Seitensprung der Sisterhood †“ Engelsduft

Seitensprung der Sisterhood

Kapitel 2
Engelsduft

Ikarus war ein bisschen blass um die Nase und ließ sich auf einen Plastikstuhl im Wartebereich nieder. Doc setzte sich neben ihn und Sam lief nachdenklich vor ihnen auf und ab.
„Das war wirklich knapp, ich glaube, wer auch immer dahinter steckt, wollte uns mit der Maschine in die Luft jagen.†œ
„Das waren mit Sicherheit die Wiesel-Brüder!†œ sagte Doc und warf einen besorgten Blick auf ihren Piloten.
„Also, der Typ beim Auftanken heute …, der hatte auch irgendwas von einem Wiesel, der roch auch so. Hätte ich gewusst, dass …†œ
„Schon gut†œ, unterbrach Doc ihn, „es war nicht deine Schuld, du wusstest doch gar nichts von ihnen.†œ Ikarus hatte sich von dem Schock immer noch nicht ganz erholt, aber sein Gesicht bekam langsam wieder etwas Farbe. Er war noch nicht lange bei der Bruderschaft und noch in der Ausbildung. So knapp dem Tod zu entkommen, damit musste man erst umzugehen lernen.
„Dann können die Wiesel aber unmöglich morgen Mittag in Louisiana sein, was denkst du, Jane?†œ Sam sah sie fragend an, doch bevor sie antworten konnte, klingelte ihr Handy.
Ein anonymer Anruf, das konnte nur Sweetlife sein. Sie nahm das Gespräch an und telefonierte eine ganze Weile mit ihrer Chefin. Nachdem sie aufgelegt hatte, blickten sie zwei neugierige Augenpaare an. Doc seufzte, das würde noch eine lange Nacht für sie alle werden.
„Sweetlife wollte uns warnen. Zwar nicht vor dem Anschlag, aber Louisiana war eine Falle.
Die O´Connelys sind gar nicht dort. Sie halten sich nach wie vor in Irland auf. Genauer gesagt sind sie auf den Weg nach Belfast.†œ Zum Glück hatten ihre Informanten die O´Connely-Brüder weiter im Auge behalten, da es suspekt erschien, dass die drei sich so offenkundig zurück an ihren bekannten Wohnsitz begeben wollten.
†œAlso wissen wir auch, wer dafür verantwortlich war.†œ Sie machte eine Handbewegung in Richtung Rollfeld und deutete auf die Feuerwehr sowie die Sicherheitsleute des Flughafens, die schwer damit beschäftigt waren den Brand unter Kontrolle zu bekommen.
„Ikarus, Sweetlife informiert jetzt ein Mitglied der Bruderschaft, das hier in Irland stationiert ist. Du sollst hier auf einen Mr. Greedy warten. Er wird die Ermittlungen übernehmen. Die Pressemitteilung wird gefaked. In den Nachrichten wird dann bekannt gegeben, dass zwei verkohlte Leichen in dem Flugzeugwrack gefunden wurden. Du sollst ihm helfen und danach zurück nach Schottland kehren. Sam und ich werden jetzt mit dem Auto nach Belfast fahren, und dann knöpfen wir uns diese Pyromanen vor.†œ Sie stand auf, tätschelte dem Piloten den Arm, nickte Sam auffordernd zu und ging in Richtung Autovermietung, um die Autoschlüssel wieder abzuholen.
Herzhaft gähnend stieg sie in den Wagen. Sam blieb davor stehen.
„Sollte ich nicht lieber fahren? Du siehst aus, als ob du gleich einschlafen würdest.†œ Er hatte recht, und auch wenn sie ihre Müdigkeit nur ungern zugab, rutschte sie rüber auf den Beifahrersitz.
Sam setzte sich hinter das Steuer, doch bevor sie losfuhren, würgte er den Motor dreimal ab. Oh je, konnte er überhaupt fahren? Seltsam, aber in Newgrange war er auch ohne Auto unterwegs gewesen, fiel Doch jetzt wieder ein. Ruckelnd fuhren sie vom Parkplatz. Das konnte ja was werden. Sie fühlte sich auf einmal nicht mehr müde genug um zu schlafen und hatte lieber ein Auge auf den Verkehr. Gleich bei der nächsten roten Ampel würgte er wieder den Motor ab. Das war Anlass genug für Doc sich anzuschnallen und mit einer Hand am Türgriff schützend Halt zu suchen. Er fuhr wie ein Betrunkener, der eine ganze Flasche Whisky intus hatte und zeichnete Schlangenlinien auf die zweispurige kerzengerade Straße. Wahrscheinlich lag es an seinen Knien, die beidseitig das Lenkrad berührten.
„Sam, du darfst hier 60 fahren, mit 20 kommen wir niemals an.†œ
„Gib mir noch ein paar Minuten, ich bin bestimmt 30 Jahre kein Auto mehr gefahren, da hat sich mittlerweile viel verändert.†œ
„Oh, okay, dann fahr besser doch nicht schneller.†œ

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Jane konnte nicht anders, sie kicherte los. Es sah so lustig aus, wie er todernst das Lenkrad umklammert hielt und versuchte das Auto unter Kontrolle zu bringen. Prustend gab sie ihm ein paar Tipps.
„Auf jeden Fall solltest du mal versuchen, im ersten Gang anzufahren, das macht man heute so.†œ Er warf ihr einen grimmigen Blick zu und starrte dann weiter verbissen auf die Fahrbahn.
„Sam, ganz im Ernst, stell den Sitz doch mal 50 cm zurück und du wirst sehen, das ist viel entspannter, und du musst auch nicht mit der Stirn die Scheibe berühren.†œ
Plötzlich machte er eine Vollbremsung.
„Sam!†œ, kreischte Doc lachend. Er beugte sich ganz nah zu ihr herüber.
„Du machst dich über mich lustig? Hör zu: Ich. Kann. Das.†œ
„Ich bin ja schon ruhig.†œ Das Grinsen bekam sie allerdings nicht mehr aus dem Gesicht. Er stellte den Sitz ein ganzes Stück zurück und fuhr an, ohne den Motor zu würgen. Er warf ihr ein triumphierendes Lächeln zu. Allmählich schien er sich wirklich daran zu gewöhnen, und eine halbe Stunde später fielen Doc die Augen zu.
Etwas kribbelte in ihrem Gesicht. Langsam öffnete sie die Augen. Sam hatte die Beifahrertür geöffnet und hockte vor ihr. Mit einer Hand strich er ihr die Haare aus dem Gesicht. Doc zuckte zurück.
„Haben wir einen Unfall gebaut?†œ
„Nein, hier ist eine Tankstelle, vielleicht brauchst du noch etwas.†œ
Er reichte ihr eine Hand. Ohne darüber nachzudenken, griff sie danach und ließ sich aus dem Auto ziehen. Mit einem Ruck stand sie neben ihm und der Wind wehte ihr eine volle Ladung seines Duftes ins Gesicht. Man, wie sie das nur die nächste Zeit ertragen sollte, ohne sich in ein schmachtendes Weibchen zu verwandeln, war ihr schleierhaft. Dass er so auf Tuchfühlung ging, verunsicherte sie etwas. Vielleicht waren Engel einfach so? Sie sah sich um, der Morgen graute bereits. Er hatte schon vollgetankt, und sie gingen gemeinsam hinein, um zu zahlen. Dann holten sie sich noch einen Becher Kaffee.
„Soll ich jetzt weiterfahren?†œ Kaffeeschlürfend blickte sie ihn an. Sam schmollte ein wenig gespielt
„Du weißt doch noch gar nicht, wie gut ich jetzt fahren kann.†œ
„Okay, dann fahr du weiter, Schumi.†œ Verwirrt blinzelte er sie an, setzte sich aber ohne nachzufragen wieder hinter das Steuer. Seltsamerweise fuhr er wirklich gut. Sie entspannte sich zunehmend in seiner Gegenwart.
„Stört es dich, wenn ich eine Zigarette rauche?†œ
„Wenn du mir auch eine gibst, dann nicht.†œ Sie hatte ja darauf getippt, dass Rauchen eine Sünde war, anderseits, die Frauen, die sie in seiner Gegenwart gesehen hatte, waren sicherlich keine Betschwestern gewesen. Sie zündete für jeden eine an und blickte aus dem Fenster.
„Laut Navi sind wir bald da. Schon eine Idee wie wir vorgehen?†œ Jane dachte nach.
„Nicht so richtig. Vielleicht sollten wir uns zunächst ein Hotel suchen, danach können wir die Umgebung erkunden.†œ
„Klingt gut.†œ Er warf einen Blick auf sie und sah dann wieder auf die Fahrbahn.
„Was ist?†œ
Er sah nochmals kurz zu ihr rüber und fasste sich ein Herz. Sein Instinkt sagte ihm, dass ihre kühle Haltung nur Fassade war.
„Ach, nichts weiter …, ich dachte nur, du könntest mir irgendwas erzählen. Ein wenig Klatsch und Tratsch vom Orden oder etwas in der Art. Du bist immer so still.†œ
Jetzt hatte sie das Gefühl, sich verteidigen zu müssen
„Ich habe dich gerade erst kennengelernt. Ich weiß doch gar nicht, wer von ihnen zu deinen Kumpeln gehört hat. Sie sind ja überall auf der Welt zerstreut.†œ
„Duncan und Bowen kenne ich ganz gut, und dann noch einen Wolf Shawn oder so ähnlich. Mit denen konnte man gut Pokern.†œ

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Bowens Namen zu hören, versetzte ihr einen Stich. Sie hatte die letzten Stunden gar nicht mehr an ihn gedacht, und nun kam die Trauer um ihn mit einem Schlag zurück.
Sie stieß den Qualm aus und wusste einfach nicht, was sie sagen sollte. Lügen war ja keine Option, aber ihm davon zu erzählen kam ihr zu intim vor. Also sagte sie einfach gar nichts.
„Oh, ich habe ein Fettnäpfchen erwischt?†œ
„Nein†œ, entfuhr es ihr.
„Das ist gelogen, Süße.†œ Mist, er hatte also wirklich einen eingebauten Detektor oder so was in der Art.
„Duncan hat in Angie, eine meiner Schwestern, seine Gefährtin gefunden, sie sind gerade in Schottland, und Jean ist mit ein paar anderen Brüdern auf der MS Seraphim vermutlich jetzt in Miami. So, zufrieden?†œ
„Wo sind die anderen vom Sixpack? Wieso bist du hier alleine?†œ
„Denkst du, ich kann keine Einsätze alleine erledigen?†œ, gab sie kratzbürstig zurück. Man, sie hatte einfach keinen Nerv über all das zu sprechen, sollte er sie doch in Ruhe lassen.
„Die anderen sind alle mit ihren Gefährten in deren Heimat gereist.†œ Sam spürte, dass sie verletzt worden war und ahnte, dass es mit Bowen zu tun haben musste, da sie ihn nicht erwähnt hatte. Er konnte nicht anders, er musste einfach nochmal nachhaken.
„Hm, was treibt McRieve denn so, der alte Blutsauger? Hast du ihn kennengelernt?†œ Er lächelte bei der Erinnerung an Bowen. Mit ihm hatte er so einige Clubs unsicher gemacht.
„Bo ist … er …  in Peru sind wir Dungeon begegnet. Er hat mich vor ihm beschützt und dafür mit seinem Leben bezahlt.†œ
Sam warf ihr einen überraschten Blick aus seinen schönen Augen zu und hakte nicht weiter nach. Er spürte den Schmerz, den er in ihrer Stimme vernommen hatte und in ihren Augen sah. Normalerweise konnte er durch Körperkontakt die Emotionen anderer nachempfinden, aber bei ihr reichte ein einfacher Blick aus. Würde er sie jetzt berühren, wüsste er die ganze Geschichte, aber er wollte sie nicht ausspionieren und sie gegen sich aufbringen. Auch so konnte er sich vorstellen, dass ein erfahrener Kämpfer wie Bowen nicht einfach sein Leben hergeben hatte. Sie mussten in einen grausamen Kampf verwickelt gewesen sein.
„Oh, das tut mir sehr Leid†œ, sagte Sam, und Jane erkannte wie betroffen auch er von dieser Neuigkeit war.
Um sich abzulenken, holte sie ihr Handy aus der Tasche und sah sofort das kleine Briefchen auf dem Display. Sie hatte eine SMS bekommen.
„Bin heil in Schottland angekommen. Das Anwesen ist gigantisch! Vermisse dich sehr! LG Angie.†œ
Sie simste eine Antwort zurück.
„Hey Süße! Lass dich von Duncan ordentlich verwöhnen! Mache Irland unsicher. glg Doc†œ

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Sie steckte ihr Handy wieder weg und klappte die Sonnenblende nach unten, um einen Blick in den Spiegel zu wagen. Gott, wie ihre Haare aussahen, sie brauchte dringend eine Dusche. Seit ihrer Nacht in Newgrange hatte sie weder Zeit gehabt sich frisch zu machen noch sich umzuziehen. Plötzlich erhielt ihr Wagen einen Stoß und machte einen unsanften Satz nach vorne. In letzter Sekunde konnte sich Doc noch am Armaturenbrett abstützen.
„Hey, was soll das verdammt nochmal?†œ, fluchte Sam und trat aufs Gas. Irritiert blickte Doc in den Spiegel der Sonnenblende und sah einen weißen Jeep mit einem rothaarigen Mann am Steuer direkt hinter ihrem Wagen. Sofort erkannte sie Patrick O´Connely. Sam trat aufs Gaspedal, und da sie in ihrem Sportwagen viel schneller waren, fiel der Jeep schnell hinter ihnen zurück. Sie rasten über eine schmale Serpentine, die rund um einen Felsen führte.
„Sam, das war das Wiesel, und oh mein Gott, geh vom Gas… da vorne…!†œ, schrie Doc und starrte mit aufgerissenen Augen auf die Straße. Sam hatte auch gesehen, dass vor ihnen ein Felsbrocken auf der Straße lag und die Weiterfahrt blockierte. Abrupt trat er auf die Bremse und Doc wurde wieder gegen das Armaturenbrett katapultiert.
Fast im selben Moment wurden sie wieder von hinten gerammt. Ihr Wagen drehte sich wie ein Kreisel und kam vor der Leitplanke zum stehen. Der Jeep setzte ein Stück zurück, und bevor Doc realisiert hatte, dass er sie wieder rammen würde, war es auch schon geschehen. Sie durchbrachen die Leitplanke und ihr Wagen senkte sich in Richtung Abgrund. Nur die Hinterreifen standen noch auf der Straße. Sie hörte, wie die Leitplanke ein ächzendes Geräusch von sich gab und nachzugeben drohte.
„Oh Gott, wenn er uns noch einmal berührt, schmieren wir hier ab†œ, sagte Jane und starrte wie paralysiert auf den glitzernden Bachlauf, der sich ungefähr hundert Meter tiefer durchs Tal schlängelte. Sam spürte ihre Panik. So ein Absturz konnte selbst einer Unsterblichen wie ihr gefährlich werden.
„Jane, bleib ganz ruhig. Du musst mir jetzt Vertrauen. Mach keine hastigen Bewegungen. Wenn ich los sage, lege die Arme um meinen Hals und halte dich verdammt gut fest.†œ Mit angstgeweiteten Augen sah sie ihn an.
„Okay … Okay…†œ, stammelte sie und sah, wie er sich ganz, ganz langsam zu ihr rüber beugte. Mit einer Hand löste er die Schnalle ihres Gurtes und die andere lag auf dem Türgriff.
„Jane, jetzt! Los!†œ Sie legte ihre Arme um seinen Hals, und im gleichen Moment öffnete er blitzschnell ihren Gurt und gleichzeitig die Beifahrertür. Er stieß sich ab und sprang mit ihr aus dem Wagen. Doc hatte die Augen zugekniffen. Der Typ war doch wahnsinnig. Dachte er, sein Körper würde sie genügend davor beschützen sich das Genick zu brechen? Kalter Wind umwehte sie. Sie hörte einen Motor aufheulen und dann, wie der Wagen schmetternd irgendwo aufprallte und explodierte. Warum waren sie noch nicht unten angekommen? Es rauschte um sie herum. Sie öffnete ein Auge und riskierte einen Blick. Sie schwebte mit Sam hoch oben in der Luft. Er hielt sie fest umklammert. Als sie ihren Kopf aus seiner Halsbeuge hob, sah sie seine Flügel. Aber natürlich, er war ein Engel!
„Alles ok?†œ, erkundigte er sich, als er bemerkte, dass sie sich einigermaßen gefangen hatte.
„Lass mich bitte nicht fallen†œ, brachte sie nur kleinlaut hervor. Sam lachte. Sie spürte, wie der Ton angenehm in seinem Brustkorb vibrierte.
„Niemals.†œ Mit gleichmäßigen Flügelschlägen flog er Richtung Tal. Er spannte seine Schwingen weit auseinander und sie glitten tiefer und tiefer der Erde entgegen. Janes Magen machte Purzelbäume, und sie klammerte sich fest an ihn. Trotz dieser bizarren Situation kam sie nicht umhin festzustellen, wie anziehend er doch auf sie wirkte. Er hatte atemberaubend schöne Flügel. Sie waren nachtschwarz und schimmerten in den Spitzen silbern. Sie wirkten so pudrig und weich, dass sie sie am liebsten berührt hätte. Sie flogen über den kleinen Bach und landeten schließlich am Ufer. Sanft berührten seine Füße den Boden. Sam kommentierte ihre Landung nur mit einem „geschafft†œ und hielt sie weiter in seinen Armen. Jane machte keine Anstalten sich von ihm zu lösen. Sie hätte ewig so mit ihm an diesem Ufer stehen bleiben können, wenn nicht ihr Pflichtbewusstsein sie wieder in die Realität geholt hätte.

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„Hey, wir sind wieder am Boden, du kannst mich jetzt loslassen†œ, murmelte sie leise an seiner Schulter, obwohl sie sich selbst nicht aus seiner Umarmung befreien mochte, sie fühlte sich so sicher und geborgen in seinen Armen. „Du riechst aber so gut†œ, sagte er und drückte sie weiter an sich. Dann hob sie den Kopf und sah ihn an. Die Luft zwischen ihnen vibrierte regelrecht, doch bevor seine Lippen ihre berührten, machte sie sich von ihm los.
„Man, woher wusste dieses Wiesel, dass wir nicht mit dem Flugzeug gegrillt wurden?†œ Er schmunzelte über ihren galanten Themenwechsel.
„Patrick hat vermutlich am Flughafen nach uns Ausschau gehalten und ist uns gefolgt.†œ
„Ja, so wird†™s wohl gewesen sein.†œ Sie musterte ihn, seine Flügel waren nicht mehr zu sehen. Er sah ihren fragenden Blick und flüsterte grinsend:
„Magie.†œ
Sie lächelte zurück. Davon aufgemuntert griff er ihre Hand und zog sie mit sich in den angrenzenden Wald. Das Wetter war trübe, Nebel waberte um die Bäume und es nieselte leicht. Jane war froh, dass sie ihre Lederklamotten anhatte, so fror sie wenigstens nicht. Als sie das Waldstück durchquert hatten, kamen sie am anderen Ende in einem kleinen Dorf an. Es wirkte nicht sehr einladend, die Häuser waren einfache Holzhütten mit Schindeldächern. Auch die Straße war geisterhaft leer.
„Da drüben ist ein Pub, das noch geöffnet hat. Hast du Lust auf ein Pint Guiness und eine kleine Verschnaufpause?†œ Jane blickte über die Straße und sah auf das kleine schwarze Häuschen mit der roten Tür, über der „Dead Men Inn†œ in leuchtenden Lettern stand.
„Oh ja, allerdings. Das haben wir uns wirklich verdient†œ, antwortete Jane. Sie überquerten die Straße und gingen hinein. Es dauerte einen Moment, bis sich ihre Augen an das abgedunkelte Licht im Inneren gewöhnt hatten. Dafür, dass es fast morgens war, war dort noch einiges los. Ein paar zwielichtige Gestalten lungerten herum und starrten sie unfreundlich an. Sie hätte ihre rechte Hand darauf verwettet, dass sich hier nicht nur Menschen aufhielten. Jane setzte sich an einen Tisch ans Fenster und beobachte Sam wie er da so lässig am Tresen stand. Er orderte ihr Bier und plauderte noch etwas mit dem Barmann. Der ungepflegte kahlköpfige Wirt hatte einen enormen Bierbauch Als er merkte, dass sie ihn beobachtete, zwinkerte er ihr zu. Doc blickte schnell in eine andere Richtung. Die Luft war von Rauch gefüllt und das ganze Pub wirkte schmutzig und verwahrlost. Neben dem Tresen verhinderte ein Vorhang die Sicht in einen Raum, aus dem das Geräusch von Würfeln klang. Ganz offensichtlich fanden da illegale Glückspiele statt. Endlich kam Sam mit dem Bier und setzte sich zu ihr.
„Du wirst es nicht glauben. Der Typ heißt Lee Monade.†œ Sie stießen an. Zum Erstaunen von Doc, trank Sam sein Glas mit einem Zug leer.
„Er ist auch ein Gestaltwandler, ein Waschbär um genau zu sein. Das kommt uns wirklich gelegen. Außerdem vermietet er Zimmer. Ich habe einfach mal für uns gebucht. In Belfast findet gerade eine Messe statt, er meinte, wir würden da nichts bekommen.†œ Er legte einen Antik aussehenden Schlüssel auf den Tisch.
„Warum ist gut, dass er ein Wer-Waschbär ist?†œ Sie musste schmunzeln.
„Tja, ich habe mal irgendwo gelesen, dass Waschbären Wiesel überhaupt nicht leiden können. Ich denke, wenn einer etwas über deren Aktivitäten weiß, dann kann er uns sicherlich dabei helfen es herauszufinden.†œ
Sie blickte sich noch einmal um. In den Ecken hingen Spinnweben samt Bewohner. Ein besonders großes haariges Exemplar war gerade dabei sich abzuseilen. Sie bekam eine Gänsehaut bei dem Anblick. Sie griff nach dem Schlüssel, der fast am Tisch festklebte. Ob das eine gute Idee war hier ein Zimmer zu mieten? Doch sie was so müde, dass sie schnell ihr Glas leer trank und aufstand.
„Dann lass uns mal nachsehen, ob unsere Zimmer ebenso feudal sind wie dieses Ambiente hier.†œ Sam hustete und blickte sie schelmisch an.
„Was?†œ
„Naja, also er hat eigentlich nur ein Zimmer, das er vermietet. Aber es hat ein Doppelbett, ein Bad und einen Fernseher.†œ
Gegenüber vom Tresen war eine Tür mit der Aufschrift „Private†œ, durch die die beiden in ein schmales Treppenhaus gelangten.

