkugel unserer Erde noch schwerer als ihre männlichen Kollegen haben. Verbunden mit einem symbolischen Preisgeld in Höhe von 500 Euro ist die Einladung zur Frankfurter Buchmesse.

In diesem Jahr erhält die 1972 in Libanon geborene Autorin Nathalie Abi-Ezzi für ihren im Januar 2010 im Rowohlt Verlag erschienenen Roman „Rubas Geheimnis“ die Literaturauszeichnung. Die Jury wählte den Siegertitel aus einer von Lesern getroffenen Auswahlliste. Neben Nathalie Abi-Ezzi sind die Autorinnen Carla Guelfenbein (Chile) „Der Rest ist Schweigen„, Norma Huidobro (Argentinien) „Der verlorene Ort„, Betina González (Argentinien) „Nach allen Regeln der Kunst“ und Luisa Valenzuela (Argentinien) „Morgen“ auf der Shortlist nominiert.

Die Jury lobte Abi-Ezzis Darstellung des Libanonkriegs im Jahr 1982 aus der Sicht eines achtjährigen Mädchens. Ohne in religiöses Lagerdenken zu verfallen, zeichne das Buch ein Bild des „normalen“ Lebens inmitten einer vom Krieg gezeichneten Umgebung. Dabei behalte Abi-Ezzi stets die Sicht des Kindes bei, das im Alltag Glück und Zuwendung erfährt, die komplexen politischen Zusammenhänge allerdings nicht verstehen kann.

Die Handlung gipfelt in einer hoch dramatischen, aber dennoch glaubwürdig aus Kindesperspektive geschilderten Beschreibung des verheerenden und zerstörerischen Granathagels am Ende des Krieges. Und gerade in diesem Moment ist Glück und Zukunft im Mikrokosmos der Protagonisten möglich.

Nathalie Abi-Ezzi gelinge es in beeindruckender Weise, eine in der Berichterstattung oft übersehene Seite von kriegerischen Konflikten tief ins Bewusstsein ihrer Leserschaft zu rücken †“ dass und wie der Krieg Alltag für viele Menschen ist.

Über die Autorin
Nathalie Abi-Ezzi, 1972 im Libanon geboren, kam als 11-jährige nach Großbritannien. Sie hat zahlreiche Kurzgeschichten veröffentlicht. „Rubas Geheimnis„, ihr erster Roman, erschien 2008 auf Englisch und wurde für den Author†™s Club First Novel Award nominiert. Die deutsche Übersetzung von Annette Meyer-Prien kam 2010 im Rowohlt Verlag heraus.

Kurzbeschreibung
Das Mädchen und der Krieg †“ ein so berührender wie lebendiger Familienroman zum Dauerkonflikt im Nahen Osten „Nichts würde Vater jetzt aufwecken: kein Ruf, kein Schrei und ganz bestimmt nicht die Berührung eines Fingers. Er schlief inmitten dieser träge dahindösenden Luft, ein König auf seinem Thron, umgeben von Sprenkeln aus Sonnengold. Selbst der Raum schlief, abgeschlossen und zum Schweigen gebracht. Meine Finger bewegten sich in der Stille auf ihn zu. Und plötzlich war es ganz klar, dass ich das Mal auf seiner Stirn fortwischen und ihn befreien würde; ihn wieder zu dem Menschen erwecken würde, der er früher gewesen war. Er würde sich rühren und seine Augen reiben, ein paarmal zwinkern, und dann würde er aufstehen und lächeln.“
„Ein berührender Roman.“ The Financial Times

Der LiBeraturpreis wird am 9. Oktober 2011 um 16 Uhr in der Christuskirche in Frankfurt am Main verliehen. Die Autorin liest am 11. Oktober im Literaturhaus Frankfurt aus ihrem Roman.

Quelle: Börsenblatt

Jan Assmann mit dem Thomas-Mann-Preis 2011 ausgezeichnet

Seit 2010 wird der mit 25.000 Euro dotierte Thomas-Mann-Preis gemeinsam durch die Hansestadt Lübeck und die Bayerische Akademie der Schönen Künste jährlich verliehen. Der Preis wird für das Lebenswerk einer Autorin / eines Autors oder für herausragende Verdienste auf dem Gebiet der literarischen Vermittlung vergeben.

