Preise der Leipziger Buchmesse 2012 für Herrndorf, Viragh und Baberowski

Am 15.März 2012 wurden in der Glashalle des Leipziger Messegeländes die Preise der Leipziger Buchmesse in den Kategorien Belletristik an Wolfgang Herrndorf, Übersetzung an Christina Viragh und Sachbuch/Essayistik an Jörg Baberowski verliehen.

Seit 2005 werden am ersten Buchmessetag die mit jeweils 15.000 Euro dotierten Literaturpreise in den drei Kategorien vergeben. In diesem Jahr reichten 147 Verlage insgesamt 470 Titel ein. Die siebenköpfige Kritikerjury nominierte jeweils fünf Autoren bzw. Übersetzer für die Shortlist. Ausgezeichnet werden herausragende deutschsprachige Neuerscheinungen und Übersetzungen, die bis zur Leipziger Buchmesse 2012 erschienen sind.

Kategorie Belletristik

Wolfgang Herrndorf erhielt in der Kategorie Belletristik den Preis der Leipziger Buchmesse für seinen im November 2011 im Rowohlt Verlag erschienen Roman „Sand„.

Ein furioser Abenteuerroman, ein faszinierend verwirrender Antiagenten-Thriller, der so waghalsig wie gekonnt mit verschiedenen Ebenen jongliert„, lautete die Begründung der Jury. Da Wolfgang Herrndorf aufgrund seiner Krankheit an der Preisverleihung nicht teilnehmen konnte, nahm Robert Koall, ein enger Freund und Dramaturg seiner Stücke sowie Chefdramaturg am Staatstheater Dresden, den Preis in Empfang.

Kurzbeschreibung
„Er aß und trank, bürstete seine Kleider ab, leerte den Sand aus seinen Taschen und überprüfte noch einmal die Innentasche des Blazers. Er wusch sich unter dem Tisch die Hände mit ein wenig Trinkwasser, goß den Rest über seine geplagten Füße und schaute die Straße entlang. Sandfarbene Kinder spielten mit einem sandfarbenen Fußball zwischen sandfarbenen Hütten. Dreck und zerlumpte Gestalten, und ihm fiel ein, wie gefährlich es im Grunde war, eine weiße, blonde, ortsunkundige Frau in einem Auto hierherzubestellen.“ Während in München Palästinenser des „Schwarzen September“ das Olympische Dorf überfallen, geschehen in der Sahara mysteriöse Dinge. In einer Hippie-Kommune werden vier Menschen ermordet, ein Geldkoffer verschwindet, und ein unterbelichteter Kommissar versucht sich an der Aufklärung des Falles. Ein verwirrter Atomspion, eine platinblonde Amerikanerin, ein Mann ohne Gedächtnis †“ Nordafrika 1972. Ein mitreißender Agententhriller †“ und noch viel mehr: ein literarisches Abenteuer, ein außerordentlicher Roman.

Kategorie Übersetzung

Eine Herkulesaufgabe für einen Übersetzer: Christina Viragh hat für Péter Nádas†™ 1700 Seiten umfassenden Roman Parallelgeschichten eine atmosphärisch sehr dichte und genaue, vom Düsteren ins Helle schwingende Sprache gefunden„, begründete die Jury die Wahl der ungarisch-schweizerischen Schriftstellerin und Übersetzerin.

Péter Nádas „Parallelgeschichten“ sind im Februar 2012 im Rowohlt Verlag erschienen. Der Autor hat 18 Jahre daran gearbeitet, Christina Viragh brauchte für die Übersetzung sechs Jahre.