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Das Treppengeländer war abgewetzt, und die Tapete pellte sich von den Wänden. Die Treppe endete direkt an ihrer Zimmertür. Jane erspähte um die Ecke herum einen weiteren Treppenaufgang. Vermutlich führte er auf den Speicher. Sam schloss auf, verpasste der Tür einen kräftigen Tritt und bedeutete Doc zuerst einzutreten. Sie riss sich zusammen und stolzierte an ihm vorbei in das Zimmer. Sie machte extra kein Licht, sollte der Engel doch die Wand nach dem Lichtschalter abtasten. Problemlos fand er den Schalter und eine einzelne nackte Glühbirne verströmte ein schummriges Licht. Das schmucklose Zimmer war verhältnismäßig sauber. Gegenüber der Tür stand ein Bett, das zumindest von oben sauber bezogen war. An einer Wand befand sich ein Schränkchen, auf dem ein kleiner, alter Fernseher stand. Auf der gegenüberliegenden Seite war das Badezimmer. Jane ging hinein. Es war klein, aber relativ sauber Das Nötigste war vorhanden, sogar saubere Handtücher und kleine Shampoofläschchen lagen auf einer Ablage. Plötzlich stand Sam in der Tür.
„Meinst du, wir halten es hier ein paar Stunden aus?†œ
„Ja, ist schon okay. Ich würde jetzt gern duschen, wenn du nichts dagegen hast.†œ
„Okay, lass mir auch noch warmes Wasser übrig.†œ Er ließ sie allein, setzte sich aufs Bett und schaltete den Fernseher ein. Er suchte nach dem Sportkanal, als ein schriller Schrei aus dem Badezimmer ertönte. Sam riss die Tür auf. Das Wasser rauschte in der Dusche. Nur in Unterwäsche bekleidet stand Doc davor und blickte ihn überrascht an.
„Jane, was ist passiert?†œ
„Teufel noch mal, was machst du denn hier?†œ Mit vor der Brust verschränkten Armen richtete sie ihren Blick in die Duschkabine.
„Du hast geschrien, ich dachte, Norman Bates wäre hier aufgetaucht.†œ
„Nicht du! Er! Ich habe mich nur erschrocken, weil ER plötzlich aufgetaucht.†œ Sie zeigte in die Duschkabine.
Sam kam näher und blickte hinein.
„Mon Dieu. Wiedörrsehensfreudö stelle isch mir aber anders vor. Würde es dir etwas ausmachen das Wassör abzustellen, ich habe heute schon gebadet.†œ
„Ford? Ford Fleur?†œ Sam sah völlig überrumpelt aus und der kleine Dämon blickte zu ihm auf. Wiedererkennen blitze in seinen Augen.
„Hölle und Verdammnis. Samael der Engel. Isch fasse es nicht. Was zum Henker machst du denn hier bei meiner Herrin?†œ
„Herrin? Oh du bist rausgeflogen aus der Unterwelt? Ach so.†œ Das schien für ihn alles zu erklären.
„Momentmal, ihr beiden kennt euch?†œ Ungläubig sah Doc von einem zum anderen.
„Natürlich.†œ Antworteten beide gleichzeitig, dann verließ Sam ohne ein weiteres Wort zu sagen das Bad, um sich weiter durch das TV-Programm zu zappen. Doc zog eine Braue hoch und verkniff sich jeden weiteren Kommentar, langsam wunderte sie sich über gar nichts mehr.
„Woher wusstest du wo ich bin, und warum bist du nicht mehr in der Tierpension?†œ Doc sah Ef-Ef tadelnd an und hob ihn dann aus der Dusche. Sie durchsuchte ein kleines Schränkchen nach einem Fön.
„Isch freue misch auch wieder bei dir zu sein, wo auch immer das ist. Die habön misch dort tatsäschlich rausgeworfen. Kannst du dir das vorstellen? Isch habö eine Flasche Desinfektionsalkohol gefunden und gekostet, dann habö ich nachts über die Lautspröscheranlage gesungen und ein paar Witze erzählt. Das fanden sie gar nischt lustig und sie haben misch zurück zu dir verbannt. Diese Wiccas die dort arbeiten wissen wirklich eine Menge über Dämonen, und habön misch zu meinem Herrn geschickt. Wo sind wir hier? In Schottland? Kann ich mon Angel sehen?†œ Es wunderte sie nicht wirklich, dass er es sich dort verscherzt hatte. Auf der Seraphim hatte er auch so einige Nerven zum Zerreißen gebracht.
Mit großen Augen blickte er Jane an, die den Fön einsteckte und wortlos dem kleinen Kerl das Fell trocknete. Was sollte sie jetzt machen? Er sollte eigentlich bei dieser Mission nicht dabei sein, andererseits könnte er sich auch bei der Suche als nützlich erweisen und Sam war ja mittlerweile auch von der Partie. Da die beiden sich kannten, war es sicher kein Problem, dass der Hamster bei ihnen blieb.
„Ich bringe dich jetzt rüber zu Sam er kann dir alles erklären, ich will duschen!†œ

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Als sie erfrischt aus dem Bad kam, saßen sich Dämon und Engel auf dem Bett gegenüber und amüsierten sich prächtig. Es war um die Mittagszeit. Ein einzelner Sonnenstrahl schaffte es durch die schmutzigen Fenster und bündelte sein Licht auf dem Engel. Die beiden hatten irgendwoher etwas zu essen aufgetrieben. Sam deutete auf den kleinen Couchtisch vor dem Sessel auf dem ein Tablett mit einem köstlich duftendem Burger stand, über den sie sich sofort hermachte.
Dabei erfuhr sie, dass Sam Ef-Ef in ihre Mission bereits eingeweiht hatte, und dass er sich viel davon versprach, den Hamster im Team zu haben. Es schien ihn überhaupt nicht zu stören, anscheinend konnten die beiden sich sehr gut leiden.
„Lee Monade wird mir nachher ein paar Adressen von Clubs geben, in denen die hiesigen Gestaltwandler sich gern herumtreiben, und Ef-Ef kann für uns dort rumspionieren. Einen Hamster übersieht man ja schnell mal.†œ
„Oui oui, isch helfe dir gern mon ami. Die Schachtel der Petra finden wir schon. Wenn sie noch so riescht wie damals, als sie die bei uns in der Unterwelt hat anfertigen lassen, werde isch sie finden.†œ
„Du weißt von der Schachtel?†œ Völlig baff setzte sie sich auf den Rand des Bettes und sah abwechselnd zwischen den beiden hin und her.
„Naturelement. Die Schachtel ja, aber keine Ahnung was sie dann darin aufbewahrt haben. Misch möschtest du ja lieber abschieben. Dabei habe ich dir immer geholfen. Bei allem!†œ
„Ef-Ef es tut mir leid. Anfangs sah es auch nach einem kurzen Einsatz aus, der deutlich unkomplizierter verlaufen sollte. Ich hatte keine Wahl. Ich verspreche dir, wenn wir das hier erledigt haben, dann fahren wir sofort zu Angie und Duncan. Klingt das gut?†œ Ef-Ef grinste und krabbelte Doc aufs Bein.
„Deine Hose riescht muffig.†œ Liebenswert wie eh und je.
„Tja, meine Tasche mit den Wechselklamotten fliegt irgendwo in einer Schlucht rum.†œ
„Du bist aber auch zerstreut manschmal.†œ Die Einzelheiten schienen ihn nicht weiter zu interessieren.
Kichernd stand Sam auf und ging ins Bad. Als die Dusche wieder ertönte, winkte Ef-Ef Doc zu sich heran. Sie senkte den Kopf.
„Wo hast du denn den Engel aufgerissen? Ich bin von dir ja einiges gewöhnt, aber das hätte isch dir nischt zugetraut. Respekt. Isch hattö schon Sorge, isch muss misch mit diesem Werwolf rumschlagen. Ganz schön scharf dieser Engel was?†œ, flüsterte er ihr ins Ohr und zwinkerte verschwörerisch.
„Es ist nicht so, wie du denkst.†œ Ärgerlich merkte sie, wie sie leicht errötete.
„Ich habe ihn zufällig in Newgrange getroffen. Er verfolgt das gleiche Ziel wie wir, und er kennt den Orden und Sweetlife. Jetzt ist er unser Verbündeter und wir sind Partner im beruflichen Sinne†œ, antwortete sie ihm leise und mied bewusst seinen Blick.
„So so, beruflich, ich verstehe.†œ Der kleine Kerl grinste tatsächlich.
„Also, isch glaubö das sieht er aber anders. Er ist nett. Du solltest ihn nischt so schlescht behandeln wie die anderen armen Kerle. Außerdem sind Engel fast unbesiegbar, sowas kannst du gut gebrauchen, bei allem was bei dir so schief läuft.†œ Jane schnaubte und setzte ihn auf den Boden vors Bett.
„Dein Feingefühl hab ich am allermeisten vermisst.†œ Sie streckte sich auf dem Bett aus. Wenig später kam Sam aus dem Bad und setzte sich Ef-Ef in den Sessel. Bis er sich abends mit dem Barmann treffen wollte, hatten sie noch etwas Zeit um sich ausruhen. Sie sahen sich alle gemeinsam eine Talkshow an, und es überraschte sie nun auch nicht mehr, dass der Engel sich so etwas Niveauloses gebannt ansah. Ef-Ef und er schienen diesbezüglich auf einer Wellenlänge zu liegen. Irgendwann schlief sie dabei ein. Ein schmerzhaftes Zwicken am Ohrläppchen weckte sie im Morgengrauen. Sie hatte den restlichen Tag und die Nacht durchgeschlafen. Doc setzte sich auf und Ef-Ef grinste sie frech an.
„Endlisch! Du hast fast den ganzen Regenwald abgeholzt, und Sam hatte die Nacht gar keinen Platz im Bett, er musste auf dem Sessel schlafen!†œ
„Ich schnarche nicht!†œ Empörte sah sie ihn an.
„Komm, lass gut sein, sie hat doch wirklich nicht geschnarcht. Der Sessel ist auch sehr bequem. Er steckte den Dämon in seine Manteltasche und setzte sich neben Doc, die sich verschlafen und leicht beschämt die Augen rieb. Er hielt ihr einen Becher Kaffee hin, den sie dankbar entgegen nahm. „Hab ich solange geschlafen?†œ

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„Du hattest auch eine Menge nachzuholen. Ich war ja noch gestern Abend unten bei Lee, er hat mir die Adressen von zwei Clubs gegeben, wo wir unsere Nachforschungen anstellen können.†œ Er unterbrach sich und hielt ihr einen Schokomuffin unter die Nase. Dann fuhr er fort, während Jane kauend seiner angenehmen Stimme lauschte.
„Ich hab ihn gerade beim Frühstück unten getroffen. Er fährt jetzt gleich nach Belfast und nimmt uns mit dorthin. Ein Freund von ihm hat dort ein Hotel, und er meinte, er würde uns dort ein Zimmer besorgen. Wenn das erledigt ist, sollten wir uns neu einkleiden. Dann machen wir uns auf die Suche nach den Wieseln. In Ordnung?†œ
„Ja klar. Aber warum legt er sich so für uns ins Zeug, findest du das nicht seltsam?†œ
„Er hat mit den Wieseln noch eine Rechnung offen. Sie haben Spielschulden bei ihm, und er möchte, dass sie ihre Quittung bekommen. Die drei sind ziemlich unbeliebt. Wenn Lee mich angelogen hätte, wäre mir das aufgefallen. Vertrau mir Jane†œ
Er hatte wirklich an alles gedacht. Froh, sich keine Gedanken machen zu müssen, stand sie auf, reckte sich. Dann verließen die drei das Zimmer. Vor dem Pub stand eine schwarze schnittige Limousine mit laufendem Motor. Als sie davor standen, schwang eine der hinteren Türen auf und der vierschrötige Wirt winkte sie zu sich herein. Sam und Doc nahmen gegenüber von ihm Platz, und Lee gab dem Chauffeur ein Zeichen, dass er losfahren sollte. Doc war ziemlich überrascht, dass der Werbär so einen Luxusschlitten fuhr, aber sie stellte keine Fragen. Auch Ef-Ef benahm sich ausnehmend gut und schwieg in Sams Manteltasche. Zwei Stunden später kamen sie in der Abenddämmerung in Belfast an. Der Wagen hielt vor einem urig wirkenden Hotel namens „The Shamrock Inn†œ. Lee ging hinein und bat die beiden draußen zu warten. Wenig später kam er fröhlich pfeifend wieder hinaus und drückte ihnen grinsend eine Schlüsselkarte in die Hand. Wie versprochen hatte Lee es geschafft, ihnen in der ausgebuchten Stadt noch ein Zimmer zu besorgen.
„Das Zimmer wird noch gereinigt, aber in zwei Stunden könnt ihr dort einchecken.†œ Dann verabschiedete er sich und fuhr davon. Doc blickte Sam an. Der zuckte nur mit den Schultern, hakte sich bei ihr ein und zog sie mit sich die Straße entlang.

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„Na komm, lass uns in die Stadt gehen und dann was Essen. Schließlich brauchen wir dringend ein paar neue Klamotten.†œ Jane schmiegte sich an ihn und sie zogen los.
Wie sich herausstellte, war Sam ein ausgezeichneter City-Guide und ein noch besserer Shoppingberater. Normalerweise ging sie nicht gerne einkaufen, aber in seiner Gesellschaft machte ihr die Erkundung von Belfast wirklich Spaß. Sogar Ef-Ef benahm sich richtig gut, er schlummerte seelenruhig in ihrer Tasche.
Zum Glück hatte sie die Kreditkarte von Sweetlife in die Hosentasche gesteckt, sodass der Engel und sie das Stück Plastik regelrecht zum Glühen brachten. Als das Auto die Klippen hinabgestürzt war, hatten sie bis auf das, was sie am Leib trugen, nichts übrig behalten.
Deshalb hatte sie auch kein schlechtes Gewissen, als sie sich neben neuen Jeans, einem hellgrauen Rollkragenpullover, ein Paar Schuhen und etwas Unterwäsche auch ein neues lilafarbenes Notebook und ein Abendkleid kaufte. Nach einem kleinen Snack, machten sich die beiden auf den Rückweg.
Ganz gentlemanlike trug er die Einkäufe und hielt er ihr die Hoteltür auf. Als sie vor ihm in das Foyer trat, stürmte eine riesenhafte sehr kurvige Blondine, die hinter dem Tresen gestanden hatte, auf sie zu. Kreischend rauschte sie an Doc vorbei. Mit einem kleinen Sprung fiel sie Sam um den Hals. Der wirkte überrascht und verlegen, ein Ausdruck, den Jane zum ersten Mal in seinem Gesicht sah.
„Rosi! Wow… ich bekomme keine Luft. Was machst du denn hier?“ Sie riss ihre ohnehin schon riesigen blauen Augen auf und boxte ihm kumpelhaft auf die Schulter. Dann kralle sie sich seine Hand und zog ihn in Richtung Empfangstresen. Als sie so neben ihm her trippelte, folgte Doc den beiden und lauschte dem piepsigen Plappern. Es gefiel ihr überhaupt nicht, wie diese aufgetakelte Tusse sich an Sam klammerte, und bedachte sie mit einem finsteren Blick.
„Ich bin hier seit kurzem die Geschäftsführerin. Lee hat mir gar nicht erzählt, für wen ich die Honeymoon-Suite freimachen sollte. Du ahnst ja nicht, welche Umstände mir das gemacht hat. Ich hoffe, das Pärchen, das eigentlich dort gewohnt hat, erzählt nichts rum. Ich habe nämlich behauptet, wir hätten einen Kakerlakenbefall. So, und jetzt erzähl mal, was dich hierher verschlagen hat. Du kommst nach Belfast ohne mich vorher anzurufen?†œ Sie zog mit ihren glänzenden knallroten Lippen einen Schmollmund, der Doc irgendwie sofort an ein Schlauchboot erinnerte.
Rosi? Diese Frau sah einfach unmöglich aus, fand Doc. Die Haare waren wasserstoffblond gefärbt und zeigten einen 5 cm breiten roten Ansatz, im Gesicht klatschte tonnenweise Makeup. Ein blendend pinkes Stretchoberteil umspannte ihre gewaltige Oberweite und untenrum trug sie einen Lackminirock, der auch locker als Gürtel durchgegangen wäre. War das sein Typ Frau? Mittlerweile hatte Sam sich gefangen und legte freundlich einen Arm um Rosi. Doc beobachtete die zwei und wurde zunehmend ärgerlicher.
„Wir sind auf der Suche nach jemandem und es hat sich zufällig ergeben, dass wir hier in der Stadt gelandet sind. Wenn du hier arbeitest und Lee deinen Boss kennt, dann kann dieser Laden ja nur dem alten Phil Igran gehören.†œ
„Stimmt, ach die guten alten Zeiten… nicht wahr†œ, säuselte Rosi und zwinkerte ihm dabei zu. „Hoffentlich können wir die später noch ein bisschen auffrischen, aber jetzt möchtest du bestimmt auf dein Zimmer. Hätte ich gewusst, dass du mit… öhm….†œ Erst jetzt schien sie Doc zu bemerken und scannte sie mit einem Blick von oben bis unten. Sie nickte ihr kurz zu, und dann schnellten ihre Augen sofort wieder zu Sam.
„… Begleitung hier bist, hätte ich versucht zwei Einzelzimmer zu besorgen. Das ist im Moment zwar schwierig, aber soll ich mal nachsehen, ob sich da was machen lässt?†œ
Sam schüttelte den Kopf und bedankte sich bei Rosi, die sie zum Lift begleitete. Als sich die Fahrstuhltür geschlossen hatte, konnte Doc nicht länger schweigen.
„Wer zur Hölle war das denn bitte?†œ, platzte sie heraus.
Sam blickte auf sie herab, und ein kleines Lächeln stahl sich auf sein Gesicht.