Die siebenköpfige Preisjury, unter dem Vorsitz des Göttinger Literaturwissenschaftlers Heinrich Detering, hat in diesem Jahr den 73-jährigen deutschen Ägyptologen, Religions- und Kulturwissenschaftler Jan Assmann mit dem Thomas-Mann-Preis ausgezeichnet.

Die Jurybegründung

Jan Assmann hat aus Fachdiskussionen der Ägyptologie heraus Einsichten gewonnen und Modelle entworfen, die ihn zu einem der international meist diskutierten deutschen Kulturwissenschaftler gemacht haben.

Bücher wie „Das kulturelle Gedächtnis„, „Religion und kulturelles Gedächtnis: Zehn Studien“ oder „Ma’at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten“ verbinden souverän religionsgeschichtliche und anthropologische, literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven zu Darstellungen, die nicht nur Experten, sondern auch eine breite Leserschaft zu erreichen vermochten. Sie tun das in einer Wissenschaftsprosa von schlackenloser Eleganz, die ohne Jargon und Imponiergehabe auskommt und gerade so den literarischen Glanz großer Essayistik gewinnt.

Damit gelingt Jan Assmann etwas, das auf seine Weise Thomas Mann in den Josephs-Romanen erreicht hat: aus der geschichtlichen und kulturellen Ferne heraus neue Zugänge zu Grundfragen der menschlichen Existenz zu erschließen. So ist es nicht verwunderlich, dass Jan Assmann sich in Thomas Mann und Ägypten vor kurzem auch eine der wichtigsten Studien zu eben diesem Hauptwerk vorgelegt hat. Im Geiste Thomas Manns, des Romanciers und des Essayisten, ist sein gesamtes Werk geschrieben.“

Die Verleihung findet am Sonntag, dem 4. Dezember 2011, um 11 Uhr im Max-Joseph-Saal der Münchner Residenz statt und wird durch die Friedrich-Baur-Stiftung ermöglicht. Die Laudatio hält der Politikwissenschaftler und ehemalige bayerische Kultusminister Hans Maier

Quelle: Bayerische Akademie der Schönen Künste

Ingeborg-Bachmann-Preis 2011 geht an Maja Haderlap

Die österreichische Autorin Maja Haderlap hat den Ingeborg-Bachmann-Preis 2011 gewonnen. Sie setzte sich mit ihrem ruhigen, poetischen Text Im Kessel – einem Auszug aus ihrem Romandebüt „Engel des Vergessens“ in Klagenfurt gegen 13 weitere Nachwuchsautorinnen- und autoren aus Deutschland, Österreich und der Schweiz durch.  Maja Haderlap erhält ein Preisgeld von 25.000 Euro.

Die 1961 geborene und in Klagenfurt lebende Autorin beleuchtet in ihrer Dorf- und Familiengeschichte den Widerstand der Kärntner Slowenen gegen die deutsche Wehrmacht. Haderlap habe der Geschichte der Kärntner Partisanen eine Stimme gegeben, begründete Jurorin Daniela Strigl, die sie für den Wettbewerb vorgeschlagen hatte, ihre Wahl. „Sie beschreibt es bedächtig, mit großer Genauigkeit und ohne Hass„, sagte Strigl.

Kurzbeschreibung „Engel des Vergessens“
Ein großes Romandebüt, das von einem Leben in der Mitte Europas erzählt; mit kraftvoller Poesie; Geschichten, die uns im Innersten betreffen.Maja Haderlap gelingt etwas, das man gemeinhin heutzutage für gar nicht mehr möglich hält: Sie erzählt die Geschichte eines Mädchens, einer Familie und zugleich die Geschichte eines Volkes. Erinnert wird eine Kindheit in den Kärntner Bergen. Überaus sinnlich beschwört die Autorin die Gerüche des Sommers herauf, die Kochkünste der Großmutter, die Streitigkeiten der Eltern und die Eigenarten der Nachbarn.