Kurzbeschreibung
Zwanzig Jahre nach seinem international gefeierten Buch der Erinnerung legt Péter Nádas sein Opus maximum vor. Als die Parallelgeschichten 2005 in Ungarn erschienen, wurden sie als ein «Krieg und Frieden des 21. Jahrhunderts» begrüßt. 1989, im Jahr des Mauerfalls, findet der Student Döhring beim Joggen im Berliner Tiergarten eine Leiche. Mit dieser kriminalistischen Szene beginnt der Roman, eröffnet zugleich aber auch die weitgespannte Suche nach dem düsteren Geheimnis einer Familie. Es ist die Geschichte der Budapester Familie Demén und ihrer Freunde, deren persönliche Schicksale mit der ungarischen und deutschen Vergangenheit verknüpft werden. Die historischen Markierungen sind die ungarische Revolution 1956, die nachrevolutionäre Zeit, der ungarische Nationalfeiertag am 15. März 1961 und, rückblickend, die Deportation der ungarischen Juden 1944/45 und die Vorkriegszeit der dreißiger Jahre in Berlin. Der Roman entwirft ein Panorama europäischer Geschichte, in einer überwältigenden Fülle von Geschichten, die keine realistische Konstruktion zu einer Story vereinen könnte. Die eine große Metaerzählung des Romans jedoch bilden die Geschichten der Körper, die für Nádas zum Schauplatz der Ereignisse werden. Der männliche und weibliche Körper und seine Sexualität prägen die Lebenswirklichkeit der Personen, sie sind das «glühende Magma», das «in der Tiefe ihrer Seele oder ihres Geistes ruhende Zündmaterial», das die Parallelgeschichten zur Explosion bringt. Aufgrund seines analytischen Scharfblicks und der Kraft seiner Personengestaltung stellt die internationale Kritik Péter Nádas neben Proust. Wenn dessen großer Roman am Beginn einer literarischen Moderne steht, dann mag diese in den Parallelgeschichten ihre Vollendung finden.

Kategorie Sachbuch/Essayistik

Jörg Baberowski bekam in der Kategorie Sachbuch/Essayistik den Leipziger Buchpreis 2012 für „Verbrannte Erde: Stalins Herrschaft der Gewalt“ zugesprochen.

Warum wurde der Traum von einer besseren Gesellschaft in Blut ertränkt? Jörg Baberowski beantwortet diese Frage auf neue Weise in einer packenden Gesamtdarstellung der stalinistischen Gewaltherrschaft„, meint die Jury in der Begründung. „Verbrannte Erde: Stalins Herrschaft der Gewalt“ erschien im März 2012 im Beck Verlag. Jörg Baberowski bedankte sich bei der Preisverleihung bei seiner Frau dafür, dass sie „Stalin“ über so eine lange Zeit als Gast in ihrem Haus ertragen hat.

Kurzbeschreibung
Stalins Gewaltherrschaft fielen Millionen Menschen zum Opfer. Sie verhungerten, verschwanden im „Archipel Gulag“ oder wurden im Laufe der „Säuberungen“ von Partei, Staatsapparat und Militär ermordet. In seinem großen, berührenden Buch entwickelt Jörg Baberowski neue Perspektiven auf die stalinistischen Verbrechen und führt den Leser hinab in die paranoide Welt des sowjetischen Diktators. Die Bolschewiki wollten eine neue Gesellschaft erschaffen und träumten vom neuen Menschen. Doch reicht es aus, auf das bolschewistische Projekt der Modernisierung zu verweisen, um die stalinistischen Gewaltexzesse zu erklären? War Stalins Terrorherrschaft eine notwendige Folge der kommunistischen Ideologie? Das bolschewistische Projekt, so die These des Buches, bot eine Rechtfertigung für den Massenmord. Aber es schrieb ihn nicht vor. Es war Stalin, ein Psychopath und passionierter Gewalttäter, der den Traum vom neuen Menschen im Blut der Millionen erstickte. Er war Urheber und Regisseur des Terrors, der erst mit seinem Tod aufhörte. Er errichtete eine Ordnung des Misstrauens und der Furcht, in der jedermann jederzeit zum Opfer werden konnte. Wer in dieser Weise den inneren Preis der Leipziger Buchmesse 2012 in der Kategorie Sachbuch/Essayistik!

Kitt einer Gesellschaft zerstört, der hinterlässt auch in den Seelen der Menschen verbrannte Erde. „Lasst, die ihr eingeht, jede Hoffnung fahren“, steht über Dantes Höllentor. Dieser Satz hätte auch an den Grenzpfählen der Sowjetunion stehen können.

Quelle: Leipziger Buchmesse

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