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„Das war Rosi Nenkuchen. Sie ist ein Leprechaun. Ich kenne sie jetzt schon seit ungefähr 50 Jahren. Ich habe sie auf dem Junggesellenabschied von Liam Thorpe kennengelernt. Seitdem haben wir uns immer mal getroffen, wenn ich in Belfast war. Das letzte Mal ist aber bestimmt schon 10 Jahre her.
„Ist dir klar, dass man den Schönheitschirurgen für diesen Ganzkörperunfall eigentlich verklagen sollte? Meine Güte und ich dachte, Engel würden im Zölibat leben oder hätten wenigstens Stil. Und was sucht die auf einer Jungesellenenparty? Hat sie da gekellnert? Liam? Ein Verwandter von Duncan?†œ Obwohl Doc wusste, dass sie kein Recht dazu hatte, konnte sie sich nicht bremsen, und die Vorwürfe über diese zweifelhafte Bekanntschaft sprudelten nur so aus ihr heraus.
Sam amüsierte sich und schüttelte lachend den Kopf. War sie tatsächlich eifersüchtig auf Rosi?
„Jane, sie und ich sind wirklich nur befreundet. Um genau zu sein, hüpfte sie damals aus einer Torte. Liam ist Duncans kleiner Bruder. Früher haben wir öfter zusammen einen drauf gemacht.†œ Doc zog eine Braue hoch und malte dieses Bild in Gedanken aus. Er konnte ja nicht lügen und so unglaubwürdig das auch klang, es war wohl die Wahrheit. Docs bissige Bemerkung, dass es sich wohl um eine riesige Torte gehandelt haben musste, ging unter als sich in dem Moment die Aufzugstüren öffneten.
Die Honeymoon-Suite befand sich im 6. Stockwerk. Wenn man grün mochte, konnte man sich hier wirklich wohlfühlen. Passend zum Namen des Hotels waren die Vorhänge, die Bettwäsche, das Sofa und sogar die Fliesen im Bad mit vierblättrigen Kleeblättern übersät. Doc ließ sich gleich auf dem grünen Sofa nieder und testete das neue Notebook. Nach kurzer Installation der notwendigen Tools, checkte sie die Homepages der beiden Clubs, die Lee Sam auf einen Zettel geschrieben hatte.
„Das 12 Moons oder Swallows Nest, was meinst du, wo versuchen wir es zuerst?†œ, fragte Doc Sam, der sich neben sie gesetzt hatte und ein paar Erdnüsse aus der Minibar naschte. Er entschied sich für das Swallows. Dann ging noch mal runter zu Rosi, damit sich Doc in aller Ruhe frisch machen konnte. Nach einem ausgiebigen Bad und einem Telefonat mit Sweetlife, zog Doc das schwarze Kleid an, das sie gekauft hatte. Zufrieden schlüpfte sie in ihre Stiefel, versteckte einen ihrer schwarzen Dolche im Schaft und wartete, dass auch Sam, der mittlerweile nach seinem Besuch bei Rosi wieder aufgetaucht war, sich umgezogen hatte. Als er aus dem Bad kam, stockte ihr der Atem. Er hatte sein Haar zu einem Zopf zusammengebunden und trug zu seiner lockersitzenden Jeans ein waldgrünes Hemd. Auch wenn sie auf einer Mission waren, freute sie sich insgeheim mit ihm auszugehen. Nachdem sie den laut protestieren Ef-Ef ins Bad gesperrt hatten, gingen sie zu Fuß zum Swallows Nest. Der Club lag nur zwei Blocks weiter entfernt.
Vor der Tür hatte sich eine lange Warteschlange gebildet, der Türsteher war allerdings eine Frau, die ganz offensichtlich gefallen an Sam gefunden hatte. So wurden sie durchgewunken und konnten direkt eintreten.
Im Club war es brechend voll. Jane schien das nichts auszumachen. Sie bahnte sich einen Weg durch die Masse zur Theke und wurde direkt bedient. Wäre Sam der Barkeeper gewesen, er hätte auch alle anderen für sie warten lassen. In diesem hautengen Kleid sah sie zum Anbeißen aus und er konnte seinen Augen nicht von ihr lassen. Strahlend drehte sie sich mit zwei Cocktails in den Händen zu ihm um, dann bedeutete sie ihm mitzukommen. Die Musik war unglaublich laut, der Bass wummerte so stark, dass man das Gefühl hatte zu vibrieren. Sie machten sich auf den Weg in eine hintere Ecke. Beim Überqueren der Tanzfläche wurde er immer wieder an sie gedrückt. Er legte seine Hände an ihre Taille, bis sie einen freien Tisch ansteuerte und stehen blieb. Von dort aus konnten die beiden die gesamte Tanzfläche sowie auch die Theke gut überblicken. Leider waren keine Wiesel in Sicht. Nach einer geschlagenen Stunde bahnte Jane sich durch die Massen in Richtung Toilette. Als sie den Waschraum wieder verließ, erhaschte sie einen Blick auf einen bekannten rothaarigen Mann, der ihr entgegenkam. Jetzt oder nie.

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Sie hatte keine Zeit Sam davon in Kenntnis zu setzen, dass sie Patrick entdeckt hatte. Sie schubste ihn und zerrte ihn mit einem Ruck zu dem nahe gelegen Hinterausgang. O´Connely, der ziemlich angetrunken war, leistete vor Überraschung keinerlei Widerstand. Selber schuld! Der Hinterausgang mündete in einer dunklen Gasse, in der es menschenleer war. Einige Müllcontainer, hinter denen sich ein paar Ratten tummelten, verdeckten die Sicht auf sie. Über der Türe flackerte eine gelbe Neonröhre und verlieh der Umgebung eine zwielichtige Atmosphäre. Ein perfekter Ort für einen kleinen Plausch unter vier Augen. Er sah sie verdutzt an und langsam dämmerte ihm, wen er da vor sich hatte. Jane hielt ihn, mit eisernem Griff an der Kehle, fest an die Wand gedrückt. Gegen Sam hatte sie zwar keine Chance, aber vielen anderen Kreaturen war sie überlegen.
„Glaub mir, keine Frau die etwas auf sich hält, würde dich wortlos abschleppen, du Idiot. So, und nun erzählst du mir, wo du die Schachtel versteckt hast.†œ Seine verschlagenen Augen verengten sich und plötzlich spuckte er ihr mitten ins Gesicht. Jane verzog keine Miene und landete mit ihrer Faust direkt auf seiner Nase, die laut knirschte als sie brach. Patrick lachte.
„Du wirst sie nicht bekommen, du Miststück!†œ Doc fackelte nicht lange und verpasste ihm auf direktem Weg eine ihrer Energiekugeln. Zuckend sank er auf dem Boden zusammen und blieb bewegungslos liegen. Im Begriff Sam zu holen, hörte sie ein Klicken hinter sich.
„Hände hoch und langsam umdrehen, sonst puste ich dir dein Gehirn weg!†œ Ruhig folgte sie dieser Anweisung. Neben den Müllcontainern stand ein nackter Mann, der große Ähnlichkeit mit Patrick hatte. Er sah etwas jünger aus, demnach musste es sich um Kevin handeln.
„Hast du hier mit den Ratten am Müllcontainer gespielt? Hat Mami dir das denn erlaubt?†œ Da flog die Tür zum Club auf und Sam trat in die Gasse. Perfektes Timing. Kevin riss die Waffe herum. Er sah in Sam die größere Gefahr und drückte ab. Die Kugeln prallten wie Hagelkörner von ihm ab. Gemächlich schlenderte der Engel auf den Gestaltwandler zu und stellte sich zwischen ihn und Jane, um sie aus der Schusslinie zu bringen. Kevin schoss sein ganzes Magazin leer, dann ließ er die Waffe fallen, und die Luft um ihn herum begann zu flirren.
„Jane, er wandelt sich, bleib du hier bei Patrick, ich schnapp mir den hier …†œ
Kevins Knochen knackten und knirschten bei der Verwandlung seines Körpers in ein Wiesel. Mit einem kurzen Fiepen rannte er wie ein geölter Blitz aus der Gasse. Da begann auch die Luft um Sam herum zu flirren, die unangenehmen Geräusche blieben aber aus. Stattdessen war er einfach verschwunden. Unsichtbar, das erklärte auch, warum sie ihn in Newgrange damals nicht bemerkt hatte. Nervös tigerte sie die Gasse auf und ab, rauchte eine Zigarette nach der anderen bis er endlich, eine gefühlte Ewigkeit später, wieder auftauchte.

Fortsetzung folgt …

Kapitel 1: „Seitensprung der Sisterhood – Doc Jane in geheimer Mission“ findet sich hier!

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Black Dagger for crazy Ladies: NS-Island I

Black Dagger for crazy Ladies: NS-Island

Angie, Doc, Kerstin, Lilli und Lucy sind bekennende Fans der Autorin J.R. Ward und der von ihr geschriebenen, mittlerweile 14-teiligen, Black-Dagger-Serie.

KreuzfahrtschiffDie fünf Ladies haben sich hier vor ca. einem Jahr zufällig getroffen und halten seitdem einen regen Austausch über die Liebe und das Leben, Lust und Frust – in erster Linie allerdings über Männer! Unermüdlich sind sie auf der Suche nach der Idealbesetzung der  anziehenden Helden der Bruderschaft der Black Dagger. Logisch, dass die im wahren Leben schwer zu finden sind. 😉

Limousine mit Chauffeur Marcus

Und so entwickelt sich das abwechslungsreiche, amüsante Leben auf NS-Island ständig weiter. Die „Schnittensammlung“ wächst stetig. Inzwischen wurden fast 500 in den illusteren Kreis aufgenommen. Einige besonders nette Exemplare haben es sogar in die Moderatoren-Crew des beliebten Radiosenders der Insel geschafft. (Derzeit sind die Ladies auf der Suche nach einem dritten neuen Praktikanten) 😉

Um sich die Zeit zu vertreiben, haben die Ladies in ihrem Insel-Domizil einen Online-Roman mit dem „Arbeits-Titel“ Black Dagger Ladies Online geschrieben. Das Projekt ist seit Juli 2010 abgeschlossen. Seitdem schreiben die Ladies an einer Fortsetzung unter dem Titel „Seitensprung der Sisterhood“. Nachdem am Ende des ersten Romans alle wieder mehr oder weniger wohlbehalten zur Insel zurückgekehrt waren, sind sie nun schon wieder unterwegs zu neuen Abenteuern. Während Doc Jane nach einer geheimnisvollen Schachtel in Irland sucht, haben sich Angie, Kerstin und Lilli auf den Weg nach Schottland, Neuseeland und Argentinien gemacht. Alle wollen die Verwandtschaft ihrer neuen Geliebten kennenlernen. Da warten schon so einige Überraschungen auf sie. Na ja, wie sich zeigt, sind die Familienangehörigen von Vampiren und Drachen auf jeden Fall ungewöhnlich.

Das Ergebnis ist immer noch lustig, schräg und ein wenig chaotisch  – und im Vordergrund steht auch immer noch der Spaß an der Sache! 😆

Seitensprung der Sisterhood – Kerstin unter Drachen

Seitensprung der Sisterhood

Kapitel 1
Kerstin unter Drachen

Wie lange der Flug schon gedauert hatte, wusste Kerstin nicht. Drago und sie waren schon kurz nachdem sie an Bord gegangen waren eingeschlafen. Nun hatte sie Dragos Stimme geweckt und verschlafen öffnete sie die Augen. Es hörte sich an, als würde er Selbstgespräche führen. Da wurde ihr bewusst, dass er telefonierte. Nachdem er bemerkt hatte, dass Kerstin aufgewacht war, verabschiedete er sich kurz und knapp und drehte sich zu ihr.
„Ah, er hat mit seiner Schwester telefoniert“, dachte sie.
„Ja, das habe ich“, beantwortete er ihre Gedanken und zwinkerte ihr dabei zu. An die Gabe des Gedankenlesens hatte Kerstin sich noch immer nicht richtig gewöhnt. Sie streckte sich und hatte plötzlich das Verlangen nach einem großen Pott Kaffee. Mit kleinen Tassen konnte sie nichts anfangen. Gerade als sie Drago bitten wollte ihr eine zu besorgen, kam jemand mit einem Tablett voller kleiner Köstlichkeiten aus dem vorderen Teil der Kabine. Und es duftete nach Kaffee. Kerstin wurde ganz kribbelig. Als sie tatsächlich eine große Tasse Kaffee in den Händen hielt, zeigte sich ein breites glückliches Grinsen auf ihrem Gesicht. Drago lachte laut.
„Was?†œ, fragte sie leicht irritiert.
„Du siehst einfach himmlisch aus, wenn du dich über so etwas Banales wie eine große Tasse Kaffee freust. Ich wusste nicht, dass du so leicht zufrieden zu stellen bist“, neckte er sie. Kerstin ließ sich aber nicht ärgern und streckte ihm nur die Zunge raus. Das war nicht sehr damenhaft, aber ungemein befreiend. Drago lachte wieder. Nachdem sie den ersten Schluck genossen hatte, blickte sie Drago ernst an. Jetzt oder nie, dachte sie im Stillen, schließlich blieb ihr nicht mehr viel Zeit bis zur Landung und bislang war er ihren Fragen nach seiner Familie stets ausgewichen.
„Okay, mein Schatz. Dann erzähl mir doch bitte ein bisschen von deiner Familie und von Neuseeland. Was muss ich beachten. Welches Fettnäpfchen sollte ich besser aus lassen?†œ Sie wusste aus Erfahrung, wenn es irgendwo ein Fettnäpfchen gab, traf sie es bestimmt. Drago lehnte sich in seinem Sitz zurück und blickte aus dem Fenster. Kerstin versuchte seine Gedanken zu lesen, aber er verbarg sie vor ihr. Und das gefiel ihr nicht. Nervös nahm sie einen weiteren Schluck Kaffee. Aber er antwortete noch immer nicht.
„Oh, mein Gott, ist es so schlimm mit mir, dass du nicht weißt, wo du anfangen sollst?“ Leichte Panik stieg in ihr auf. Drago drehte sich zu ihr und nahm ihre Hand.
„Nein, eigentlich sind da keine Fettnäpfchen, in die du treten könntest. Ich möchte dich nur darum bitten, dass du dich nicht zu sehr erschreckst.“ Kerstin schaute ihn verdutzt an. Er konnte die kleinen Fragezeichen in ihren Augen förmlich sehen.
„Nun, es ist so“, begann er, „dass meine Familie seit Anbeginn in einem Vulkan lebt. Er heißt Taranaki. Nun ja, …und sie leben dort so wie sie geboren wurden – also in Drachengestalt. Es ist der einzige Ort, an dem sie sie sich so geben können wie sie möchten.†œ Er machte eine kleine Pause, um Kerstin Gelegenheit für einen Aufschrei oder Ähnliches zu geben, aber sie war völlig sprachlos. „Natürlich wissen einige Bewohner in dem angrenzenden Tal Bescheid†œ, fuhr er fort, „aber sie akzeptieren meine Familie wie sie ist und profitieren von unserer Stärke und genießen unseren Schutz. Ich hoffe, du kannst das verstehen …?“ Sprachlos starrte Kerstin ihn an. Nachdem sie sich wieder gefangen hatte, sagte sie nur:
„Okay, das verstehe ich.“ In Wirklichkeit verstand sie natürlich gar nichts. Sie wusste zwar, dass Drago einer Drachenfamilie entstammte, aber auf die Idee, dass sie es nun mit leibhaftigen Drachen zu tun bekommen sollte, wäre sie nie gekommen. Ermutigt durch Kerstins cooler Reaktion und sichtlich erleichtert, erzählte Drago also weiter.
„Wir zeigen uns äußerst selten einem Menschen in Drachengestalt. Aber auch bei uns gibt es ein paar Exemplare die, nennen wir es mal …unverbesserlich …sind. Dazu gehören meine Brüder, mein Vater und mein Cousin.

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Ich glaube, man könnte sie mit Eigenbrötlern in der Menschenwelt vergleichen.“ Kerstin musste lachen, sie glaubte ihm natürlich kein Wort.
„Ach so, nach dem Motto, entweder du akzeptierst mich wie ich bin, oder du lässt es ?“
„Ja, so ungefähr. Was ich dir damit eigentlich sagen wollte, ist, erschreck dich bitte nicht, wenn dir bei der Begrüßung ein Drache seine Pranke reicht.“ Kerstin strahlte Drago an und gedanklich ließ sie ihn wissen, dass es für sie kein Problem war. Ganz im Gegenteil, sie freute sich inzwischen richtig darauf endlich Dragos ungewöhnliche Familie kennenzulernen. Dargo war offensichtlich ein riesiger Stein vom Herzen geplumpst. Er strahlte sie an, nahm ihr Gesicht in seine Hände und küsste sie leidenschaftlich. Durch die kleinen Fenster des Flugzeugs trafen die ersten Sonnenstrahlen in die Kabine. Beide schauten hinaus und hießen den sich ankündigenden Morgen willkommen. Es war atemberaubend zu sehen, wie sich die Sonnenstrahlen durch die dicken Wolken brachen. Durch einige Lücken in der Wolkendecke konnten sie plötzlich Wälder und Felder erkennen. Genau in diesem Moment erklang über den Lautsprecher die Aufforderung sich anzuschnallen. Kerstin atmete tief durch, denn so langsam wurde sie doch wieder nervös.
Als sie gelandet waren, wartete am Ende der Rollbahn eine große Limousine; genauer gesagt ein Hummer. Kerstin blieb der Mund offen stehen. Sie hatte ja schon viele schöne Autos gesehen, aber dieses war ein besonderes Exemplar. Vor ihnen stand ein original H2 Brabus. Überall glänzte Chrom. Die 28 Zoll Felgen steckten in 325/35er Schlappen. Der Motor lief als sie darauf zu gingen. Sie konnten förmlich die Kraft des 6,2 Liter V8 Motors mit seinen gestärkten 480 PS knurren hören. Die FOX-Sport-Auspuffanlage tat sein übriges dazu. Ein Geräusch, das bei Kerstin in der Magengegend ein angenehmes Kribbeln freisetzte. Drago schob die immer noch verdutzte Kerstin in Richtung Auto und öffnete eine der Flügeltüren, während einer der Angestellten das Gepäck im Heck verstaute. Drago musste über Kerstins Gesicht lachen.
„Ah, also nicht nur mit Kaffee kann man dich zufrieden stellen, sondern auch mit schicken Autos?†œ Aber Kerstin beachtete ihn gar nicht. Auch der Innenraum war ein Traum. Ein cremeweißer Teppich mit Trivlemuster bedeckte den Boden. Farblich dazu passend waren die Pilot-Sitze in Alcantara überzogen. Zwischen den Sitzen waren kleine Tischchen angebracht, die genügend Platz boten, um
Getränke abzustellen. Für angenehmes Licht sorgten eine beleuchtete Bar und ein glitzernder Sternenhimmel.

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Diverse Displays und eine Anlage mit Subwoofer-Lautsprechern rundeten das luxuriöse Ambiente ab. Im Hintergrund war Linkin Park zu hören.
„Äh, wie viel Watt hat die Anlage?“ Eigentlich eine überflüssige Frage, aber Kerstin wollte es genau wissen.
„Oh“, sagte Drago, „ich glaube, so um die 1360 Watt“. Wow, mehr als sie erwartet hatte. Langsam setzte sich der Wagen fast schwebend in Bewegung. Das Fahrwerk war so gut gefedert, dass man keine Bodenwelle spürte. Selbst der Champagner, der in Gläsern bereitgestellt war, schwappte nicht über.
„Das nenn ich mal ein ausgewogenes Fahrgefühl†œ, sagte Kerstin voller Ehrfurcht und strich dabei mit den Fingerspitzen abwesend über den Sitz.
„Hast du dich denn immer noch nicht sattgesehen an dem Ding… ähm … ich meine Auto?“, fragte Drago etwas schnippisch. Als Kerstin Drago ansah, musste sie laut lachen.
„Hey, du bist doch wohl nicht eifersüchtig auf ein Auto? Entschuldige, ja, du hast recht, aber es ist schon sehr lange her, dass ich so einen traumhaften Wagen gesehen habe. Ich habe doch nun mal eine Schwäche für schöne Autos.“ Drago verdrehte die Augen.
„Na klasse, dann werde ich wohl Luft sein, wenn du erst in unsere Garage gesehen hast… Kerstin horchte auf.
„Ihr habt noch mehr Meisterwerke wie dieses hier?“ Ihre Augen glänzten.
„Ja, haben wir. Oh man, hätte ich doch nur nichts gesagt“, antwortete Drago völlig genervt. Kerstin rückte ein Stück näher an Drago heran und legte ihre Arme um seinen Hals. Er nutzte die Gelegenheit und zog sie auf seinen Schoß.
„Sorry, ich wollte dich nicht nerven, wie kann ich das nur wieder gutmachen?“, sagte Kerstin und schaute ihm dabei tief in die Augen. Drago nahm Kerstins Gesicht in seine Hände und küsste sie innig. Sie spürte eine leichte Hitze in sich aufsteigen und küsste ihn leidenschaftlich zurück. Seine Hände wanderten forschend ihren Rücken entlang und verursachten eine leichte Gänsehaut. Kerstin spürte förmlich wie sich jedes einzelne Härchen aufstellte. Plötzlich wurde die Wagentür aufgerissen, die  fast aus den Angeln flog. Völlig überrascht starrten beide hinaus. Ein Schrei war zu hören und jemand kam in das Wageninnere gestürmt.