Erzählt wird von dem täglichen Versuch eines heranwachsenden Mädchens, ihre Familie und die Menschen in ihrer Umgebung zu verstehen. Zwar ist der Krieg vorbei, aber in den Köpfen der slowenischen Minderheit, zu der die Familie gehört, ist er noch allgegenwärtig. In den Wald zu gehen hieß eben „nicht nur Bäume zu fällen, zu jagen oder Pilze zu sammeln“. Es hieß, sich zu verstecken, zu flüchten, sich den Partisanen anzuschließen und Widerstand zu leisten. Wem die Flucht nicht gelang, dem drohten Verhaftung, Tod, Konzentrationslager. Die Erinnerungen daran gehören für die Menschen so selbstverständlich zum Leben wie Gott. Erst nach und nach lernt das Mädchen, die Bruchstücke und Überreste der Vergangenheit in einen Zusammenhang zu bringen und aus der Selbstverständlichkeit zu reißen und schließlich als (kritische) junge Frau eine Sprache dafür zu finden.

Eindringlich, poetisch, mit einer bezaubernden Unmittelbarkeit. Maja Haderlap hat eine gewaltige Geschichte geschrieben… Die Großmutter wie noch keine, der arme bittere Vater wie noch keiner, die Toten wie noch nie, ein Kind wie noch keines. (Peter Handke)

Die österreichisch-slowenische Vergangenheit ist nach Angaben Strigls zwar historisch, aber bisher kaum literarisch aufgearbeitet worden. Haderlap sei ein „Glücksfall, bei dem der Stoff zur Gestaltung gedrängt hätte.

„Das sind Geschichten, die mich mein ganzes Leben begleitet haben“, sagte die Gewinnerin, die auf Deutsch und Slowenisch schreibt, in einer ersten Reaktion. Sie sei damit aufgewachsen.

Über die Autorin
Maja Haderlap, geb. 1961 in Eisenkappel/Zelezna Kapla (Österreich), studierte Theaterwissenschaft und Germanistik an der Universität Wien. Sie war von 1992 bis 2007 Chefdramaturgin am Stadttheater Klagenfurt und unterrichtet regelmäßig am Institut für Angewandte Kulturwissenschaft der Alpen-Adria-Universität in Klagenfurt. Seit 2008 lebt Maja Haderlap als freie Schriftstellerin in Klagenfurt. Sie veröffentlichte Gedichtbände auf Slowenisch und Deutsch sowie Übersetzungen aus dem Slowenischen. „Engel des Vergessens“ ist ihr Romandebüt.

Mit dem Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb, der seit 1977 in Klagenfurt stattfindet und mit der Vergabe des Ingeborg-Bachmann-Preises verbunden ist, wird die Erinnerung in die österreichische Dichterin (1926-1973) aufrechterhalten. Bachmann schrieb zahlreiche Erzählungen, Gedichte und Hörspiele. Sie gilt als eine der bedeutendsten deutschsprachigen Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts.

Haderlap setzte sich erst im vierten Wahlgang gegen den Deutschen Steffen Popp durch. Der in Berlin lebende Autor erhielt dann aber für seine Spurensuche in einem thüringischen Dorf den mit 10.000 Euro dotierten Kelag-Preis.

Der mit 7500 Euro dotierte 3sat-Preis ging an die junge deutsche Autorin Nina Bußmann.

Zuschauerliebling war der Berliner Thomas Klupp mit seinem unterhaltsamen Text „9to5 Hardcore“, in dem es um Pornografie und den Universitätsbetrieb geht. Er erhielt den Publikumspreis.

Der mit 7000 Euro dotierte Ernst-Willner-Preis ging an Leif Randt. Dieser Sonderpreis des Klagenfurter Wettbewerbs bietet den Verlagen aus dem deutschen Sprachraum, die ihn gestiftet haben, eine legitime eigene Public-Relations-Plattform.

Quelle: Tagesschau.de

Internationaler Literaturpreis 2011 geht an Michail Schischkin für „Venushaar“

Seit 2009 wird der Internationale Literaturpreis für internationale Erzählliteratur in deutscher Erstübersetzung durch das Haus der Kulturen der Welt und die Stiftung Elementarteilchen ausgeschrieben. In diesem Jahr geht die Literaturauszeichnung an Michail Schischkin und seinen Übersetzer Andreas Tretner. Für „Venushaar“ (Originaltitel Venerin Volos), 2011 erschienen bei der DVA, erhält der Autor 25.000 Euro. Weitere 10.000 Euro gehen an Andreas Tretner für die deutsche Erstübersetzung des Romans aus dem Russischen.

