Menschen wie wir
Trond Sander, die Hauptperson in Per Pettersons „Pferde stehlen“.
Trond Sander, 67 Jahre, zieht sich zurück. Er, der Junge mit den Goldhosen, der durch den Verkauf seiner Firma nun genug Geld hat, möchte ein Leben in der Stille beginnen. Ihn begleiten seine Hündin Lyra aus einem Tierheim in Oslo und seine Erinnerungen.
Diese drohen so übermächtig zu werden, dass er ihnen nicht mehr ausweichen kann.
„Ich habe verkauft, was von der Firma übrig war, und bin hierher gezogen, das musste ich tun, sonst wäre es mir übel ergangen. Ich konnte nicht weitermachen wie bisher.†œ S.283
Trond hat sich aller Bindungen entledigt. Seine Frau starb bei einem Autounfall vor drei Jahren, seine Töchter wissen nicht, wo sich ihr Vater aufhält, und dass er sich ein Haus fernab von der lärmenden Großstadt Oslo in der Stille der ostnorwegischen Wälder gekauft hat. Hier stellt er sich seinen Erinnerungen, die schneller kommen als ihm lieb ist.
Auslöser ist sein Nachbar Lars Haug, in dem er den Bruder seines Jugendfreundes Jon erkennt.
In seiner Jugend hat er 15-jährig einen Sommer mit seinem Vater an einem ähnlichen Ort verbracht. Das war der letzte Sommer mit seinem Vater, ein Sommer in dem er unfreiwillig erwachsen geworden ist. Seine Mutter und seine Schwester blieben in Oslo. Er wähnte sich als „Auserwählter†œ mit seinem Vater in enger Zweiergemeinschaft verbunden.
Rückblickend erkennt er, dass diese Sicherheit eine trügerische war. Der Vater wird die Familie und ihn am Ende des Sommers verlassen, und er wird nie wieder Kontakt zu ihm aufnehmen. Die Zeit mit dem Vater ist geprägt von Eindrücken, die ihn jetzt einholen. Der Vater hat in der norwegischen Widerstandsbewegung gearbeitet und Informationen und Menschen außer Landes geschleust. Unterstützt wird er dabei von einer Frau, die in diesem Sommer ihre „zufällige†œ Nachbarin ist. Mit ihr wird er ein neues Leben beginnen, zusammen mit ihrem Sohn Lars – ein Leben, in dem Trond keinen Platz mehr hat.
Später wird Tronds Lieblingslektüre „David Copperfield†œ sein. Dem Titelheld ergeht es übel, aber die Geschichte nimmt einen guten Ausgang. Trond liest das Buch „Seite um Seite, fast starr vor Schreck, weil ich sehen musste, wie alles zuletzt auf seinen Platz fiel, und dem war ja auch so, aber es dauerte immer so lange, bis ich mich sicher fühlte. In der Wirklichkeit war es anders.†œ
Für Trond waren die Erlebnisse in diesem Sommer traumatisch und richtungweisend für sein weiteres Leben.
Sein Vater lebte nun in einer anderen Familie weiter mit einem Stiefsohn.
Als er Jahre später auf Lars trifft, wäre seine brennendste Frage, die er sich jedoch nicht traut ihm zu stellen: „Hast du den Platz eingenommen, der eigentlich meiner war? Hast du Jahre meines Lebens bekommen, die eigentlich mir gehören sollten?“ S.280
Dieses Gefühl, nicht für das geliebt zu werden was man ist und auswechselbar zu sein, hat sein weiteres Leben bestimmt. Es ergeht ihm wie David Copperfield. „Ob ich als Hauptperson meines eigenen Lebens hervortreten werde, oder ob sonst jemand diesen Rang einnehmen wird, müssen diese Seiten erst erweisen.†œ S.279
Per Petterson beschreibt hier einen Menschen, der schockartig erwachsen werden muss, denn „der kindliche Glauben an die immer gute Wendung im Leben†œ hat sich erledigt. Das Vertrauen war „im Laufe eines einzigen Julitages wie weggeblasen†œ. Sein Vater ist für ihn so gut wie tot, die Trauer über den Verlust unterdrückt er sein Leben lang. Das kindliche Gefühl, zusammen mit seinem Vater „Bäume ausreißen†œ zu können, verpufft. Er trifft auf eine Grenze, die er akzeptieren muss.
Nicht umsonst beginnt das Buch mit einer Grenzerfahrung. Die Kohlmeisen, die Trond aus seiner Hütte heraus beobachtet, fliegen gegen die Fensterscheibe und landen betäubt im Schnee. Was für ein wunderbares Bild für die innere Isolation, das an Marlen Haushofers Roman „Die Wand†œ erinnert. Trond fragt sich „Ich weiß nicht, was ich habe, dass sie haben wollen†œ. Wir hoffen für ihn, dass er seine Einsamkeit überwinden wird.
Die Kommunikation mit seiner unverhofft auftauchenden Tochter lässt darauf schließen, dass er beginnt sich zu öffnen. Oder wie ein Rezensent es schrieb: „Er hat sich endlich entschlossen in seinem Leben selbst die Hauptrolle zu spielen, auch wenn der Abgang von der Lebensbühne nicht mehr fern ist.
„Pferde stehlen“ von Per Petterson ist am 10. Januar 2008 im Fischer Verlag erschienen. Der Lesekreis hat das Buch im April 2010 besprochen.
Rezensionen:
FAZ vom 04.03.2006, Nr. 54 / Seite 50: Wir entscheiden selbst, wann es weh tut – Hasenjagd auf die verlorene Zeit: Per Pettersons großes Vatersuchspiel
23.04.2006 Lesemond