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Kerstin war im Begriff sich eine einigermaßen gute Verteidigungsposition suchen, als Drago plötzlich laut auflachte. Erstaunt sah sie ihn an und folgte dann seinem Blick zur Wagentür. Da stand doch tatsächlich ein kleiner Drache vor ihnen. Ob männlich oder weiblich ließ sich auf Anhieb nicht so genau sagen. Nicht größer als 1,50 Meter schimmerte er giftgrün, eine orangefarbene Federboa zierte seinen dünnen Hals. Er hatte kleine Flügel, die von der Größe her überhaupt nicht zu dem Rest seines massigen Körpers passten. Mitten im Hummer stehend, nahm er die Position eines albernen US-Talkmaster an, streckte die Hände in die Höhe und rief voller Begeisterung:
„Tadaaa… unser Drago ist wieder da.“ Dabei quietschte er voller Begeisterung und lachte laut. Dann kam er auf Drago und Kerstin zugestürmt, sodass der ganze Wagen anfing zu wackeln. Dass er die beiden in einem ganz intimen Moment gestört hatte, schien er gar nicht bemerkt zu haben. Er hatte nur noch Augen für Drago. Etwas unsanft schob er seinen kleinen massigen Körper an Kerstin vorbei und nahm Drago in seine kurzen massigen Arme. Er quietschte wieder so laut, dass Kerstin sich die Ohren zuhalten musste.
„Oh Drago, bist du endlich mal wieder zu Hause. Hast dich die ganze Zeit nicht gemeldet, du böser Junge. Aber jetzt bist du endlich wieder da †“ wie schööön.“ Er ließ Drago gar nicht zu Wort kommen. Sanft aber bestimmt schob Drago den kleinen Drachen von sich und strahlte ihn an.
„Na, Gunther, meine kleine Tucke. Alles gut im Vulkan?“, fragte Drago. Gunther plusterte seine Bäckchen auf.
„Du sollst mich doch nicht immer so nennen“, antwortete der Drache und boxte Drago in die Rippen. Die vertraute Art der beiden ließ Kerstin schmunzeln. Dann spürte sie Gunthers Blick auf sich und wurde sofort wieder ernst. Er neigte den Kopf zur Seite und forderte Kerstin mit einer Handbewegung auf, sich einmal im Kreis zu drehen. Etwas widerstrebend tat sie es. Als sie ihre Pirouette beendet hatte, strahlten sie zwei riesige bernsteinfarbene Augen an. Kerstin hatte so eine leichte Vorahnung von dem, was jetzt passierte. Sofort legte er seine kleinen Arme um ihre Taille und drückte sie so stark an sich, das Kerstin das Gefühl hatte zu ersticken. Sie erwiderte seine Umarmung, wobei sie sich etwas nach unten beugen musste, da ihr der Drache gerade bis unter die Brust reichte. Die winzigen Stacheln seiner Frisur kitzelten an ihrer Nase. Sie blickte auf das sehr blonde Haar und dann zu Drago. Der zuckte nur mit den Schultern und wartete darauf, dass Gunther sich endlich von Kerstin löste. Aus Erfahrung wusste er, dass es keinen Zweck hatte die unendliche Freude der kleinen Frohnatur zu unterbrechen. So war Gunther nun mal, nichts und niemand vermochte es ihn aus seiner Stimmung reißen. Er hatte immer ein Lächeln und auf den Lippen und plapperte gern wie ein Wasserfall. Endlich ließ Gunther von Kerstin ab und wandte sich wieder an Drago.
„Oh, sie ist so süß. Ein bisschen dünn vielleicht aber, mein Gott, ist die süüüß“, quietschte er wieder. „Hach, wir werden bestimmt gute Freunde, nicht wahr?†œ Erwartungsvoll schaute er Kerstin an und diese konnte nur bestätigend nicken.
„So, nun wollen wir aber reingehen. Die anderen warten auch schon, und du weißt, dass deine Mutter es hasst, wenn man sie warten lässt. Husch, husch.†œ Erst jetzt hatte Kerstin die Möglichkeit sich um zusehen. Der Wagen hatte direkt vor einer Höhle gehalten. Ein riesiges Holztor, das bestimmt 10 Meter in die Höhe ragte und mit imposanten Schnitzereien verziert war, versperrte den Weg. Auf dem Holz waren verschiedene Kampfszenen zu sehen, bei denen Kerstin nicht erkennen konnte, aus welcher Zeit sie stammten. Drago bemerkte ihr Interesse und sagte:
„Das haben unsere Vorfahren anfertigen lassen. Immer wenn einer von ihnen aus einem Kampf zurückgekehrt war und seine Geschichten erzählt hatte, begannen einige der Zimmermannsleute mit den Schnitzereien. Du siehst also einen Teil unserer Familiengeschichte an dem Tor.

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Kerstin hatte seinen Worten gelauscht und war noch immer dabei die kunstvollen Schnitzereien zu betrachten, als Gunther plötzlich zu schnattern begann:
„Wenn die Süße jetzt nicht langsam ihren zarten Hintern in Richtung Eingangshalle schiebt, dann werde ich wirklich böse.“ Dabei versuchte er ein strenges Gesicht aufzusetzen, was ihm aber in Anbetracht seines Aufzugs mit der Federboa nicht ganz gelang.
„Oh Himmel, wir können später noch gucken. Aber wenn wir zu spät zum Dinner kommen, kriegen wir mächtig Ärger mit Tante Margret. Das ist Dragos Mutter. Und glaub mir, Schätzchen, das möchte niemand.“ Kerstin musste grinsen.
„Was macht sie dann? Schickt sie uns ohne Mittagessen ins Bett?“ Gunther drehte sich abrupt zu ihr um.
„Pscht, lass sie das bloß nicht hören. Meine Tante ist noch ein Drache aus der alten Generation. Sie legt sehr viel Wert auf Pünktlichkeit und Etikette. Also, keine Ellenbogen beim Essen auf den Tisch und es wird nicht geschlürft mit der Suppe. Die Unterhaltung wird auf ein Minimum beschränkt und, ach ja, wenn Tante Magret mit dem Essen fertig ist, sind auch alle anderen fertig. Verstanden?“ Kerstin verdrehte die Augen und sah Drago an.
„Das ist jetzt nicht sein Ernst, oder? Sag mir, dass er das nicht ernst meint.“ Drago presste seine Lippen so fest aufeinander, dass nur noch ein kleiner, weißer Strich zu sehen war. Dann brachen Gunther und er in schallendes Gelächter aus. Kerstin war völlig irritiert.
„Was?†œ, fragte sie.
„Das war nur ein Scherz. Natürlich ist meine Mutter eine Drachendame der alten Dekade, aber so staubige Ansichten hat sie nun doch nicht. Gunther macht sich da immer einen Spaß draus. Er und sein Freund George lieben es so ihre Späßchen zu treiben.“ Kerstin blieb der Mund offen stehen.“ Sein-Freund ? Du meinst Gunther ist wirklich…
„Schwul, vom anderem Ufer, eine Tucke – keine Transe, hast du damit ein Problem?“, fragte Gunther leicht gereizt.
„Nein, nein, ich bin nur überrascht“, sagte Kerstin schnell. Und um Gunther davon zu überzeugen, dass ihr das wirklich nichts ausmachte, beugte sie sich zu ihm runter und gab ihm einen dicken Kuss auf die Stirn. Woraufhin er wieder anfing zu quietschen.
„So, das wäre geklärt“, sagte Kerstin, „und nun möchte ich den Rest der Familie kennenlernen.“ Drago nahm ihre rechte Hand, weil an der linken schon Gunther hing, und zusammen gingen sie durch das riesige Tor in eine Halle, deren Ausmaß man kaum beschreiben konnte. Das Tor war schon eindrucksvoll, aber die Halle war gigantisch. In die Wände des Vulkansteins waren lebensgroße Figuren von Drachen, aber auch von menschlichen Gestalten gehauen. Wieder stand Kerstin sprachlos staunend mit großen Augen da.
„Das ist so etwas wie unsere Ahnentafel. Andere haben Gemälde, wir haben Skulpturen.“
Kerstin studierte Dragos Gesicht, aber er schien es diesmal wirklich ernst zu meinen.
„Wow†œ, brachte sie gerade noch heraus, als Gunther sie schon an der Hand zupfte.
„Können wir jetzt weiter oder fällst du gleich in Ohnmacht, bei so viel Familiengeschichte?“, dabei zog er sie schon weiter durch die imposante Halle, deren viele verschieden große Türen auf ein weiteres großen Innenleben deuteten. Der Boden war aus schwarzem Marmor, brennende Fackeln an den Wänden sorgten für ein angenehmes Licht.
Dann standen sie vor einer Flügeltür, hinter der ein angeregtes Gemurmel zu hören war. Kerstin atmete noch einmal tief durch, woraufhin Drago und Gunther gleichzeitig ihre Hände drückten, ganz so, als wollten sie ihr Mut machen. Als die Türen sich öffneten verstummte das Gemurmel und Kerstin sah in einen Saal voller Drachen und Menschen.

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„Oha†œ, dachte Kerstin und versuchte nicht ganz so wie ein Fisch an Land zu gucken. Es gelang ihr nur nicht, und Gunther amüsierte sich über ihren Gesichtsausdruck so sehr, dass er laut anfing zu lachen. Er verstummte jäh, als Drago ihn kräftig in den Arm kniff. Alle im Saal drehten sich zu den Ankömmlingen um, und Kerstin sah in viele lächelnde aber auch in skeptisch dreinschauende Gesichter. Das verkleinerte ihr Unbehagen nicht gerade.
Ein Drache in edler, stahlgrauer und mit zarten Stickereien verzierter Robe kam langsam auf sie zu. Sein Hals zierte ein überdimensionales, kostbares Collier und Kerstin wusste sofort, dass das nur Dragos Mutter sein konnte. Sie hätte es nie für möglich gehalten, dass eine so große Gestalt so graziös schreiten konnte. Hinter ihr hielt sich ein Drache mit einem Smoking-Jackett.
„Das wird dann wohl sein Vater sein?†œ, dachte sie als beide Drachen vor ihnen stehen blieben. In ihren Gesichtern zeigte sich keinerlei Regung. Kerstins Pulsschlag hatte sich auf eine ungesunde Höhe beschleunigt. Sie spürte ein Rauschen in ihren Ohren und wünschte sich, dass ihre Schwestern jetzt bei ihr wären. Angie hätte bestimmt einen passenden Spruch auf den Lippen gehabt, um sie ein wenig aufzuheitern und Doc und Lilli hätten ihr Mut gemacht. Aber so stand sie jetzt alleine mit Drago und einem vor Ehrfurcht erstarrtem Gunther auf der ersten Stufe einer wunderschönen Treppe. Diese hatte Kerstin in ihrer Aufregung zuvor noch gar nicht wahrgenommen.
Im Saal war es mucksmäuschenstill. Kerstin bekam sofort einen trockenen Mund. Ihre Nackenhaare stellten sich auf und ihre Hände fingen an zu schwitzen.
Das, was Kerstin für Dragos Mutter hielt, guckte ihr für den Bruchteil einer Sekunde tief in die Augen und Kerstin erschrak.
Sie konnte die Stimme des Drachen hören und es war ganz bestimmt nicht die Stimme, die Kerstin erwartet hatte.
Sie klang sehr rauchig und tief, fast so, als wenn zu viel Whisky und Zigaretten im Spiel waren. In dem Moment wurde ihr bewusst, dass, wenn sie die Gedanken ihres Gegenübers hörte auch ihr Gegenüber ihre hören konnte. Kerstin wurde knallrot. Da war wieder eins von diesen kleinen hinterlistigen Fettnäpfchen. Dragos Mutter fing laut an zu lachen und zog Kerstin an sich. Auch Dragos Vater lachte. Es war im Gegensatz zu dem Lachen seiner Frau ein ganz normales Männerlachen und erst da begriff auch Drago, dass alles gut war. Kerstin war so überrascht, dass sie am längsten brauchte um zu verstehen, was hier vor sich ging. Noch immer ärgerte sie sich selbst, ihre Gedanken nicht unter Kontrolle gehabt zu haben.
„Meine Liebe, so ein tolles Kompliment hat mir noch niemand gemacht†œ, sagte Dragos Mutter und lächelte ihr aufmunternd zu, „ich danke dir und heiße dich in unserer Familie auf das herzlichste willkommen. Entschuldige bitte, dass ich dich auf die Probe gestellt habe, aber das ist meine Art Menschen kennenzulernen. Ich werde es dir in einer ruhigen Minute noch etwas genauer erklären.“ Kerstins Lächeln als Antwort verunglückte ein wenig, und Gunther schmiss sich auf die Treppe und hielt sich den Bauch vor Lachen.

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Ein ernst drein schauender junger Mann, vielleicht so Mitte zwanzig, kam auf Gunther zu und schaute ihn böse an. Sofort hörte Gunther auf und stand auf. Seine von Lachtränen feuchten Augen, guckten verlegen drein.
„Gunther, ich weiß ja, dass es dir wahnsinnig viel Spaß macht die Leute aufs Korn zu nehmen, aber das hier geht zu weit. Ich möchte, dass du dich bei Kerstin entschuldigst“, sagte der junge Mann. Gunther guckte ihn missmutig, ja sogar ein wenig trotzig an und zog einen leichten Schmollmund. Trotzdem drehte er sich zu Kerstin, verneigte sich ein wenig und murmelte eine Entschuldigung. Der junge Mann räusperte sich kaum hörbar.
„Ach so, ja, also das hier, mit einer Handbewegung zeigte Gunther auf den jungen Mann, „ist George. Er ist mein Freund, Partner und manchmal mein schlechtes Gewissen. Eigentlich für jeden Spaß zu haben, aber heute etwas unpässlich…“ Weiter kam Gunther nicht, weil George ihn in den Schwitzkasten nahm. Nun begann eine wilde Rangelei. Drago verdrehte die Augen und richtete das Wort an seine Eltern.
„Mum, Dad, ich freu mich wieder zuhause zu sein. Und ich danke euch für diesen tollen Empfang. Auch dafür, dass ihr Kerstin von ganzem Herzen in unsere Familie aufnehmt.“ Dragos Mum nahm Kerstins Gesicht vorsichtig in ihre großen Klauen und gab ihr einen für ihre Verhältnisse zärtlichen Kuss auf die Stirn. Das war das erste Mal, dass Kerstin an diesem Abend aufatmen konnte. Es folgte ein großer Begrüßungsmarathon. Dragos Mutter Margret und seinen Vater Alexander kannte sie nun. Jetzt warteten noch Onkel Edwin und Tante Berta, beide in Menschengestalt. Onkel Edwin war der Bruder von Dragos Mutter und eine stattliche Erscheinung. Er trug einen Frack, der ruhig eine Nummer größer hätte sein dürfen. Um seinen Bauch hatte er eine grüne Schärpe gebunden, die alles in Form zu halten versuchte. Seine Frau hatte eine zierliche Figur, aber der Händedruck hätte von einem Holzfäller stammen können. Kerstin versuchte danach unbemerkt ihre Hand auszuschütteln.
Tante Berta trug ein cremeweißes Kleid. Es zierte viele Stickereien in der gleichen Farbe. Ein kleiner Stehkragen und der taillierte Schnitt betonte ihre schlanke Figur. Sie trug ebenfalls eine grüne Schärpe. An ihnen vorbei drängelte sich Cousine Melinda. Ein zartes Wesen mit einem Porzellangesicht. Sie trug ein smaragdfarbenes weit ausgestelltes Samtkleid mit verspielten Rüschen am Dekolleté. Es passte wunderbar zu ihren Augen, die Kerstin überaus arrogant und kühl musterten. Sie schüttelten sich kurz die Hände.
„Okay†œ, dachte Kerstin, „wir werden wohl keine Freundinnen.†œ Melinda drehte sich ohne ein weiteres Wort um und verschwand in der Menge der Gäste.Hilflos schaute Kerstin zu Tante Berta. Diese zuckte aber nur mit den Schultern.
„Melinda wird sich schon wieder beruhigen. Sie ist oft etwas schüchtern.“
„Natürlich, schüchtern†œ, dachte Kerstin und blickte dabei zu Drago. In seinen Gedanken konnte sie hören, dass er sich das Lachen verkniff. Das gab ihr ein klein bisschen Sicherheit. Ihr Blick fiel auf einen kleinen Drachen, der sich hinter einem jungen Mann versteckte. Drago ging auf beide zu und umarmte erst den jungen und dann den kleinen Drachen. Lächelnd drehte er sich zu Kerstin um und stellte ihr die beiden als Carl und Sui vor. Seine Geschwister. In Gedanken teile Drago ihr mit, dass Sui wirklich sehr schüchtern war, und dass er ihr den Grund später erklären wollte. Kerstin nickte ganz leicht und lächelte Sui an. Diese guckte sie mit großen unsicheren Augen an und versuchte es ihrerseits mit einem Lächeln. Ein wenig verkrampft, aber wenigstens ein Anfang.
Nachdem Kerstin die wohl wichtigsten Leute von Dragos Sippe kennengelernt hatte, schwirrte ihr der Kopf. Hoffentlich konnte sie sich die ganzen Namen merken. Um sie ein bisschen abzulenken, nahm Drago ihre Hand und führte sie zur Tanzfläche. Eng an aneinander geschmiegt bewegten sich beide zu der Musik. Drago brach als erster das Schweigen.

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„Ich bin wirklich stolz auf dich. Du hast die Situation mit Bravor gemeistert.“ Ein wenig verlegen schaute Kerstin in Dragos Augen und lächelte. Sie spürte das starke Verlangen mit ihm allein zu sein. Gerade in dem Moment als sie es ihn sagen wollte, unterbrach Gunther ihren Tanz.
„So, jetzt bin ich dran. Ihr habt noch die ganze Nacht.“ Breit grinsend nahm er Kerstins Hand ohne eine Antwort abzuwarten. Auch das leise Knurren von Drago beeindruckte ihn nicht. Seine ganze Aufmerksamkeit galt jetzt nur noch Kerstin. Da es ein langsamer Tanz war, war es Kerstin leicht unangenehm, dass Gunther sie so dicht an sich drückte. Aber ihm war es egal.
„Weißt du eigentlich, dass ich meinen Cousin schon lange nicht mehr so glücklich gesehen habe. Seit, ach keine Ahnung, wie vielen Jahren“, sprach er in ihren Bauch. Da er ihr ja nur bis knapp unter die Brust ging, waren sie bestimmt ein lustiges Paar. Kerstin räusperte sich.
„Er macht mich auch glücklich und ich liebe ihn wie noch niemanden zuvor. Und so langsam fange ich an, seine Familie zu mögen“, sprach sie und wuschelte Gunther durch seine sorgfältig gestylten Haare.
„Hey, mach mir die Friese nicht kaputt. Hast du eigentlich eine Ahnung wie viel Zeit…..“, aber weiter kam er gar nicht. Drago packte ihn unter den Armen und stellte ihn auf die andere Seite der Tanzfläche. Mit einem finsteren Blick zeigte er Gunnar, dass die Zeit um war. Gunther streckte Drago die Zunge raus und warf Kerstin einen Kussmund zu. Dann verschwand er in der Menge.
Es war ein rauschendes Fest auf dem ausgelassen getanzt wurde. Mal modern, mal nach ganz altem Stil, der Kerstin überhaupt nicht vertraut war. Dann wurde zu Tisch gebeten. Das Abendessen war ein Gedicht. Und auch nicht ganz das, was Kerstin erwartet hatte. In einem Nebensaal, den Kerstin zuvor gar nicht bemerkt hatte, war eine riesige Tafel mit erlesenem Porzellan und Silber gedeckt. Die dazu gestellten Wein und Wassergläser funkelten im Einklag mit einem gigantischen Kronleuchter, der über der ganzen Szene hing. Zur Vorspeise gab es drei verschiedene Suppen – eine Krabbensuppe an Kressenschaum, eine Drachensuppe mit viel Chilli und eine Kartoffelsuppe. Letztere war die Leibspeise von Dragos Vater.
Danach gab es einen kleinen gemischten Salat.
Als Hauptgang wurde Spießbraten, Spanferkel und zu Kerstins großem Erstaunen Wiener Schnitzel mit vielen verschiedenen Soßen serviert.
Als Beilage gab es Reis, Kartoffeln, Nudeln, Kroketten und Gratin.
Dazu wurde verschiedenes Gemüse angeboten.
In noch größeres Erstaunen wurde Kerstin versetzt, als sie sah, wie jeder Gast sein Essen selber auf dem Teller anrichtete. Drago erklärte ihr, dass seine Mutter ganz gerne selbst bestimmte, was und wie viel sie aß und deswegen vor vielen Jahren diese Regel aufgestellt hat.
Anfangs stieß die Regel auf Unverständnis bei den anderen Familienmitgliedern. Aber Margret interessierte es nicht. Sie sagte dazu nur:
„Wem es nicht gefällt, braucht ja nicht kommen, dann gibt es weniger zu Spülen“. Als Drago Kerstin das erzählte, leuchteten seine Augen voller Liebe und Wärme zu seinen Eltern. Kerstins Bewunderung und Sympathie für Dragos Eltern wurde immer größer. Als sie ganz kurz zu ihnen hinüberschaute, warfen ihr beide ein freundliches Lächeln zu. Augenblicklich wurde Kerstin rot. Wieder hatte sie vergessen, dass beide ebenfalls Gedanken lesen konnten. Drago fing an zu Lachen und aus Reflex piekste Kerstin ihn mit ihrer Gabel in den Oberschenkel.