Jurybegründung für den Preisträger / Autor

„Mit Venushaar ist Michail Schischkin ein Roman von stupender Komplexität und betörender Vielfalt gelungen. Als Lotse und zentrale Gestalt figuriert der „Dolmetsch„, ein Alter ego des Autors, der für die schweizerische Einwanderungsbehörde arbeitet. Die Geschichten von Gewalt und Vertreibung, die er aus dem Mund tschetschenischer und anderer Gesuchsteller zu hören bekommt, vermischen sich mit eigenen Erinnerungen an die Moskauer Kindheit und mit der Lektüre von Xenophons Kriegsbericht „Anabasis„.

In kühner Schnitttechnik werden diesem Erzählstrang zwei weitere hinzugefügt: die autobiographische Reminiszenz des „Dolmetsch“ an seine Liebe zu „Isolde“ und die schmerzliche Trennung von ihr sowie das (fiktive) Tagebuch der russischen Sängerin Isabella Jurjewa, das aus persönlicher Sicht ein Jahrhundert russischer Historie mit Revolution, Bürgerkrieg, Stalinzeit wiedergibt.

Die Aufzeichnungen †“ sie hätten dem „Dolmetsch“ als Material für eine Biographie dienen sollen †“ zeichnen sich durch Spontaneität und den Gebrauch der Ich-Form aus, was den Stimmenchor des Romans erweitert und auffrischt. Zu dieser Vielstimmigkeit gehören auch zahlreiche Anspielungen und (verdeckte) Zitate, was sich in verschiedenen Redeweisen, Sprachgesten und Stilvarianten niederschlägt.

Venushaar“ ist ein Roman über private, gesellschaftliche und politische Verwerfungen, er thematisiert Krieg, Flucht, Exil, er feiert aber auch den Zauber der Liebe und der Erinnerung und steht für die Kraft des Wortes, wie schon das Motto suggeriert: „Denn durch das Wort ward die Welt erschaffen, und durch das Wort werden wir einst auferstehen.

Schischkin zeigt sich als Sprachkünstler ersten Ranges: nicht nur hat er eine einzigartige Romanform entwickelt, er spielt mit wechselnden Perspektiven und Einstellungen, mit unterschiedlichsten verbalen Registern und Stillagen, er beherrscht poetische, satirische, elegische und sarkastische Tonarten und brilliert mit überraschenden Details. Man liest eine Chronik der Gewalt und eine Liebesgeschichte, ein Künstlertagebuch und ein Verhörprotokoll und bewegt sich zugleich in einem intertextuellen Gewebe, das diesen Roman – über seine herausragende Qualität hinaus – weltliterarisch verortet.

Jurybegründung für den Preisträger / Übersetzer

Michail Schischkins Roman „Venushaar“ zeichnet sich durch thematische Komplexität und eine grosse Vielfalt von Redeweisen, Sprachgesten und Stilvarianten aus. Zur Sprache kommen tschetschenische Flüchtlinge (als Gesuchsteller bei der schweizerischen Einwanderungsbehörde) und deren Vernehmer, der in assoziativen Erinnerungen sich ergehende „Dolmetsch“ und die 1899 geborene russische Sängerin Isabella Jurjewa, in deren (fiktiven) Tagebuchaufzeichnungen Epochenschilderungen kontrastreich mit palindromischen Wortspielereien abwechseln.Zu diesem Stimmenchor gesellen sich zahlreiche Anspielungen und (verdeckte) Zitate, die ein komplexes intertextuelles Gewebe bilden.

Andreas Tretner ist es auf virtuose Weise gelungen, die Bezüglichkeiten aufzudecken und die unterschiedlichen Sprachregister und †“masken abzubilden. Bibel- und Verhörton, elegische Liebesreminiszenz und Jargon der Gewalt, poetische Introspektion und Xenophonsche Archaik finden eine plastische Wiedergabe. Als besonders anspruchsvoll erwiesen sich die brüsken Stil- und Rhythmuswechsel, die oft einen einzigen Satz polyphon erklingen lassen. Mit wachem Ohr hat Andreas Tretner jede Sprachbewegung subtil nachvollzogen und damit die enorme Detailarbeit, die in diesem allseits überraschenden Roman steckt, optimal zur Geltung gebracht.

Eine meisterliche Übersetzung eines Meisterwerks.

Quelle: Haus der Kulturen der Welt