Am 23. Juni 2012 besprechen wir im Lesekreis „Fegefeuer“ von Sofi Oksanen. Der Roman setzte sich in der Abstimmung gegen den Klassiker „Das Herz der Finsternis“ von Joseph Conrad durch. Wir treffen uns zu üblichen Zeit bei Hanne.
Fegefeuer (Originaltitel: Puhdistus, erschienen 2008) ist der dritte Roman der finnisch-estnischen Autorin Sofi Oksanen. Basierend auf dem gleichnamigen Theaterstück (Uraufführung in Helsinki 2007), spielt der Roman 1992 in einem Dorf West-Estlands und schildert die außergewöhnliche Begegnung zweier Frauen, durch die nach und nach die leidvolle Geschichte ihrer Familie †“ verwoben mit der des ganzen Landes †“ offengelegt wird.
Das Cover der deutschsprachigen Ausgabe zeigt eine Fliege †“ überlebensgroß, ganz so, wie sie der Protagonistin und dem Leser in den allerersten Sätzen des Romans entgegentritt (Aliide Truu starrte die Fliege an, und die Fliege starrte zurück. Ihre Augen standen hervor, und Aliide wurde übel). Neben der titelgebenden ist die Fliege die wichtigste Metapher des Romans, die leitmotivisch in fast jedem Gegenwartskapitel auftaucht und die im fünften Teil, den fiktiven Geheimdokumenten, durch einen wichtigen Aspekt ergänzt wird.
Der Roman ist sinnlich und von starker Suggestivkraft. Die Intensität des Textes rührt zum einen aus der Verwendung der personalen Perspektive, zum anderen aus der sprachlichen Dichte und Präzision, mit der die Autorin äußere und innere Vorgänge beschreibt.
Leseprobe
„Sie riss die Tür auf und trat auf die Schwelle. Ringsum lag Stille wie Dämmerung. Die Nacht wurde dichter. Zara machte ein paar Schritte und blieb im gelben Licht der Hoflampe stehen. Die Grillen zirpten, die Hunde des Nachbarn schlugen an. Es duftete nach Herbst. Die weißen Stämme der Birken schimmerten im Halbdunkel. Die Tore waren geschlossen, die friedlichen Felder ruhten in den Drahtaugen des Maschendrahtzauns. Sie sog die Luft so tief ein, dass ihr die Lunge schmerzte. Sie hatte sich geirrt. Vor Erleichterung knickten ihr die Knie weg, und sie plumpste auf die Schwelle. Kein Pascha, kein Lawrenti, kein schwarzes Auto. […] Sie schob die Tür weiter auf und sah das Mädchen auf der Treppe, kehrte in die Küche zurück und ließ das Mädchen ein. Erleichterung flatterte ins Zimmer. Der Rücken des Mädchens hatte sich aufgerichtet, und die Ohren hatten sich zurechtgerückt. Sie atmete ruhig und in tiefen Zügen. Warum war das Mädchen so lange draußen gewesen, wenn der Mann gar nicht da gewesen war? Das Mädchen wiederholte, draußen sei niemand. Aliide schenkte dem Mädchen eine Tasse frischen Muckefuck ein und begann gleichzeitig, über die Beschaffenheit von Tee zu plaudern, sie beschloss, die Gedanken des Mädchens so weit von Steinen und Fenstern abzulenken wie möglich.“
Kurzbeschreibung
Wer Äußerstes erlebt hat, ist auch zum Äußersten bereit…
Wer Äußerstes erlebt hat, ist auch zum Äußersten bereit †“ das zeigt dieser vielfach ausgezeichnete und hoch spannende Roman über zwei Frauen, die sich wie zufällig begegnen und die doch eine gemeinsame Geschichte und vergleichbare Erfahrungen verbinden: Egal welches politische System auch herrscht, Opfer sind immer die Frauen.
Über die Autorin
Sofi Oksanen, geboren 1977, studierte Dramaturgie an der Theaterakademie von Helsinki. Mit ihrem dritten Roman „Fegefeuer“ gelang ihr der literarische Durchbruch: Der Roman stand monatelang auf Platz eins der finnischen Bestsellerliste, wurde in 38 Länder verkauft und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Finladia-Preis, dem Nordischen Literaturpreis und dem Europäischen Buchpreis.
Die Autorin ist mit Estland durch Verwandtschaft und persönliche Erfahrungen vertraut. In Finnland geboren und aufgewachsen, ist sie die Tochter eines Finnen und einer Estin. Deren Heimat hat sie durch Besuche bei ihrer Großmutter schon zu einer Zeit kennengelernt, als Estland noch Teil der Sowjetunion war.
Bei einer Präsentation ihres Buches in Deutschland berichtete sie von ihren Erinnerungen an die Schikanen vor der Einreise einerseits; zum anderen auch an endlose Wochen auf dem Hof der Großmutter. Das Muster des Tischtuchs, das Gesumme der Fliegen. Das Abschöpfen des Schaums beim Einwecken, die brodelnde Seife, der Bottich für das Waschen der Hände. Im Schrank die Gläser mit Tomaten und Pilzen, auf dem Boden die Kräuter, ausgebreitet zum Trocknen.
Sofi Oksanens frühzeitige Vertrautheit mit dieser Lebenswelt, ihre intime Kenntnis von Land und Leuten sind in den Roman eingeflossen, machen ihn authentisch und sind Teil der Wirkung und des Erfolgs.
Quelle: Wikipedia
Quelle Foto: Wikipedia © Teemu Rajala
Eine detailierte Besprechung der Protagnostin Aliide Truu findet sich in der Rubrik „Menschen wie wir“.