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Sie versuchte, finster zu gucken, musste am Ende dann aber doch schmunzeln und beschloss, sich durch ihre eigene Ungeschicktheit nicht den Abend verderben zu lassen.
Als sich das Dinner langsam dem Ende näherte, dachte Kerstin, sie müsste platzen. So viel und so gut hatte sie schon lange nicht mehr gegessen. Aber das Dinner war ja noch nicht vorbei.
Es gab noch Nachtisch und Kerstin wäre am liebsten aus dem Saal geflüchtet.
Als die Dienerschaft mit den kleinen Wägelchen voller süßer Leckereien den Saal betrat, wurde ihr fast übel – aber eben nur fast.
Es gab Schokoladenkuchen mit dicker Schokoglasur, fünfzehn verschiedene Eissorten, wahlweise mit Soße oder mit Sahne, verschiedene Puddingsorten mit oder ohne Obst und den Lieblingskuchen von Kerstin und ihren Schwestern – Käsekuchen. Bei dem Anblick musste sie unweigerlich an Angie, Lilli und Doc denken und fragte sich, ob es ihnen gut ging. Sie nahm sich fest vor, allen so schnell wie möglich eine SMS zu schicken. Sie hatte eigentlich schon viel zu lange nichts mehr von ihnen gehört. Ein leichtes ungutes Gefühl beschlich sie. Drago bemerkte, dass sich Kerstins Stimmung geändert hatte und musterte sie neugierig.
„Nicht jetzt. Später“, teilte sie ihm per Gedankenübertragung mit. Sie wollte die Stimmung am Tisch nicht zerstören.
Nach dem Dessert konnte es Kerstin kaum noch in dem überfüllten Saal aushalten.
Drago schien es genauso zu gehen, denn er machte den Vorschlag, einen kleinen Spaziergang zu unternehmen. Mehr als erleichtert stimmte Kerstin zu. Durch eine kleine Tür gelangten sie in einen schmalen Flur, der zu den Außentüren führte. Draußen war die Luft angenehm klar und warm. Beide atmeten tief durch und genossen die Ruhe, die sie augenblicklich umgab. Der Garten glich einem Park. Umgeben von einigen Statuen, befand sich in der Mitte ein mächtiger Springbrunnen. Die Büsche und Sträucher in der Anlage waren kunstvoll beschnitten und eingerahmt von Blumenrabatten. Als Kerstin zum Nachthimmel sah, erblickte sie unzählige kleine funkelnde Sterne, die ihre Bilder zur Schau stellten. Drago legte zärtlich seinen Arm um ihre Taille, und Kerstin schmiegte sich an ihn. Zärtlich küsste er ihren Hals. Sie genoss die Berührung, da sie allem Anschein nach alleine waren. Sie schaute ihm tief in die Augen.
„Wow, das waren viele neue Eindrücke, die ich da sammeln durfte“, flüsterte sie ihm ins Ohr. Doch Drago war offensichtlich nicht zum Sprechen aufgelegt. Seine Küsse wurden leidenschaftlicher, und Kerstin spürte wieder dieses Prickeln, welches sie immer überkam, wenn sie mit Drago zusammen war. Sie spürte eine Gänsehaut der Erregung auf ihrem Körper. Auch Dragos Erregung war deutlich zu spüren. Leicht neckend biss Kerstin in seine Lippe. Seine Hände glitten an ihrem Rücken entlang. Dann nahm er ihr Gesicht in seine Hände.
„Ich liebe dich“, sagte er mit solcher Inbrunst, dass Kerstin leicht erschauerte.
„Ich liebe dich auch“, hauchte sie zurück.
„Oh, und ich liebe euch beide“, hörten sie plötzlich, und schon kam George hinter einer Hecke hervor. Kerstin und Drago stöhnten gleichzeitig auf.
„Hat man vor dir eigentlich nie seine Ruhe?“, schimpfte Drago. Aber George reagierte darauf nur mit amüsiertem Lächeln.
„Meinst du wirklich, jetzt wo wir Kerstin in unserer Familie haben, könnte ich Ruhe geben? Endlich ist mal jemand da, mit dem ich über Klamotten und Schminke und Gott und Welt ratschen kann. Wir können zusammen Kaffee trinken. Ich weiß ja nicht, wie viel Zeit ich mit ihr verbringen kann, aber ich werde mir jede Minute stehlen, die ich kriegen kann“, gab er trotzig zurück. Kerstin musste bei so vielen ehrlichen Gefühlen schlucken.

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„Ach komm her, du kleine Nervensäge“, sagte sie zu ihm und nahm ihn liebevoll in ihre Arme.
George kuschelte sich an sie und strahlte über das ganze Gesicht.
„Weißt du was, George, ich bin sehr froh, deine Freundin sein zu dürfen.“ Georges Augen wurden groß wie Untertassen. Er quiekte laut auf und schmiss sich sofort wieder in ihre Arme. Drago zuckte nur mit den Schultern und verdrehte die Augen.
„Meinetwegen. Aber nicht 24 Stunden am Tag und schon gar nicht jetzt“, raunzte Drago den kleinen Drachen an. Kerstin lächelte besänftigend, und versprach George, dass sie sich sehr gerne mit ihm am nächsten Morgen zum Frühstück treffen wollte. Sie vereinbarten eine Uhrzeit, und dass George sie von ihrem Zimmer abholen sollte, damit sie sich nicht verlief. George platze fast vor Stolz, doch als er Dragos leichtes Knurren hörte, verstand er die Drohung. Noch einmal schlang er seine kleinen dicken Arme um Kerstin und verschwand ohne Drago eines Blickes zu würdigen. Kerstin sah ihm grinsend nach. Augenblicklich zog Drago sie in seine Arme zurück.
„Dir ist schon klar, dass du George jetzt nicht mehr los wirst? Er wird mehr an dir kleben, als dein eigener Schatten.“
„Sag mal, du bist doch nicht etwa eifersüchtig? Das darf doch nicht wahr sein! Hey, lass ja meinen neuen Freund in Ruhe“, antwortete sie mit gespieltem Ernst. Drago sah sie ungläubig an. Und schon musste Kerstin lachen.
„Mal schauen, ob du in drei Tagen auch noch lachst“, gab er schelmisch zurück. Diese Überlegung hatte Kerstin auch schon beschäftigt, aber das wollte sie im Moment nicht zugegeben.
„Wo haben wir eben aufgehört?“, fragte Drago und bevor Kerstin antworten konnte, küsste er sie. Es war ein sehr langer Kuss voller Begehren. Mühsam löste er sich von ihr.
„Lass uns in unser Zimmer gehen. Noch eine Unterbrechung und ich kann für nichts mehr garantieren“, raunte er in ihr Ohr. Wieder bekam Kerstin eine Gänsehaut.
„Ich möchte auch keine Störung mehr. Können wir irgendwie in unser Zimmer kommen ohne gesehen zu werden?“ Vorfreude blitzte in ihren Augen.
„Hey, ich bin hier aufgewachsen. Ich kenne diese Gemäuer wahrscheinlich besser als seine Erbauer“, gab Drago geheimnisvoll zurück. Er nahm sie an die Hand und führte sie zu einem Rosenbusch. Interessiert beobachtete Kerstin wie Drago das Spalier anfasste und dann nach vorne zog. Sein Grinsen dabei war schon fast spitzbübisch.
„Darf ich bitten, my Lady?“ Mit einer tiefen Verbeugung reichte er ihr die Hand. Dann zog er sie in einen Tunnel, den sie zuvor gar nicht gesehen hatte. Als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte sie das gleiche Mauerwerk wie in der Eingangshalle. Winzige Lichtquellen verliefen auf dem Fußboden. Kerstin umfasste Dragos Hand etwas fester.
„Du brauchst keine Angst zu haben“, sagte er und Kerstin erkannt den leichten Spott in seiner Stimme.
„Hab ich auch gar nicht“, gab sie leicht schnippisch zurück. Drago musste lachen.
„Nein, natürlich nicht. Komm jetzt, sonst zeige ich dir noch hier unten, was ich eigentlich oben alles mit dir machen will.“ Seine Worte klangen wie ein Versprechen und sie hatte das Gefühl, dass der Tunnel nie enden würde. Sie wusste zuletzt nicht mehr, um wie viele Ecken sie gebogen waren, aber sie hatte bemerkt, dass es einen leicht bergauf ging. Endlich gelangten sie an eine Tür.
„Erschreck´ dich jetzt bitte nicht“, sagte Drago und sah sie verschwörerisch an. Das war jetzt nicht sehr beruhigend, aber sie atmete noch einmal tief durch und versuchte sich davor zu wappnen, was da kam. Drago drehte an dem Türknopf und die Tür sprang auf.

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Seitensprung der Sisterhood – Buenos Dias Argentina

Seitensprung der Sisterhood

Kapitel 1
Buenos Dias Argentina

Lilli schlug verschlafen die Augen auf. Sie starrte auf ein Flugzeugfenster, an dem die Blende herunter gezogen war, und sie war kurz orientierungslos.
„Ach ja, ich bin im Flugzeug unterwegs nach Argentinien†œ, dachte sie und lächelte. Sie räkelte sich auf ihrem Liegesitz und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Dann drehte sie sich nach links und schaute in die wunderschönen, braunen Augen von Fernando.
„Hallo, meine Schöne. Hast du gut geschlafen?†œ, fragte er mit einem Grinsen im Gesicht und Lilli konnte deutlich seine Belustigung hören.
„Hallo†œ, seufzte sie, „na los, sag es mir schon. Habe ich im Schlaf geredet, oder habe ich wieder blöde Grimassen gemacht?†œ
Fernando legte seine Hand sanft auf ihre Wange und streichelte sie, während sein Grinsen noch breiter wurde.
„Also geredet hast du nicht viel. Du hast nur „Nando, ich liebe Dich†œ gesagt, und dann hat es sich so angehört, als hätten wir sehr viel Spaß miteinander. Blöde Grimassen hast du auch keine gemacht, ganz im Gegenteil. Was ich in deinem Gesicht gesehen habe, war so wunderschön, dass ich darauf brenne, dir diesen Traum zu erfüllen.†œ
Fernando beugte sich zu Lilli und küsste sie so zärtlich, verheißungsvoll und intensiv, dass sich ein ganzes Heer von Schmetterlingen in ihrem Bauch erhob und ihr Körper überall kribbelte. Er wanderte mit seiner Hand über ihren Rücken, zog sie näher zu sich heran und küsste sie noch intensiver. Er ließ all seine Gefühle, die er für sie empfand, in diesen Kuss und diese Umarmung hineinfließen. Als Lilli all diese Gefühle spürte, war sie so überwältigt, dass ihr die Sinne schwanden und sie den Atem anhielt. Sie gab sich ganz ihren Empfindungen hin, doch Fernando beendete abrupt den Kuss. Lilli schlug verwirrt die Augen auf.
„Atmen†œ, sagte er lächelnd zu ihr.
„Oh, ja†œ, keuchte Lilli, „das hatte ich total vergessen.†œ Sie schaute Fernando mit großen Augen fragend an. Dieser Gesichtsausdruck war einfach zu köstlich und er musste laut lachen.
„Seit wann hältst du denn die Luft an, wenn ich dich küsse?†œ
„Na, seit du mich so küsst.†œ
„Da werde ich in Zukunft wohl etwas vorsichtiger sein müssen†œ, sagte er lächelnd und küsste ihre Nasenspitze.
„Untersteh dich! Ich werde mich schon daran gewöhnen und wenn nicht, kannst du mich ja erinnern weiter zu atmen.†œ
Lilli löste sich von Fernando und reckte und streckte sich noch einmal.
„Wo sind wir eigentlich?†œ, fragte sie ihn.
„Wir sind ungefähr in einer Stunde da†œ, antwortete Fernando.
„Was? Und das sagst du mir erst jetzt! Oh Gott, ich muss mich noch frisch machen, umziehen, die Haare machen, und überhaupt… ich sehe bestimmt aus wie ein alter Besen†œ, rief Lilli und wollte aufspringen, aber Fernando zog sie wieder zu sich zurück und schaute sie mit seinem typischen, belustigten Grinsen an.
„Also, ich würde ja sagen, du siehst aus wie ein flotter Feger, aber ich bin ja auch befangen. Lilli, meine Familie weiß, dass wir schon seit Stunden mit dem Flugzeug unterwegs sind. Die erwarten ganz bestimmt nicht, dass wir wie frisch aus einem Modemagazin entsprungen aussehen. Kann es sein, dass du etwas nervös bist?†œ
Lilli setzte sich auf, verdrehte die Augen und raufte sich die Strubbelhaare.
„Nervös ist gar kein Ausdruck. Mir ist schlecht vor Aufregung. Wir treffen gleich deine Familie. Was ist, wenn ich ihnen nicht gefalle, wenn sie mich nicht mögen…, und dann bin ich auch noch eine Elfe und kein Vampir. Die können mich bestimmt nicht leiden.†œ
Fernando zog sie wieder an sich und nahm sie liebevoll in seine Arme.

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„Lilli, du musst dir keine Sorgen machen. Sie lieben dich jetzt schon. Du bist meine Gefährtin. Ich habe schon ewig auf dich gewartet und nach dir gesucht. Meine Familie weiß, wie sehr ich mir gewünscht habe, dich endlich zu finden. Und jetzt bist du bei mir und machst mich unendlich glücklich. Schon alleine dafür lieben sie dich. Und wenn sie dich jetzt erst einmal gesehen und kennengelernt haben, wirst du ihr Herz vollends erobern. Obwohl…, dass du eine Elfe bist, das könnte schon ein Problem mit meiner Grandma geben.†œ
Lilli schaute Fernando entsetzt an und fing an nervös an seinen Hemdknöpfen zu spielen.
„Ich habe es doch gewußt. Sie hätte lieber, wenn ich auch ein Vampir wäre. Sie kann Elfen nicht leiden. Habe ich Recht?†œ Fernando lachte, nahm Lillis Finger von seinen Knöpfen und küsste sie.
„Nein, ganz im Gegenteil. Meine Grandma ist total vernarrt in Elfen, und wenn ich nicht aufpasse, nimmt sie dich so unter Beschlag, dass ich dich gar nicht mehr zu Gesicht bekomme. Seit sie weiß, dass du eine Elfe bist, ist sie total aus dem Häuschen. Sie kann es gar nicht erwarten, dass wir endlich ankommen.†œ
„Wie, deine Großmutter ist verrückt nach Elfen? Das musst du mir aber mal genau erklären.†œ
„Da müsste ich aber ein bisschen weiter ausholen†œ, sagte Fernando und lächelte Lilli verschmitzt an. Erwartungsvoll sah sie ihn an und kuschelte sich in seine Arme.
„Los, erzähl. Wir haben ja noch eine Stunde bis wir landen.†œ
„Ach, auf einmal haben wir Zeit. Na gut, dann erzähle ich dir mal ein bisschen was von meiner Großmutter Claire und den Elfen†œ, sagte Fernando und schmunzelte.
„Deine Großmutter heißt also Claire. Das ist ein sehr schöner Name und klingt französisch.†œ
„Ja, genau. Meine Großmutter stammt aus Frankreich. Und jetzt bitte keine Unterbrechungen mehr, du weißt, wir haben nur noch eine knappe Stunde Zeit und du willst doch noch zur Kosmetik und zur Modeberatung.†œ
Lilli schnaubte empört und fuhr herum. Doch bevor sie etwas sagen oder machen konnte, hatte Fernando schon mit der einen Hand ihre Handgelenke gefangen, mit der anderen hielt er ihr den Mund zu. Er lachte über das ganze Gesicht, nahm seine Hand von ihrem Mund und drückte ihr schnell einen Kuss auf die Lippen.
„Ja, ich weiß, ich bin ein ganz frecher, unmöglicher Vampir. So, und jetzt sind wir ganz lieb und kuscheln uns wieder in Nandos Arme, damit der endlich die Geschichte erzählen kann.†œ
Von seinem Charme geschlagen, musste auch Lilli lachen und legte sich wieder friedlich in die Arme von Fernando.
„Also,… es war einmal.†œ Lilli zuckte schon wieder.
„Ja, ja schon gut, ich bin jetzt ganz ernst und konzentriert†œ, prustete Fernando raus, während er Lilli in seinen Armen festhielt.
„Meine Großmutter wurde Ende des 13. Jahrhunderts in Frankreich geboren. Meine Urgroßeltern lebten mit ihr in einem Dorf vor den Toren von Bordeaux.

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Urgroßvater Patrick war Steinmetz und kam aus England. Auf der Suche nach Arbeit hatte es ihn nach Bordeaux verschlagen, dass damals noch unter der Herrschaft der englischen Könige stand. Dort lernte er dann meine Urgroßmutter Marie kennen und lieben. Während Patrick am Bau der Kathedrale Saint-André beschäftigt war, arbeitete Marie in den Weinbergen der Umgebung. Sie hatten ein gutes Einkommen, ein kleines gemütliches Häuschen und sehr nette Nachbarn. Als dann noch Claire auf die Welt kam, war ihr kleines Glück perfekt – bis Claire sehr krank wurde. Sie hatte keinerlei körperliche oder seelische Symptome für eine Krankheit, aber sie wurde immer schmaler und blasser. Es war, als würde sie ohne ersichtlichen Grund dahin schwinden. Grandma hat mir erzählt, dass es sich anfühlte wie ein kleiner schwarzer Punkt, der sich immer mehr ausbreitete. Zum Ende hin war ein riesiges schwarzes Loch in ihrem Inneren, das sie fast verschlang. Patrick und Marie machten sich furchtbare Sorgen um ihr kleines Mädchen und gingen mit ihr zu unzähligen Badern und Heilern, aber keiner konnte ihnen helfen. Eines Nachts, auf dem Rückweg von einem dieser Quacksalber, trafen sie auf drei berittene Männer. Zuerst dachten sie, dass sie Räubern zum Opfer fallen würden, aber es stellte sich heraus, dass diese drei Männer zu einer großen Familie gehörten, die nach einer neuen Heimat suchten. Die Männer bemerkten sofort die bleiche, kraftlose Claire in den Armen meines Urgroßvaters und betrachteten sie mit sehr sorgenvollem Blick. Sie fragten, woran das arme Kind leide. Patrick erzählte ihnen, dass sie nicht wussten, welche Krankheit Claire befallen hatte, und dass ihnen niemand helfen konnte. Die drei Männer unterhielten sich kurz flüsternd miteinander und fragten dann, ob sie mit ihnen in ihr Lager kommen wollten, und ob sie versuchen durften Claire zu helfen. Sie hätten eine Ahnung, was mit ihr nicht stimmen könnte. Patrick und Marie hatten zwar Bedenken den Fremden zu folgen, aber sie wollten unbedingt, dass ihr Kind wieder gesund wurde. Also schlossen sie sich ihnen an. Im Lager angekommen, wurden sie von drei Frauen und vier Kindern sehr herzlich willkommen geheißen und zum ersten Mal fiel ihnen auf, dass alle Mitglieder dieser Familie sehr spitze Ohren hatten und ein seltsames Leuchten von ihren ausging. Patrick wich mit der kleinen Claire auf dem Arm zurück und fragte sich, wo sie da wohl hingeraten waren. Marie war schon immer etwas aufgeschlossener und neugieriger als Patrick und so war ihr auch gleich klar, dass sie es hier nur mit Elfen zu tun haben konnten. Sie kannte die alten Sagen über dieses Volk der Anderswelt und deshalb fragte sie dann auch frei heraus, ob sie Elfen wären. Die Elfen hatten sich im Halbkreis um die drei aufgestellt und bejahten mit einem Lächeln Maries Frage. Meine Urgroßmutter nahm Claire aus den Armen von Patrick und legte sie der ältesten Elfe in die Arme und sagte ihr, dass sie alles in ihrer Macht stehende tun sollte um die kleine Claire zu retten. Die Elfe lächelte meine Urgroßmutter an, nickte mit dem Kopf und ging mit dem sterbenden Kind in eines der Zelte. Die anderen Elfen nahmen Patrick und Marie bei den Händen und setzten sich mit ihnen ans warme Feuer. Einer der Elfen erklärte ihnen dann, dass Claire mit schwarzer Magie in Berührung gekommen sein musste und sie dadurch vergiftet wurde. Sie versicherten ihnen aber, dass die Elfe Aramena mit ihrem großen alten Wissen über die Magie Claire heilen könnte. Es dauerte drei Tage bis Grandma von der schwarzen Magie befreit war. Aus Dankbarkeit nahmen meine Urgroßeltern die Elfen dann mit in ihr Dorf und waren ihnen dabei behilflich eine neue Heimstatt zu finden. Ganz in der Nähe des Dorfes konnten sie einen verfallenen Bauernhof mit einem riesigen angrenzenden Waldstück übernehmen. In dem Waldstück fanden die Elfen dann auch eine sehr tiefe, unheimliche Höhle in der noch jede Menge schwarze Magie vorhanden war. Aramena verbrachte Wochen damit diese gefährliche Magie zu beseitigen und niemand wusste, woher die Magie stammen konnte. Meine Urgroßeltern erzählten jedem im Dorf, wen sie da mitgebracht hatten und welche Heilkräfte die Elfen besaßen. Alle Dorfbewohner freuten sich über diese neuen, hilfsbereiten und freundlichen Nachbarn. Es entstand eine tiefe Freundschaft zwischen den Menschen und den Elfen und jeder im Dorf wahrte treu ihr Geheimnis. Aber meine Großmutter war die treueste Freundin der Elfen.

