Dostojewskis Idiot über die Todestrafe und die Praxis in den USA
Washington – Ob er letzte Worte sprechen wolle, wurde Ronnie Lee Gardner gefragt. „Will ich nicht, nein“, antwortete der 49-Jährige, der gefesselt auf einem Stuhl im Exekutionsraum des Staatsgefängnisses von Utah saß. Er trug einen orangefarbenen Overall mit einer Zielmarkierung über seinem Herz. Eine dunkle Maske wurde ihm über den Kopf gezogen. Die fünf Freiwilligen des Exekutionskommandos, die in rund acht Meter Entfernung hinter Schießscharten Aufstellung genommen hatten, feuerten präzise. Eines der Gewehre des Kalibers 30 war ungeladen. Am Freitagmorgen, 20 Minuten nach Mitternacht, war die Hinrichtung ausgeführt. Richter und der Gouverneur von Utah hatten die Umwandlung der Strafe in lebenslange Haft abgelehnt.
Anders als bei der Hinrichtung am 18.06.2010 in den USA, berichtet der Protagonist Fürst Myschkin in Dostojewskis Roman „Der Idiot“ über eine Exekution mittels Guillotine. „Wenn man jemanden, der getötet hat, dafür tötet, so ist die Strafe unverhältnismäßig größer als das Verbrechen. Die Tötung auf Grund eines Urteilsspruches ist unverhältnismäßig schrecklicher als die von einem Räuber begangene.“
Auszug aus Fjodr Michailowitsch Dostojewski „Der Idiot“
Der Idiot (Идиот), Dostojewskis zweites großes Werk, erschien 1868. Es handelt von der Geschichte des Fürsten Myschkin, der wie Dostojewski selbst unter Epilepsie leidet und aufgrund seiner Güte, Ehrlichkeit und Tugendhaftigkeit in der St. Petersburger Gesellschaft scheitert.
[…]Was mag mit der Seele in diesem Augenblick vorgehen? In was für krampfhafte Zuckungen wird sie versetzt? Es ist eine Peinigung der Seele, weiter nichts! Es gibt ein Gebot: †ºDu sollst nicht töten!†¹, und da tötet man nun, weil jemand getötet hat, auch ihn? Nein, das darf nicht sein! Es ist jetzt schon einen Monat her, daß ich das gesehen habe; aber es ist mir bis heute, als ob ich es vor Augen hätte. Ich habe fünfmal davon geträumt.«
Der Fürst war beim Sprechen aufgelebt, eine leichte Röte war auf sein blasses Gesicht getreten, obgleich er äußerlich so still und ruhig redete wie vorher. Der Kammerdiener hörte ihm mit teilnahmsvollem Interesse zu und wünschte, wie es schien, nicht mehr, sich von dem Gespräch loszumachen; vielleicht war auch er ein Mensch mit Einbildungskraft und einem Hange zum Nachdenken.
»Es ist wenigstens noch gut, daß nicht viel Quälerei dabei ist, wenn der Kopf abfliegt«, bemerkte er.
»Wissen Sie was?« erwiderte der Fürst lebhaft. »Da sagen Sie das nun, und alle Leute sagen es ebenso wie Sie, und die Maschine, die Guillotine, ist ja auch zu diesem Zweck erfunden. Aber mir ging gleich damals ein gewisser Gedanke durch den Kopf: wie, wenn das sogar noch schlimmer wäre? Das scheint Ihnen lächerlich und seltsam; aber wenn man etwas Einbildungskraft besitzt, so kann einem wohl auch ein solcher Gedanke in den Kopf kommen. Überlegen Sie nur: nehmen wir zum Beispiel die Folter; dabei gibt es Schmerzen und Verwundungen, das heißt körperliche Qualen, und daher lenkt dies alles den Gefolterten von dem seelischen Leiden ab, so daß er nur von den Wunden Qualen empfindet bis zu dem Augenblick, wo er stirbt. Aber der ärgste, stärkste Schmerz wird vielleicht nicht durch Verwundungen hervorgerufen, sondern dadurch, daß man mit Sicherheit weiß: nach einer Stunde, dann: nach zehn Minuten, dann: nach einer halben Minute, dann: jetzt in diesem Augenblick wird die Seele aus dem Körper hinausfliegen, und man wird aufhören, ein Mensch zu sein, und daß das sicher ist; die Hauptsache ist, daß das sicher ist. Wenn man so den Kopf gerade unter das Messer legt und hört, wie es über dem Kopf herabgleitet, dann muß diese Viertelsekunde das Allerschrecklichste sein. Wissen Sie wohl, daß das nicht eine Phantasie von mir ist, sondern daß das schon viele gesagt haben? Ich glaube das so bestimmt, daß ich Ihnen gegenüber diese meine Ansicht offen ausspreche. Wenn man jemanden, der getötet hat, dafür tötet, so ist die Strafe unverhältnismäßig größer als das Verbrechen. Die Tötung auf Grund eines Urteilsspruches ist unverhältnismäßig schrecklicher als die von einem Räuber begangene. Derjenige, den Räuber töten, wird bei Nacht gemordet, im Walde, oder sonst auf irgendeine Weise; in jedem Falle hofft er noch bis zum letzten Augenblick auf Rettung. Es hat Beispiele gegeben, daß einem schon die Kehle durchgeschnitten war und er doch noch hoffte und entweder davonzulaufen suchte oder um sein Leben bat. Aber hier ist einem diese ganze letzte Hoffnung, mit der das Sterben zehnmal so leicht ist, mit Sicherheit genommen. Hier ist ein Urteilsspruch, und die ganze schreckliche Qual besteht in dem Bewußtsein, daß man mit Sicherheit dem Tode nicht entgehen kann, und eine schlimmere Qual als diese gibt es auf der Welt nicht. Man führe einen Soldaten in der Schlacht einer Kanone gerade gegenüber und stelle ihn dorthin und schieße auf ihn; er wird noch immer hoffen; aber man lese diesem selben Soldaten das Urteil vor, das ihn mit Sicherheit dem Tode weiht, und er wird den Verstand verlieren oder zu weinen anfangen. Wer kann denn glauben, daß die menschliche Natur imstande sei, dies zu ertragen, ohne in Irrsinn zu geraten? Wozu eine solche gräßliche, unnütze, zwecklose Marter? Vielleicht gibt es auch einen Menschen, dem man das Todesurteil vorgelesen hat, den man sich hat quälen lassen, und zu dem man dann gesagt hat: †ºGeh hin; du bist begnadigt!†¹ Ein solcher Mensch könnte vielleicht erzählen. Von dieser Qual und von diesem Schrecken hat auch Christus gesprochen. Nein, so darf man mit einem Menschen nicht verfahren!« […]
65 Prozent der Amerikaner befürworten nach einer Gallup-Umfrage vom vergangenen Oktober die Todesstrafe. Seit 2002 ist dieser Wert nahezu konstant geblieben. Die Zahl der Gegner ist seit damals von 26 auf 31 Prozent leicht gestiegen. 1936 war die Zahl der Todesstrafenbefürworter mit 59 Prozent noch geringer. Mit 80 Prozent erreichte sie 1994 einen Spitzenwert. Und obwohl 59 Prozent glauben, dass in den letzten fünf Jahren mindestens einmal ein Unschuldiger hingerichtet wurde, ist jeder Zweite (49 Prozent) der Ansicht, es gebe zu wenige Exekutionen. 2009 wurden in den USA 52 Menschen hingerichtet (2008: 37).
Quellen: Projekt Gutenberg, Welt Online