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Wenn sie nicht zu Hause war, war sie bei den Elfen. Diese liebten sie und nahmen sie auf wie eine von ihnen. Meine Urgroßeltern teilten gerne aus tiefster Dankbarkeit Claires Liebe mit den Elfen … So, das war die Geschichte von Claire und den Elfen. Jetzt weißt du, warum meine Grandma so verrückt nach Elfen ist.†œ
Lilli schreckte geradezu hoch, sie war ganz vertieft in Fernandos Erzählung.
„Das ist eine wunderschöne Geschichte. Und wie ging es dann weiter? Was wurde aus den Elfen, wie lernte Claire deinen Großvater kennen und überhaupt wie kam sie nach Argentinien?†œ
Fernando musste über so viel Wissensdurst lachen. Er richtete sich auf und küsste Lilli.
„Das erzähle ich dir ein anders Mal oder besser noch, das kann dir Grandma selbst erzählen. Wir haben jetzt nämlich keine Zeit mehr, wir sind im Landeanflug.†œ Lilli sprang mit entsetztem Gesicht hektisch auf und tippelte aufgeregt vor ihrem Sitz herum.
„Wie …, wo …, was schon?! Aber wir können noch nicht landen, ich bin doch noch gar nicht fertig. Nein, das geht nicht, so steige ich nicht aus dem Flugzeug. Unter gar keinen Umständen.†œ Fernando stellte sich vor sie und musterte sie von Kopf bis Fuß. Er nahm sie in seine Arme und vergrub sein Gesicht in ihren Haaren.
„Du bist wunderschön und siehst einfach umwerfend aus. Nur das grüne Leuchten könntest du vielleicht ein bisschen runter drehen, das sieht ein etwas grell aus.†œ
Lilli drückte ihn von sich weg, machte ein furchtbar empörtes Gesicht und holte tief Luft.
„Ich …,†œ weiter kam sie nicht mehr, denn ihr Protest wurde mit sehr heißen und fordernden Lippen unterbrochen. Fernando liebkoste sie mit seinen Lippen und seiner Zunge, bis ihr wieder der Atem stockte und ihre Beine nachgaben. Sanft ließ er sie auf ihren Sitz sinken und bevor Lilli noch mitbekam, was er da machte, hatte er sie auch schon angeschnallt. Als sie wieder zu Atem gekommen war und die Augen öffnete, saß er neben ihr und hatte sein unverschämt sexy aussehendes Lausbubengrinsen auf dem Gesicht.
„Ich ergebe mich. Du hast gewonnen. Deine Argumente waren absolut überzeugend†œ, seufzte Lilli. In diesem Moment setzte die Maschine auf der Sandpiste auf und rollte langsam aus.
Fernando nahm Lillis Hand drückte sie und lächelte ihr aufmunternd zu.
„Na, meine Schöne? Bist du bereit oder sollen wir lieber noch ein paar Stunden hier drin bleiben?†œ Lilli führte seine Hand an ihren Mund und küsste zärtlich seinen Handrücken.
„Nein, natürlich nicht. Wir können doch deine Familie nicht so lange warten lassen. Ich bin zwar tierisch aufgeregt und nervös, aber ich bin auch unheimlich neugierig auf deine Eltern, deine Großmutter und auf dein Zuhause.†œ Lilli hatte noch nicht ganz ausgeredet, da hatte Fernando auch schon die Tür geöffnet und die Treppe herunter gelassen. Lilli blieb noch kurz, etwas unschlüssig an ihrem Sitz stehen.
„Mensch, wie blöd bin ich denn eigentlich? Ich habe mich mit den schlimmsten Monstern und Verbrechern herumgeschlagen und vor Fernandos Familie mache ich mir fast in die Hose. Ich bin ja wohl total bescheuert†œ, dachte sie und schlug sich mit dem Handballen an die Stirn.

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Fernando, der ihr seine Hand entgegen streckte, schaute sie verblüfft und fragend an. Lilli straffte ihre Schulter, lächelte und ergriff seine Hand.
„Alles klar. Ich habe mir nur ein bisschen Mut zugesprochen.†œ
Nachdem sie mit Fernando den Jet verlassen hatte, musste Lilli ein paar Mal blinzeln, bis sich ihre Augen an das helle Sonnenlicht gewöhnt hatten. Fernando stellte sich vor sie und küsste lächelnd ihre Hand.
„Herzlich willkommen auf der Zoom-Ranch, meinem Zuhause.†œ
Er trat hinter sie, schlang seine Arme um ihre Hüften und legte sein Kinn leicht auf ihren Kopf. Nun hatte Lilli freie Sicht auf ihre Umgebung, und ihr stockte ein wenig der Atem. Vor ihr breitete sich eine unendlich erscheinende Ebene aus. In der Sonne leuchtete die Erde in einem tiefen, warmen Rotbraun und die unzähligen Grasbüschel, mit denen die Erde übersät war, leuchteten in einem satten Grün. Jetzt wusste sie, warum Fernando es so liebte, wenn sie anfing zu leuchten. Das Gras und ihr Leuchten hatten dasselbe Grün, sie erinnerte ihn an seine Heimat.
Einige Meter von ihnen entfernt schlängelte sich ein Bach durch die Ebene. Lilli verfolgte seinen Verlauf bis an den Horizont, wo sie sanft geschwungene Hügel und dahinter Berge erkennen konnte. Auf der anderen Seite des Bachs graste friedlich eine riesige Rinderherde. Zwei Gauchos saßen lässig und locker auf ihren Pferden und umkreisten langsam die Herde. Sie hielten an, nahmen ihre Hüte vom Kopf und schwenkten sie zur Begrüßung. Fernando und Lilli winkten zurück.
„Das sind unsere Vorarbeiter, Sancho und Pancho†œ, erklärte Fernando. Lilli drehte sich abrupt herum und prustete los.
„Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?†œ Fernando grinste über das ganze Gesicht.
„Doch, das ist mein voller Ernst. Und ja, ich weiß, dass du ein absoluter Froschfan bist. Und nein, sie sind nicht grün. Sie sind Zwillinge. Als die beiden auf die Welt kamen, gab es die beiden Comic-Frösche noch nicht. Aber man kann es nicht abstreiten, es gibt frappierende Ähnlichkeiten. Das wirst du sicher noch feststellen.†œ
„Ich kann es kaum abwarten†œ, sagte Lilli lachend. „Sancho und Pancho. Ich kann es nicht fassen.†œ Hinter Fernandos Rücken ließ sich ein ungeduldiges Räuspern vernehmen.
Er nahm Lillis Hände und zwinkerte sie aufmunternd an.
„Und? Bist du bereit für die Familie Zoom?†œ Lilli strahlte und nickte nur kurz mit dem Kopf. Vor einem mächtigen Torbogen aus Holz standen fünf Personen, Fernandos Familie. Dem ersten Anschein nach, waren sie genau so aufgeregt wie sie. Fernando drückte aufmunternd ihre Hand und zog sie mit sich.
„Darf ich vorstellen, das ist meine Familie.†œ Er wandte sich nach links.
„Das ist meine Mutter Angelina Zoom.†œ Eine wunderschöne Frau nickte Lilli lächelnd zu. Sie hatte sehr elegant geschwungene Gesichtszüge, kastanienbraune, glänzende Locken, die ihr bis zur Hüfte reichten und dieselben schönen dunkelbraunen Augen wie Fernando. Lilli dachte sofort an eine Statue der Schönen Helena, die sie einmal gesehen hatte. Nun deutete Fernando auf den Mann an ihrer Seite. Ein echter Richard Gere-Typ mit schwarzen längeren Haaren und silberfarbenen Schläfen stand vor ihr. Das ihr allzu bekannte Lausbubengrinsen umspielte seine vollen Lippen, und seine Augen strahlten eine unheimliche Wärme und Güte aus.
„Das ist mein Vater Frederico Zoom.†œ Auch er nickte Lilli lächelnd zu. Neben Frederico standen zwei Teenager. Sie hatten dieselbe kurze Strubbelfrisur wie Lilli, allerdings waren ihre Haare pechschwarz. Ihre Gesichtszüge ähnelten sehr denen von Fernandos Vater.
„Das sind meine Cousine Annabella und mein Cousin Jaime. Sie leben bei uns seit ihre Eltern bei einem tragischen Unglück ums Leben gekommen sind.†œ Annabella hob etwas schüchtern die Hand und Jaime zwinkerte keck. Nun waren sie bei der letzten Person angekommen und Lilli war sichtlich überrascht. Dass Fernando ihr Grandma Marie vorstellte, nahm sie gar nicht richtig wahr, zu sehr war sie von ihrem äußeren Erscheinungsbild abgelenkt. Da stand doch tatsächlich eine richtige Großmutter mit silbergrauen Haaren, rosafarbenen Wangen und gütigen Augen. Um ihren Mund und ihre Augen versammelten sich sanfte Falten, die von einem langen, erfüllten Leben erzählten.

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Aber wie war das möglich? Vampire und ihre Gefährtinnen alterten doch nicht. Fernando hatte natürlich mit Lillis Reaktion gerechnet, er beugte sich vor und flüsterte ihr ins Ohr.
„Das erkläre ich dir später noch genau.†œ Lilli fasste sich wieder etwas.
„Darauf kannst du Gift nehmen†œ, flüsterte sie etwas bissig zurück. Es ärgerte sie, dass er sie nicht darauf vorbereitet hatte. Nun legte Fernando seinen Arm um Lilli und sah sie voller Stolz und Liebe an.
„Und das hier, liebe Familie, ist sie – meine Lilli. Die Waldelfe Lilliana Ithilia, Hüterin und Königin des Waldes und der Erde.†œ Lilli lief knallrot an, es war ihr furchtbar peinlich, dass Fernando so mit ihr angab. Sie wollte ihm gerade den Ellenbogen in die Seite stoßen, doch dazu kam sie nicht mehr. Sie war von Menschen umringt, die sie in ihre Arme nahmen und rund um sie herum herrschte ein Stimmengewirr, von dem sie nur Bruchstücke wie „froh dich kennenzulernen†œ oder „endlich seid ihr da†œ verstehen konnte. Plötzlich wurden sie von einem lauten Pfiff, der einem Pferdekutscher alle Ehre gemacht hätte, unterbrochen und alle verstummten und traten einen Schritt zurück. Marie trat milde lächelnd zu Lilli und strich ihr fürsorglich über den Arm.
„Lasst sie doch mal Luft holen und ein bisschen zur Ruhe kommen. Sie bekommt ja noch Angst vor euch. Lilli, nimm uns unseren Übermut nicht übel, aber wir sind so überglücklich, dass Nando endlich seine Gefährtin gefunden hat und wir dich kennenlernen dürfen.†œ
Lilli schaute in die Runde und sah nur glückliche Gesichter, die ihr freundlich und liebevoll entgegen lächelten.
„Nein, macht euch keine Sorgen. Ich bin ja so froh, dass ihr mich so überschwenglich begrüßt. Fragt nur mal Nando, ich habe mir vor Angst, dass ihr mich nicht mögen könntet, fast in die Hose gemacht.†œ Fernando fing an schallend zu lachen.
„Ja, das kann ich nur bestätigen. Lilli hatte mehr Angst vor euch als vor den Red Dragons.†œ
Jetzt lachte die ganze Gesellschaft, und Lilli fühlte sich unheimlich wohl und glücklich. Das war eine Familie, zu der sie sehr gerne gehören wollte. Angelina trat zwischen Fernando und Lilli, hakte sich bei ihnen unter und zog sie mit in Richtung Haus.
„Dann lasst uns doch mal reingehen. Ihr wollt euch sicher noch etwas frisch machen und ein wenig ausruhen. Es war ja doch ein langer Flug. Später gibt es dann Abendessen, und anschließend können wir uns noch lange genug unterhalten.†œ Sie drehte sich noch einmal um.
„Frederico, Jaime, kümmert ihr euch bitte um das Gepäck während ich den beiden ihr Zimmer zeige.†œ Fernando schaute seine Mutter etwas verständnislos an.
„Also so lange war ich jetzt auch wieder nicht weg. Ich finde mein Zimmer schon noch alleine.†œ
Angelina lächelte ihren Sohn verschmitzt an.
„Ja, mein Schatz, das weiß ich ja, aber dein Zimmer ist leider nicht fertig geworden. Da wir ja jetzt Familienzuwachs bekommen, dachten wir, dass dein Zimmer wohl ein bisschen zu klein wäre und haben angefangen es umzubauen und zu vergrößern. Es dauert aber noch ein paar Tage, also habe ich die Gästesuite für euch vorbereitet.†œ
„Oh, Mum, ihr seid einfach unmöglich! Aber danke, da bin ich mal gespannt.†œ Lachend liefen sie weiter zum Haus. Lilli ließ sich von den beiden mitziehen und hing ihren Gedanken nach. Sie war unheimlich froh, dass Fernandos Familie sie so herzlich begrüßt hatte, und auch die Ranch gefiel ihr unheimlich gut. Jetzt war sie auf das Haupthaus gespannt, das noch hinter hohen Bäumen und Büschen etwas versteckt lag. Plötzlich lief ihr ein eiskalter Schauer den Rücken hinunter und sie fühlte sich schlagartig sehr unwohl. Dieses Gefühl traf sie so hart und unvorbereitet, dass sie kurzzeitig den Atem anhielt. Fernando und seine Mutter bemerkten davon nichts, sie waren in ihr Gespräch vertieft. Lilli befreite sich sanft von Angelinas Arm, blieb stehen und blickte sich um. Einige Meter oberhalb der grasenden Rinderherde befand sich eine kleine Anhöhe. Von dort spürte Lilli die Quelle ihres Unbehagens, sie spürte abgrundtiefen Hass.

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Sie sah ein sehr edles, wunderschönes schwarzes Pferd, das eine Reiterin trug, die auch ganz in Schwarz gekleidet war. Ihr langes blondes Haar wehte im Wind, und Lilli spürte wie der Blick der Frau sie durchbohrte. Inzwischen waren Angelina und Fernando zu ihr zurückgekehrt.
„Was ist denn, Lilli?†œ, fragte Fernando besorgt und folgte ihrem Blick. Lilli konnte sich von dem Anblick der Frau nicht losreißen.
„Wer ist das?†œ
„Ach, das ist Joana, die Tochter unserer Nachbarn†œ, antwortete Angelina vergnügt, „die wirst du morgen kennen lernen. Wir haben für morgen unsere Nachbarn und Freunde zu einem Barbecue eingeladen. Alle freuen sich schon darauf. Kommt weiter.†œ
Fernando und Lilli drehten sich um und folgten Angelina. Fernando schaute Lilli fragend an.
„Später†œ, flüsterte Lilli ihm zu.
„Na, das kann ja heiter werden†œ, dachte sie und hatte immer noch am ganzen Körper eine Gänsehaut. So einem starken Hass war sie noch nicht oft begegnet. Lilli trottete hinter Angelina und Fernando her und betrachtete beim Laufen ihre Schuhspitzen. Sie war so in ihre Gedanken versunken, dass sie die Umgebung völlig außer Acht ließ. Was hatte das nur zu bedeuten? Warum hasste diese Joana sie so? Vielleicht, weil sie eine Elfe war, oder hatte es etwas mit Fernando zu tun? Wie sollte sie sich bei ihrer nächsten Begegnung verhalten? Da wollte sie sich ein paar Tage ausruhen und den Mann, den sie liebte und seine Familie besser kennen lernen, und dann kam traf sie auf so viel Ablehnung. Was hatte diese Frau nur gegen sie, und war sie gefährlich oder nicht?
Lilli war so vertieft, dass sie gar nicht bemerkte, wie Angelina und Fernando stehen blieben. Sie lief direkt in die beiden hinein und wurde aus ihren Überlegungen gerissen.
„Ups, Entschuldigung! Warum bleibt ihr eigentlich… Oh, wow, das ist ja wunderschön!†œ
Sie standen vor dem Haus der Familie Zoom, einer prächtigen zweistöckigen Villa im spanischen Stil. Das Sonnenlicht ließ die weißen Wände erstrahlen und die Dachziegel leuchteten in dem gleichen warmen Rotbraun, wie die Erde auf der sie standen. Eine breite Treppe führte auf eine Veranda. Gemütliche Clubsessel und Sofas luden dazu ein, es sich auf der Veranda bequem zu machen. Auf der Balustrade, die die Veranda begrenzte, thronten mächtige Säulen, auf denen das Dach ruhte. Wilder Wein und Efeu rankten an den Säulen empor und verliehen dem ganzen Ambiente einen urwüchsigen Touch. Am Ende der Treppe standen eine Frau und ein Mann, die freundlich und erwartungsvoll zu ihnen herunter blickten. Die Frau hielt ein Tablett in der Hand, auf dem mehrere Gläser Eistee standen.

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Fernando legte Lilli den Arm um die Hüfte und flüsterte ihr zu:
„Das sind Conchita und Paco, unsere guten Hausgeister und die Eltern von Sancho und Pancho. Komm, lass sie uns begrüßen, sonst platzen sie noch vor Neugierde.†œ Während Lilli und Fernando sich auf die Treppe zu bewegten, stellte Conchita schnell ihr Tablett auf einem der Tische ab. Kaum standen sie auf der Veranda, da hing die kleine Conchita schon an der Brust von Fernando und umarmte ihn innig.
„Ich bin ja so froh und glücklich, dass du endlich wieder da bist. Und endlich bringst du auch deine Gefährtin mit. Du böser Junge! Solange darfst du nicht mehr wegbleiben.†œ
Fernando lachte und Lillis Gesicht überzog sich mit einer leichten Röte.
„Versprochen, Conchita. Ich lasse mich in Zukunft wieder mehr zu Hause blicken. Aber jetzt möchte ich dir meine Lilli vorstellen.†œ
Conchita löste sich von Fernando und riss sofort die verdutzt Lilli in ihre Arme.
„Ach, lass doch diese Förmlichkeiten. Herzlich willkommen, Lilli. Endlich hat er dich gefunden. Ich bin so glücklich darüber.†œ Conchita lächelte Lilli an und legte ihr zärtlich die Hand auf die Wange.
„Du musst wissen, ich habe das dritte Gesicht. Ich habe von dir geträumt und ich wusste, dass du für Fernando bestimmt bist.†œ Ihr Gesichtsausdruck änderte sich schlagartig. Plötzlich sah sie besorgt aus.
„Aber du bist in Gefahr und ich weiß noch nicht warum.†œ
Lilli wurde blass und schaute Conchita entgeistert an. Aber Conchita hatte schon wieder ihr liebevolles, offenes Lächeln auf dem Gesicht und plapperte munter weiter.
„Mach dir keine Sorgen, mein Engel. Wir passen schon auf dich auf.†œ
Sie wirbelte herum und zog ihren Mann an ihre Seite.
„So, und das mein Schatz, ist Paco, mein Mann. Wenn du irgendetwas brauchst, wende dich an uns. Wir sind immer für dich da. So, und jetzt setzt euch hin und trinkt gemütlich einen erfrischenden Eistee. Ihr müsst ja furchtbar durstig sein†œ
Noch bevor Lilli wusste wie ihr geschah, saßen sie und Fernando in einem der Sessel und beide hatten ein Glas Eistee in der Hand. Conchita war mit Paco verschwunden. Angelina lehnte grinsend an einer Säule und schaute Lilli schaute an.
„Ja, Lilli, ein Tornado ist nichts gegen diese Frau. Aber du wirst dich schnell an sie gewöhnen. Sie ist ein absoluter Schatz und unsere Familie geht ihr über alles.†œ
Angelina stieß sich von der Säule ab und gab Lilli und Fernando einen Kuss auf die Stirn.
„Ich muss mich jetzt wieder um meine Arbeit kümmern. Fernando, ich habe die hintere Gästesuite für euch herrichten lassen. Ihr wollt euch sicher etwas ausruhen. Essen gibt es um acht Uhr. Bis später.†œ
Angelina eilte davon. Fernando drehte sich zu Lilli und musste laut lachen.
„Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich einmal so sprachlos erlebe. Na, es war wohl doch ein bisschen viel jetzt.†œ
Lilli entspannte sich langsam und genoss die friedliche Stimmung auf der Veranda.
„Deine Mutter hat recht, Conchita ist eher wie ein Hurrikan.†œ
Sie ließ sich zurück in den Sessel sinken und nahm einen großen, erfrischenden Schluck Eistee.
„Sag mal, Conchita und Paco sind doch Menschen. Wissen sie, dass ihr Vampire seid?†œ
„Ja, natürlich wissen sie es. Conchitas Familie ist uns schon seit Generationen treu ergeben. Schon ihre Mutter und Großmutter waren bei meiner Familie angestellt. Nein, das trifft es nicht. Sie sind nicht angestellt, sondern wurden eher adoptiert. Sie gehören einfach zu unserer Familie als wären sie mit uns blutsverwandt. Sie haben und hatten alle das dritte Gesicht. Diese Gabe wird anscheinend immer auf die Mädchen vererbt. Auch Conchitas Tochter Rosalia hat die Gabe geerbt. Leider ist sie im Moment nicht da. Sie studiert in Yale und kommt so wie ich nur selten nach Hause. Anfangs war es eine Zufallsbekanntschaft und eher eine Zweckgemeinschaft. Menschen mit besonderen Gaben haben es nicht gerade leicht und lebten früher ja auch sehr gefährlich. Conchitas Großmutter schloss sich aus purem Selbsterhaltungstrieb meiner Familie an und konnte so beschützt leben.

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Aus dieser Zweckgemeinschaft erwuchs dann aber eine tiefe Freundschaft und Liebe zwischen unseren Familien und sie verschmolzen einfach miteinander.†œ
Lilli schaute Fernando jetzt sehr nachdenklich an. Er bemerkte sofort, dass sie etwas sehr beschäftigte. Er legte seine Hand auf ihre und merkte, dass Lilli zitterte.
„Was ist los? Spuck es aus. Es hat was mit Conchitas Bemerkung zu tun, dass du in Gefahr bist, oder?†œ
„Ja, genau und ich glaube, ich weiß auch woher mir Gefahr droht.†œ
Fernando schnellte nach vorne, nahm Lillis Hand fest in seine und schaute sie sehr ernst an.
„Woher?†œ
„Ich glaube von Joana. Vorhin, als wir sie gesehen haben, wurde ich nur auf sie aufmerksam, weil mir ein unheimlich intensives, beängstigendes Gefühl entgegenschlug.†œ Lilli musste schlucken.
„Sie hasst mich. Abgrundtief. So einen starken Hass habe ich bisher selten gespürt, und ich verstehe es nicht. Warum hasst sie mich so und zu was ist sie fähig? Ist es vielleicht, weil ich eine Elfe bin oder hat es mir dir zu tun? Warst du vielleicht mal mit ihr zusammen und sie verkraftet es nicht, dich jetzt mit einer anderen Frau zu sehen? Ich bin absolut ratlos.†œ
Fernando hatte jetzt einen etwas beunruhigten und nachdenklichen Gesichtsausdruck.
„Ich kann mir das auch nicht erklären. Joana ist die Tochter von unseren Nachbarn. Wir sind zusammen aufgewachsen, aber wir hatten nie etwas miteinander. Sie ist für mich wie eine Schwester. Ich weiß aber nicht, ob sie vielleicht Gefühle für mich entwickelt hat. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass sie etwas gegen Elfen hat oder sie sogar hasst. Aber sie ist sicher zu Einigem fähig. Unsere Nachbarn sind auch Vampire. Wenn Conchita Gefahr spürt, müssen wir auf der Hut sein und der Sache auf den Grund gehen. Ich denke, morgen beim Barbecue werden wir wohl Gelegenheit dazu haben.†œ
Lilli seufzte.
„Ja, laß uns morgen der Sache auf den Grund gehen. Ich bin total erledigt und sehne mich jetzt nach einer schönen heißen Dusche und nach ein bisschen Schlaf.†œ
Fernando stand auf und zog Lilli aus ihrem Sessel in seine Arme.
„Ja, wir gehen jetzt in unser Zimmer und lassen das alles ein bisschen sacken.†œ
Er führte sie durch die Tür ins Haus und wußte genau, dass die nächste Überraschung auf Lilli wartete und sie wahrscheinlich ganz umhauen würde. Und er behielt recht.
Sie schritten durch eine sehr großzügige Diele und standen dann in einem riesigen Innenhof, der Lilli den Atem stocken ließ. Rings um den Innenhof führte ein Säulengang, von dem aus die Zimmertüren abgingen. In dem Hof selbst stand eine riesige uralte Eiche, deren Baumkrone den ganzen Hof überdachte. An ihrer Wurzel sprudelte fröhlich eine kleine Quelle. Ein kleiner Bachlauf schlängelte sich über den Boden und verschwand an einer Ecke des Hofes im Erdboden. Vogelgezwitscher erfüllte die Luft und mehrere gemütliche Liegen luden zum Ausruhen und Entspannen ein. Lilli machte sich von Fernando los und ging quer durch den Hof auf die wundervolle Eiche zu. Sie breitete ihre Arme aus und schmiegte sich an den Stamm. Sie schloss die Augen, ihre Finger streichelten zärtlich über die Rinde und sie atmete tief den Duft des Baumes ein. Ein Gefühl des vollkommenen Glücks durchströmte sie und ihr Gesicht bekam einen vollkommen verklärten Ausdruck. Sie war für kurze Zeit nicht mehr auf dieser Welt.
„Ich gehe hier nicht mehr weg. Das ist dir ja wohl klar†œ, sagte sie glücklich lächelnd zu Fernando und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Eiche.

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„Ich dachte, du sehnst dich nach einer heißen Dusche und ein wenig Schlaf†œ, sagte Fernando lachend und ging auf sie zu.
„Ich wusste, dass dir unser Prachtstück gefallen würde. Ich konnte es gar nicht erwarten, ihn dir zu zeigen. Aber das Warten hat sich gelohnt. Du warst noch nie schöner wie gerade jetzt in diesem einen Moment.†œ
Fernando sah Lilli fast ehrfürchtig an und küsste sie dann zärtlich.
„Ich liebe dich†œ, flüsterte Lilli und schlang ihre Arme um seinen Hals.
„Das kannst du mir ja gleich beweisen†œ, flüsterte Fernando, nahm sie auf die Arme und trug sie zu ihrem Zimmer. Lilli zuckte zusammen und ihre Glücksgefühle von eben waren wie weggefegt.
„Entschuldige. Habe ich dir wehgetan?†œ, fragte Fernando.
Lilli sah ihn an.
„Nein. Wieso?†œ
„Du bist doch gerade etwas zusammengezuckt†œ, antwortete er mit einem misstrauischen Gesicht.
„Hab ich dir wehgetan oder hat dich irgendwas erschreckt?†œ
„Nein, es ist alles in Ordnung. Ich weiß nicht, warum ich gezuckt habe. Liegt wahrscheinlich daran, dass ich so kaputt bin. Aber wenn ich jetzt erst einmal geduscht habe und in frischen Klamotten stecke, geht es mir bestimmt wieder besser.†œ
Lilli sah an Fernandos Gesicht, dass er ihr das nicht abnahm, und schon stand sie vor dem nächsten Problem. Sie hatte es die ganze Zeit erfolgreich verdrängt, aber jetzt türmte es sich wieder mächtig vor ihr auf. Sie wusste genau, dass sie es jetzt anpacken musste.

Fortsetzung folgt…

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Seitensprung der Sisterhood – Ankunft in Schottland

Seitensprung der Sisterhood

Kapitel 1
Ankunft in Schottland

Ich war immer noch etwas nervös. Immerhin war ich das erste Mal ohne meine Schwestern unterwegs. Alleine mit Duncan nach Schottland. Duncan… Es war schon merkwürdig – da kannte man jemanden erst einige Wochen, wusste genau, dass man in ihm den richtigen Partner oder Gefährten gefunden hatte, und schon krempelte man sein ganzes Leben um. Natürlich war ich neugierig auf sein Zuhause, ich wusste nur nicht genau, wo das war. Er hatte mir nur gesagt, dass es in der Nähe von Fort Williams lag, wo auch immer das sein mochte. Ich war ja noch nie in Schottland. Er hatte mir eigentlich auch nicht viel über seine Familie erzählt. Nur, dass seine Eltern nicht mehr lebten. In dem Punkt war er sehr ziemlich verschwiegen. Vielleicht war das ja die beste Zeit, um sich besser kennen zu lernen. Denn Zeit hatten wir ja nun endlich genug füreinander. Neugierig sah ich aus dem kleinen Fenster. Unter uns lag eine dünne Wolkenschicht mit einigen Lücken, die ab und zu die Sicht auf das Meer freigab. Es war ein angenehm ruhiger Flug. Duncan war wenige Minuten zuvor von unserem Piloten ins Cockpit gerufen worden, also ließ ich meinen Blick in aller Ruhe durch das Innere der Kabine schweifen. Es war ganz anders als ich es von den Charterflügen gewohnt war. Alles war schön geräumig und komfortabel eingerichtet. Die wenigen Sitzplätze bestanden aus gemütlichen Sesseln, und hatten nichts mit den engen Sitzreihen in der Touristenklasse gemeinsam. An meiner Konsole entdeckte ich einige Knöpfen, die direkt neben der breiten Armlehne angebracht waren. Neugierig drückte ich den ersten und wartete gespannt, was passierte. Oh, das Licht wurde gedimmt. Na ja, das war jetzt nicht so spektakulär, also probierte ich den nächsten aus. Leise Musik erklang. Mh… okay. Beim dritten Knopf entfuhr mir unwillkürlich ein „Huch!†œ, als sich plötzlich die Rückenlehne nach hinten neigte, der Sitz sich in eine bequeme Liegefläche verwandelte, und ich flach auf dem Rücken lag. An der Wand neben mir öffnete sich eine Klappe und ein Brett schob sich mir entgegen, auf dem ein Kissen und eine Decke lagen. Beides nahm ich an mich, und langsam schloss sich die Klappe wieder. Zwei Knöpfe waren jetzt noch übrig. Also probierte ich den vorletzten und konnte beobachten, wie ein Monitor langsam von der Decke herab schwebte, sich etwas nach vorne neigte und auf halber Höhe stehen blieb. Gleichzeitig öffnete sich eine weitere Klappe neben mir und gab einen Blue-Ray Player mit einer großen Auswahl an Discs frei.
„Wow! Also hier kann man es aber aushalten!†œ
Blieb nur noch der letzte Knopf. Tja, und der öffnete eine gut sortierte kleine Bar mit allerhand Leckereien, die ich erst mal ausgiebig begutachtete. Als Duncan wieder die Kabine betrat, war ich gerade dabei, es mir gemütlich zu machen. Er blieb kurz vor mir stehen und musterte mich grinsend. Oh, ich muss wohl ein Bild für die Götter abgegeben haben, denn in einer Hand hielt ich noch die Decke, das Kissen lag schon unter meinem Kopf, und in der anderen Hand hielt ich mindestens 5 von den Discs. Ein halb aufgegessener Schokoriegel steckt zwischen meinen Zähnen und ich lag mit angezogenen Knien, zwischen denen ich eine Dose Coke eingeklemmt hatte, auf dem Rücken. Die Fernbedienung lag auf meinem Bauch.
„Warte meine Süße, ich helfe dir.†œ
Er beugte sich langsam über mich und… biss in den Schokoriegel.
„Mh lecker, süß und cremig. Oh da ist ja noch mehr†œ, murmelte er und küsste mich. Als sein Kuss intensiver wurde, und seine Hand sich unter mein T-Shirt verirrte, ließ ich die Sachen einfach fallen und umarmte ihn.
„Duncan? Der Pilot?†œ, fragte ich leise und knabberte an seinem Ohrläppchen.
„Der ist beschäftigt für die nächsten Stunden†œ, versicherte er mir mit seinen glitzernden dunklen Augen und öffnete den Knopf meiner Jeans….

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Später, sehr viel später, nachdem wir etwas geschlafen und eine kleine Mahlzeit zu uns genommen hatten, schenkte er mir einen Kaffee ein und setzte sich mir gegenüber. Er sah mich ernst an, räusperte sich und fuhr sich mit einer Hand durch seine Haare. Er wirkte seltsam angespannt und nervös.
„Duncan, was ist denn?†œ
Er atmete hörbar aus, nahm meine Hand.
„Tut mir leid, es gibt eine Planänderung.†œ
Ich sah ihn neugierig an.
„Was?†œ
„Ja, wir werden nicht nach Glasgow fliegen, sondern nach Inverness. Ich habe vorhin die Order… also, als der Pilot mich gerufen hat, da war Mythos am Funk. Wir müssen zuerst auf das Anwesen. Nur für ein paar Tage, höchstens zwei Wochen.†œ
Er sah aus dem Fenster und biss die Zähne zusammen.
„Na, so schlimm ist das doch nicht!†œ, dachte ich nur verwundert.
„Und wo ist das Anwesen? Ist es weit weg von Fort Williams, wo immer das auch ist?†œ, fragte ich ihn. Er sah mich immer noch nicht an.
„Das Anwesen liegt in der Nähe von Loch Ness†œ, sagte es dann leise.
Oha, jetzt musste ich doch kichern, hielt mir aber schnell die Hand vor den Mund. Endlich sah er mich wieder an. Gott sei Dank war er nicht mehr so ernst. Und als er meinen amüsierten Gesichtsausdruck sah, musste er sogar schmunzeln.
„Ja, ich weiß, was du denkst. Aber so nahe ist Loch Ness auch wieder nicht. Es tut mir leid Angie, aber es ist wichtig.†œ
Bevor er wieder ernster wurde, umfasste ich sein Kinn.
„Ach, und wenn schon, mir ist es egal. Dann fahren wir eben erst zum Anwesen. Solange wir nur zusammen sind. Duncan, du machst dir wie immer zu viele Gedanken.†œ
„Ja, weil es da noch etwas gibt, was…†œ
Da wurde er von der Stimme des Piloten unterbrochen, der uns über die Sprechanlage zum Anschnallen aufforderte und uns auf die nahende Landung in Iverness hinwies. Ich strahlte Duncan an, küsste ihn schnell, dann zog ich den Gurt fest, schnappte mir seine Hand und sagte feierlich: „Schottland, ich freue mich auf dich!†œ
Minuten später setzte die Maschine sanft auf schottischem Boden auf.
Nachdem wir alle Formalitäten erledigt hatten, und durch den Zoll waren, verschwand unser Gepäck auf geheimnisvolle Weise. Ich sah ihn nur fragend an.
„Oh, das hat alles seine Richtigkeit.†œ
Dann strahlte er mich an, fasste mich an der Hand und zog mich hinter sich her.
„Komm mein Herz, ich möchte dir etwas zeigen!†œ
Er hatte er furchtbar eilig und war kaum zu bremsen, bis ich plötzlich stolperte.
„Hey, langsam! Ich hab nun mal nicht so lange Beine!†œ
„Oh, tut mir leid.†œ
Da hob er mich einfach hoch und trug mich die letzten Meter zu einem kleinen Gebäude.
„Aber deine sind hübscher!†œ, flüsterte er mir ins Ohr und nutze die Gelegenheit, um mir kurz ins Ohrläppchen zu beißen. Wie immer reagierte mein Körper sofort und ein Kribbeln wie bei bei einem elektrischen Stromschlag durchfuhr augenblicklich meinen Körper.
In dem Gebäude blieb er abrupt stehen und ließ mich runter. Dann zeigte er mir, was ihn so in Aufregung versetzt hat.
„Das Angie, ist mein Baby!†œ

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Ich starrte ihn ungläubig an.
„Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder? Ein AUTO? Du nennst dein Auto Baby?†œ
„Meine liebe Angie, das ist kein Auto! Das ist eine Dodge Viper SRT-10! Das Baby hat einen 8,4 Liter Motor, 600 PS und beschleunigt von 0 auf 60 Meilen in 4 Sekunden.†œ
Zärtlich strich er über den glänzenden Kotflügel.
„Auto… tztztz.†œ
Ich verbiss mir mühsam ein Lachen und sagte ernsthaft.
„Natürlich, und so schön schwarz. Hübsche Augen hat Baby ja, muss ich zugeben aber, oh Duncan, dein Baby hat aber breite Füße, und bestimmt auch einen riesigen Durst, oder?†œ
Er runzelte die Stirn und sah mich argwöhnisch an.
„Machst du dich gerade über mich lustig, ja?†œ
Ich hakte mich bei ihm ein und sah ihn unschuldig an.
„Aber ich doch nicht. Ich habe ja nur ein kleines unwürdiges Auto, das mich von A nach B bringt. Aber ich muss zugeben, dein Baby ist wirklich schön. Tja, da kann ich leider nicht mithalten.†œ
Das Auto war wirklich ein Traum, aber bestimmt auch sehr teuer gewesen. Ich seufzte tief.
„Du hast ein Auto? Ich denke, auf der Insel braucht ihr keine†œ, fragte er erstaunt.
„Nicht auf der Insel, aber ich habe noch ein kleines Apartment auf dem Festland, und da steht mein…äh… Erdbeerkörbchen.†œ
„Dein was?†œ
Ja, mein heißgeliebtes Erdbeerkörbchen! Mein Golf 3 Cabrio, in Metallic-Lila!†œ Ich verschränkte die Arme und sah ihn dabei trotzig an.
„Sag jetzt bloß nichts Falsches! Er hat zwar nur 100 PS und auch schon über 200 000 km auf dem Buckel, ein paar klitzekleine Beulchen und hier und da eine kleine Schramme, ab und zu hustet er auch mal, aber er war mir immer treu und hat nie rumgezickt. Er hat ein gutes Herz und eine Seele. Naja, und einen Namen hat er auch†œ, gab ich zögernd zu, „er hört auf den Namen… Alf!†œ
Breit grinsend sah er auf mich herunter. Ich stieß ihn leicht vor die Brust.
„ Oh, schon gut! Wenn ich der Viper die Reifen küsse, darf ich dann auch mitfahren?†œ
„Küss lieber mich, du kleine Verrückte†œ, raunte Duncan kichernd in mein Ohr und setzte mich einfach kurzerhand auf den Beifahrersitz und schnallte mich an. Geschmeidig wie eine Raubkatze glitt er hinter das Lenkrad, startete das Auto und gab Vollgas. Sofort wurde ich in meinen Sitz gepresst und mein Magen und mein Herz trafen sich ruckartig irgendwo in der Mitte. Oh Himmel, wo kann ich mich hier bloß festkrallen? Aah, fragt sich nur, wer hier verrückt ist! Ohne den Fuß vom Gas zu nehmen, fädelte er sich geschickt in den fließenden Verkehr ein und überholte gleich mehrere Autos, und das alles auf der für mich falschen Seite! Eigentlich wollte ich mir die Gegend ansehen, doch die verschwamm vor meinen Augen und ich kniff sie schnell zu. Langsam rutschte ich auf meinem Sitz so tief wie möglich nach unten. Da spürte ich seine Hand auf meinem Oberschenkel.
„Entspann dich, Angie und genieße die Fahrt!†œ
Ich ahnte sein Lächeln mehr, als dass ich es sah. Genießen? Ja klar! Moment mal! Wenn eine Hand auf meinem Bein lag, dann …
„Duncan! Willst du, dass ich einen Herzinfarkt bekomme? Nimm deine Hand da weg und tu sie dahin, wo sie hingehört!†œ, schrie ich in Panik und riss erschrocken meine Augen auf.
„Wir können keinen Infarkt kriegen†œ, stellte er trocken fest. Dann seufzte er und drosselte die Geschwindigkeit auf ein erträgliches Maß.
„Also gut mein Herz, weil du es bist.†œ
Beruhigend tätschelte er mein Bein.
„Schade, ich fahre gerne schnell!†œ
„Danke. Tut mir leid, aber ich habe mit hohen Geschwindigkeiten so meine Probleme†œ, gestand ich kleinlaut. Ich lehnte meinen Kopf an seinen Arm.
„Sag mal, wie passt du überhaupt in dieses Auto?†œ
„Spezialanfertigung.†œ

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Ich musste lachen und sah dann interessiert aus dem Fenster. Der Himmel war leider bewölkt. Wir hatten Inverness schon weit hinter uns gelassen und befanden uns auf einer einsamen Straße, die sich durch die Landschaft schlängelte. Plötzlich sah ich etwas Ungewöhnliches.
„Halt mal schnell an!†œ, rief ich überrascht aus.

Duncan trat abrupt auf die Bremse. Der Gurt verhinderte zum Glück, dass ich mit der Nase auf das Handschuhfach schlug.
„Was ist?†œ, rief er und sah mich erschrocken an.
„Schnell!†œ Ungeduldig riss ich an dem Türgriff und sprang aus dem Auto ohne auf ihn zu warten. Ein, zwei Schritte neben der Straße blieb ich stehen, und als ich ihn hinter mir spürte, deutet ich nach vorne.
„Sieh` doch mal! Ist das nicht wunderschön?†œ
Er umschlang mich mit seinen Armen, drückte mich an sich und lehnte sein Kinn auf meinen Kopf.
„Habe ich tatsächlich gesagt, wir können keinen Infarkt kriegen? Angie, mach das nie wieder!†œ Er seufzte tief.
„Ob ich mich je an deine kleinen Verrücktheiten gewöhnen kann, bezweifele ich stark. Mit dir wird es jedenfalls nie langweilig.†œ
„ Na das hoffe ich doch! Aber das war es doch wehrt.†œ Wir standen auf einer kleinen Anhöhe, von der aus wir die vor uns liegende Landschaft weit überblicken konnten. Grüne Hügel wechselten sich ab mit kleinen verstreuten Wäldern. In der Ferne sahen wir einige schneebedeckte Bergspitzen. Hier und da erkannten man einige Gebäude und steinerne Ruinen, die vor vielen Jahren mal eine Burg gewesen sein mussten. Kleine graue Straßen schlängelten sich durch die Landschaft und unterbrachen das satte Grün. Die Sonne hatte die Wolkendecke teilweise durchbrochen und das Spiel von Licht und Schatten erzeugte den Eindruck, als ob die Landschaft unter uns in Bewegung war. Es sah so aus, als würden auf einem grünen Meer kleine Wellen tanzen und die Oberfläche dadurch bewegen. Dort, wo die Sonnenstrahlen auf einen der vielen kleinen Seen trafen, glitzerte die Oberfläche wie eine unregelmäßige polierte Silbermünze. Es wehte nur ein leichter Wind. Ich lehnte mich zurück an seine Brust, eingehüllt von seinem Duft, genoss ich seine Nähe, das Naturschauspiel und diesen für mich vollkommenen Augenblick. Ich wünschte mir nur, ihn irgendwie festhalten zu können, damit ich mich immer wieder daran erinnern konnte. Dann drehte ich mich zu ihm um, sah ihn begeistert an und flüsterte:
„Weißt du eigentlich, wie schön dein Land ist?†œ
Er sah mich liebevoll an, strich meine Haare behutsam aus dem Gesicht und küsste mich leicht auf den Mund.
„Eigentlich schon, nur habe ich es lange nicht so gesehen und Einiges viel zu schnell vergessen, da ich lange nicht hier war. Es ist schön, ab und zu daran erinnert zu werden. Besonders wenn die Sonne mal scheint. Es freut mich, dass es dir gefällt.†œ Doch dann sah ich etwas Ungewöhnliches in der Ferne aufblitzen. Bei näherer Betrachtung sah es aus wie ein Kreis, ein sehr großer Kreis, der aus Steinen bestand die von innen heraus zu leuchten schienen.
„Was ist das?†œ, fragte ich ihn.
„Mh, das müsste der Feenring in der Nähe des Anwesens sein. Es ist nämlich nicht mehr so weit bis dahin, höchstens noch ein paar Meilen. Komisch. Normalerweise zeigt er sich nicht so offensichtlich, besonders tagsüber nicht. Sterbliche können ihn nicht sehen. Nur in der Nacht zur Sommersonnenwende, dann, wenn er am intensivsten leuchtet, können Menschen, die sensibel genug für mystische Dinge sind, manchmal ein helles Schimmern erkennen. So ein leuchtender mystischer Ring ruft die Feen in der Umgebung zu einer Versammlung in der Morgendämmerung zusammen, wenn ihre Kräfte am stärksten sind.†œ
Oha, Feen! Unwillkürlich fröstelte ich.
„Stimmt was nicht?†œ, fragte Duncan sofort.
„Wir Hexen haben eigentlich immer ein natürliches Misstrauen Feen gegenüber. Diese Wesen sind uns zwar ziemlich ähnlich, sie leben auch im Einklang mit der Natur und beziehen einen Teil ihrer Energie für ihre Magie aus ihr, so wie wir, aber sie sind vollkommen undurchschaubar, rätselhaft und manchmal können sie auch sehr rücksichtslos und grausam sein. Wenn wir Hexen uns etwas von der Natur nehmen, geben wir immer etwas zurück. Sei es eine Dienstleistung, einen Gefallen oder einen Teil von uns selbst – wie bei einem Tauschgeschäft.†œ
„Was denn von euch?†œ, fragte er interessiert.
„Ach meistens sind es nur einige Haare. Feen geben nie etwas freiwillig von sich her. Sie sind… können sehr besitzergreifend und arrogant sein, nicht alle, aber eben ein großer Teil von ihnen. Und Feen haben Flügel†œ, fügte ich noch bedauernd und ein bisschen neidisch hinzu.
Duncan lachte leise.

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„Ich liebe dich auch ohne Flügel, mein Herz. Außerdem brauchst du doch keine, du kannst ohne sie fliegen.†œ Ich seufzte. „Stimmt schon, aber so ein paar Flügel sehen so hübsch aus.†œ Wieder lachte er leise und meinte dann ernster: „Aber diese Sache ist schon sehr merkwürdig. Wir haben doch erst späten Nachmittag. Na ja, was soll`s, das Rätsel werden wir jetzt sowieso nicht lösen. Die Sonne ist schon wieder hinter den Wolken verschwunden. Komm, steigen wir ein, wir müssen weiter.†œ
Nach wenigen Meilen durch die schöne schottische Landschaft verlangsamte er die Fahrt plötzlich und bog in einen kleinen unbefestigten Weg ein. Kurze Zeit später hielt er an, drehte sich zu mir und küsste mich auf die Wange.
„So, mein Herz, wir sind da.†œ
Ach ja? So aufmerksam ich mich auch umschaute, ich sah… nichts! Von dem Anwesen oder überhaupt irgendeinem Gebäude keine Spur. Nur einige niedrige Bäume standen sehr nahe an dem Weg. Fragend sah ich ihn an, doch er öffnete nur sein Fenster und streckte seinen Arm aus, um einen der Bäume mit der flachen Hand zu berühren. Was dann Sekunden später passierte, raubte mir schier den Atem! Genau vor uns erschien wie aus dem Nichts ein riesiges schmiedeeisernes schwarzes Tor, an dessen Streben viele Mystische Figuren und Zeichen angebracht waren, die so kunstvoll und filigran gearbeitet waren, das jeder Betrachter glaubten musste, dass sie lebendig waren und sich bewegen würden. Ein Drache zum Beispiel warf seinen spitzen Kopf in den Nacken und spie Feuer in den Himmel, während ein Werwolf, der auf seiner Schwanzspitze saß, den Mond, der über ihm schwebte, anheulte. Daneben lag ein Kobold unter den Klauen eines wunderschönen Phönix, der in seinem gebogenen Schnabel ein goldenes Ei trug. Auf einem seiner ausgebreiteten Schwingen saß ein lächelnder Gargoyle. Doch mir blieb wenig Zeit dieses Tor zu bewundern, denn schon schwang es auf. Als es zur Seite glitt, hatte ich das Gefühl, als wenn mich die Figuren neugierig mit ihren Augen verfolgen würden. Mir wurde es etwas unheimlich und ich rückte näher zu Duncan.
„Ist der Baum eine Art Schloss, und du bist der Schlüssel?†œ, fragte ich ihn. Er grinste ein bisschen überheblich.
„So etwas Ähnliches. Wir nennen es Molekular-Bioscanner.†œ Als ich die Augen verdrehte, lenkte er ein.
„Okay, ein Schlüssel.†œ Doch dann wurde meine Aufmerksamkeit abgelenkt – das offene Tor gab die Sicht auf etwas Gigantisches frei.

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„Wow!†œ, entfuhr es mir, denn genau vor uns ragte eine riesige Hausfront, die mindestens 25 Meter hoch und aus rotem Backstein gemauert war, empor. Oben auf den breiten Dachzinnen hockten Gargoyles. Sie grinsten mit ihren furchterregenden Fratzen auf das Anwesen. Unheimlich! Wir fuhren in Schrittgeschwindigkeit auf einem gepflasterten Weg durch einen steinernen Rundbogen auf einen kleinen Park zu. Es sah so aus, als hätte man die schönsten Elemente der Universitätsgebäude aus Oxford, Cambridge und Yale hierher geschafft, zwischen den ganzen Bäumen und Blumenrabatten neu angeordnet und so einen einmaligen Campus geschaffen. Ich war einfach überwältigt! Der Anblick war wunderschön, besonders, da alles durch die einsetzende Abenddämmerung in ein warmes Orange getaucht war. Mit offenem Mund starrte ich aus dem Fenster. Wir fuhren auf einen großen, schwarzen Gedenkstein in der Mitte des Parks zu, dann bog Duncan nach rechts ab und hielt vor einem zweistöckigen grauen Gebäude. Über dem Eingang war eine steinerne schwarze Orchidee angebracht.
„Das ist das Haus des Ordens. Darin sind unsere privaten Apartments. Die Verwaltung, das Trainings- und Schulungszentrum ist dort drüben. Alle Gebäude sind miteinander verbunden. Sei es nun ober oder unterirdisch. Und ganz weit hinten, das ist von hieraus nicht zu sehen, liegt die Stadt der Zwerge†œ, erklärte mir Duncan und deutete nach links auf die anderen Gebäude. Stolz schwang in seiner Stimme mit, und er war offensichtlich sehr glücklich darüber, endlich mal wieder zu Hause zu sein.
„Aber lass uns erst mal reingehen, morgen ist auch noch ein Tag, dann zeige ich dir alles†œ, sagte er zu mir und stieg aus dem Auto um mir die Wagentür zu öffnen. Beim Aussteigen hörte ich jemanden mit einer ganz aufgeregten Stimme rufen.
„Sir! Sir Duncan! Habe ich doch richtig gehört! Wie schön, Sie wieder hier zu haben, Sir.†œ Die Stimme gehörte zu einem kleinen rundlichen Mann mit Pausbacken und dichten grauen Haaren, vermutlich ein Zwerg, der einen mit Öl verschmierten Arbeitsanzug trug und mit einem Schraubenschlüssel winkte. Er strahlte über sein ganzes Gesicht und lief auf uns zu. Seine blauen Augen leuchteten regelrecht. Er ergriff Duncans Hand und schüttelte sie kräftig. Dann jedoch ließ er sie schnell los und streichelte der Viper behutsam über die Motorhaube.
„Ah, der Sir hat auch Baby mitgebracht. Wie schön! Na, meine Liebe, hat er dich auch gut behandelt?†œ Hä? Duncan lachte laut, als er meinen ungläubigen Gesichtsausdruck bemerkte und legte den Arm um mich.
„Darf ich dir Henry vorstellen? Er ist für unseren gesamten Fuhrpark zuständig. Henry? Das ist Angie, meine Gefährtin.†œ
„Oh! Verzeihung, Mylady. Freut mich wahnsinnig, Sie endlich kennen zu lernen†œ, beeilte er sich zu sagen, wischte seine Hände an seiner Hose ab und schüttelte mit der gleichen Begeisterung meine Hand. Er hatte ein offenes, freundliches Gesicht, und ich mochte ihn gleich. Entschuldigend fügte er noch ein bisschen verlegen hinzu:
„Ich habe Baby und den Sir doch so vermisst.†œDuncan schüttelte nur lachend seinen Kopf und warf ihm die Autoschlüssel zu.
„Dann bring Baby mal schön vorsichtig ins Bettchen. Und ich habe dir doch schon hunderte Mal gesagt, lass endlich den „Sir†œ weg!†œHenry ließ den Schraubenschlüssel einfach fallen und fing geschickt die Autoschlüssel auf.
„Natürlich, Sir, kommt nicht wieder vor, Sir. Versprochen, Sir.†œ Ohne uns noch eines Blickes zu würdigen, klemmte er sich hinter das Lenkrad und startete das Auto. Strahlend nickte er und gab Vollgas. Duncan zuckte merklich zusammen.
„Vor…!†œ Doch Henry war schon mit quietschenden Reifen um die Ecke verschwunden.
„… sicht†œ, flüsterte er und sah seiner geliebten Viper bekümmert hinterher. Ich verdrehte stöhnend die Augen und knuffte ihn leicht.
„Oh nein, noch ein Verrückter! Können wir jetzt bitte…?†œ Ich war total erschöpft von der langen Reise und wollte mich nur noch ausruhen.

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„Natürlich. Ach, ich weiß ja, dass Baby bei ihm in guten Händen ist. Aber er ist manchmal ein bisschen zu stürmisch. Du hast recht, gehen wir rein. Ich nehme an, Mary wartet schon auf uns†œ, unterbrach er mich und schob mich in Richtung Eingangstür.
„Moment mal, wer ist denn Mary?†œ, fragte ich ihn misstrauisch und blieb einfach stehen. Er drehte sich zu mir.
„Sie ist … sie sorgt für uns, also für uns Brüder. Keiner weiß genau wie alt sie ist. Sie war die Nanny von meinem Vater und dann von mir und…, jedenfalls ist sie mit mir auf das Anwesen gezogen.†œ In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen und eine kleine hagere Frau mit kurzen, sorgfältig frisierten grauen Haaren stand mit strenger Miene vor uns.
„Unpünktlich und zu spät! Nun ist das Essen verdorben!†œ
Ihre dunklen Augen sahen Duncan tadelnd an. Mich beachtete sie gar nicht. Duncan ließ sich nicht im Geringsten davon beeindrucken, sondern umarmte die kleine Frau und wirbelte sie herum. Dann küsste er sie auf beide Wangen.
„Ich freue mich auch, dich zu sehen, Mary!†œ Er drehte sich mit ihr zu mir und zwinkerte mir zu.
„Das ist meine Angie.†œAls er sie wieder auf den Boden gestellt hatte, streckte ich ihr freundlich meine Hand entgegen, die sie nach einigem Zögern auch ergriff. Mit einem unterkühlten Blick musterte sie mich. Unbehaglich wurde mir plötzlich bewusst, dass ich nach der Reise bestimmt wie ein zerrupftes Huhn aussehen musste. Dann sah sie mir tief in die Augen ohne meine Hand loszulassen.
„Sie ist keine Vampirin! Sie ist eine…†œ, flüsterte sie leise.
„Ja, ich bin eine Hexe, gut, nur eine halbe. Die andere Hälfte ist menschlich, aber ich bin stolz darauf!†œ Trotzig sah ich sie an, obwohl ich ein bisschen von ihrem skeptischen Blick verunsichert war, und entzog ihr meine Hand. Langsam schüttelte sie den Kopf und murmelte leise vor sich hin.
„Menschlich … das kann doch nicht sein…†œ Dann wandte sie sich wieder an Duncan.
„Hübsch ist sie ja, und auf den Mund gefallen auch nicht. Aber da ist noch etwas anderes in ihr…†œ
„Mary! Das reicht jetzt!†œ, knurrte Duncan bedrohlich und legte seinen Arm um mich.
„Ja, ja, schon gut. Ich sag ja nichts mehr. Los, rein mit euch! Mal sehen, was ich von dem Essen noch retten kann.†œ Ich konnte plötzlich ein Gähnen nicht mehr unterdrücken und wankte ein bisschen vor Müdigkeit. Duncan nahm mich vorsorglich am Arm und ging mit mir durch die imposante Eingangshalle hinter Mary her, die uns den Vortritt in einen sehr schönen Raum ließ. Ein hübsch gedeckter Tisch lud uns ein und wir setzten uns gegenüber. Mary verschwand in einem Nebenraum und so konnte ich ihm endlich die vielen Fragen stellen, die mir auf der Zunge brannten.
„Duncan, sag mal, warum konnte ich das Anwesen nicht von Anfang an sehen? Das ist bestimmt eine Art Schutzzauber, den ich nicht kenne, richtig?†œ Er nickte zustimmend.
„Und warum braucht ihr hier sowas überhaupt? Damit nicht Unbefugte aus Versehen über das Anwesen stolpern – also Spaziergänger und Touristen?†œ Wieder nickte er nur.
„Und was hat Mary gegen Hexen? Oder hat sie nur was gegen mich persönlich? Oh, vielleicht mag Mary mich ja nicht, weil wir zusammen sind? Liege ich richtig?†œ Kopfschütteln seinerseits.
„Ach ja, und der Feenring, was hat der hier zu bedeuten? Weißt du, dass ich gleich umfalle vor Müdigkeit? Es könnte aber auch der Hunger sein! Oh, aber was ich bis jetzt von dem Anwesen gesehen habe, gefällt mir! Besonders die Rosenbeete… oder mag Mary mich nicht, weil sie was Besseres für dich gewollt hatte? Der Raum hier ist aber hübsch eingerichtet. Antik und modern, eine sehr gelungene Mischung. Ist das euer Esszimmer? Also, für euch Brüder jetzt? Muss wohl so sein, bei dem langen Tisch hier, an dem wir sitzen. Hier passen ja mindestens 20 Personen dran. Oh, dann sind eure Apartments oben? …Duncan, warum sagst du denn nichts?†œAmüsiert betrachtete er mich. Dann breitete er einladend seine Arme aus.
„Komm her, bevor mir noch schwindelig wird.†œ Schnell setzte ich mich auf seinen Schoß und kuschelte mich an ihn. Oh man, der Jetlag hatte mich voll im Griff! Ich rieb meine Nase an seinem Hals und die Wirkung ließ nicht lange auf sich warten. Wie immer beruhigten mich sein Duft und seine Nähe.
„Ich weiß, ich plappere, aber ich bin so schrecklich müde. Tut mir leid.†œ
„Muss es nicht. Also zunächst einmal, Mary mag dich! Sie ist manchmal etwas ruppig, hat aber das Herz auf dem rechten Fleck. Das wirst du merken, wenn ihr euch erst besser kennengelernt habt.†œ

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Oh nein, dann möchte ich aber nicht in ihrer Nähe sein, wenn sie mal so richtig sauer ist! Doch gerade als er anfing mich zu küssen, kam Mary rein und stellte eine große Schüssel mit einem deftigen Eintopf auf den Tisch. Schnell sprang ich von seinem Schoß auf meinen Platz zurück. Ich kam mir wie ertappt vor. Und als mein Magen auch noch anfing laut zu knurren, wurde ich prompt rot! Sie verteilte das Essen und setzte sich mit ihrer unergründlichen Miene an das andere Ende des langen Tisches. Unauffällig schnupperte ich über meinem Teller. Das roch aber merkwürdig! Duncan jedoch strahlte.
„Danke Mary. Mein Lieblingsessen, Lammtopf! Weißt du, Angie, Mary macht den besten Lammtopf der ganzen Welt.†œEr zwinkerte mir verschwörerisch zu und fing an zu essen. Ja klar, das hat ja gerade noch gefehlt! Ich mochte kein Lamm, noch nie, und egal wie auch immer es zubereitet wurde, es schmeckte mir nicht. Aber wenn ich es mir mit ihr nicht ganz verderben wollte, musste ich da durch… irgendwie. Also nahm ich einen Löffel voll, kaute schnell und spülte alles mit einem großzügigen Schluck Wasser hinunter. Ich atmete tief durch und lächelte etwas mühsam. Stumm beobachtete sie uns. Ich nahm mir von dem Brot, das nun wirklich sehr lecker war und wandte mich wieder meinem Teller zu. Doch nach dem zweiten Löffel und zwei Gläsern Wasser konnte ich nicht mehr, der Geschmack war einfach schrecklich.
„Puh, jetzt bin ich aber satt. Ich schaffe keinen Bissen mehr. Schade, es ist köstlich Mary†œ, log ich und schob den Teller zu Duncan.
„Es hat Ihnen überhaupt nicht geschmeckt!†œMary sah mich durchdringend vom anderen Ende des Tisches an. Dann stand sie auf, kam langsam auf uns zu, nahm meinen noch vollen Teller in die Hand und… fing an zu lachen. Unsicher sah ich sie an. Ihr Blick hatte sich total verändert, selbst ihre Augen lächelten mich warm an. Was war das jetzt? Ein Trick? Schnell entschuldigte ich mich.
„Tut mir wirklich Leid, aber ich mag nun mal kein Lamm.†œ Sie schüttelte leicht den Kopf.
„Ich auch nicht. Das Zeug ist nur widerlich. Aber danke, dass Sie es versucht haben. Duncan liebt es. Er hat schon einen merkwürdigen Geschmack was das Essen angeht, nicht wahr?†œ
„Oh ja, wenn ich an das Haggis denke, was er mir mal aufgetischt hat!†œ Und ich erzählte ihr von dem Frühstück, das er mir auf der Seraphim serviert hatte. Die pikanten Details ließ ich natürlich weg. Sie sah ihn ungläubig an, doch er ließ sich nicht stören, sondern nahm sich sogar noch eine zweite Portion. Sie schüttelte nur den Kopf und schlug ihm leicht auf den Arm.
„Was denn? Mir schmeckt es super†œ, sagte er mit vollem Mund und schmunzelte vor sich hin.
„Wie konntest du nur! Haggis!†œ Dann tätschelte sie freundlich meine Hand.
„Keine Angst, meine Liebe, sowas gibt es hier nicht, oder nur ganz selten. Ich mache Ihnen schnell etwas anderes.†œ Als sie Anstalten machte aufzustehen, lehnte ich dankend ab und bat nur um einen Apfel. Ich war einfach zu müde, um noch etwas zu essen. Duncan schob seinen leeren Teller von sich und lehnte sich satt und zufrieden zurück.
„Das war wieder lecker, ach, wie habe ich das vermisst†œ, seufzte er und ergriff über den Tisch meine Hand. Oh nein, sein Handy klingelte.
„Wer… oh verdammt!†œ, fluchte er als er auf das Display sah. Plötzlich sprang er auf, lief ein paar Schritte und drehte uns den Rücken zu. Ich konnte nichts verstehen, doch ich spürte die merkwürdige Spannung, die ihn auf einmal ergriff. Mary und ich sahen uns verwundert an und zuckten gleichzeitig mit den Schultern. Sie stand auf und begann den Tisch abzuräumen. Nachdem er das Gespräch beendet hatte, ging ich zu ihm und legte meine Hand leicht auf seine Schulter.
„Was ist passiert?†œ, fragte ich ihn leise. Er drehte sich zögernd zu mir um.
„Nichts… ich muss nur noch mal weg. Mary wird sich um dich kümmern. Ich versuche, so schnell wie möglich wieder hier zu sein.†œ Sprach`s, küsste mich flüchtig auf die Stirn und war schon durch die Tür verschwunden.

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Ich starrte verwundert auf die Tür, durch die er so schnell verschwunden war. Was war das denn? Wo wollte er denn jetzt noch hin? Als ich Marys Hand auf meinem Arm spürte, drehte ich mich um und sah Verständnis in ihrem Blick.
„Kommen Sie, ich bringe Sie nach oben. Manchmal wird er ganz plötzlich zu einer Versammlung gerufen. Aber keine Sorge, er wird bestimmt nicht lange brauchen†œ, sagte sie leise und ging etwas schwerfällig die große Freitreppe hoch in den ersten Stock. Mir blieb nichts anderes übrig als ihr zu folgen, obwohl ich immer noch etwas erstaunt über Duncans plötzlichen Aufbruch war und gerne gewusst hätte, wer ihn angerufen hat. Gerade als ich meine Hand auf das schön geschwungene und sorgfältig polierte Geländer legte, bemerkte ich links neben der Treppe eine hölzerne Tür mit eisernen Beschlägen. Die Tür war mit einem großen antiken Schloss versehen und passte irgendwie gar nicht hierher. Sie sah uralt aus und war nicht besonders groß. Die Intarsien zeigten die gleichen Szenen, die mir auch schon an dem Tor bei der Einfahrt aufgefallen waren. Der Schlüssel fehlte. Ich nahm mir vor, Duncan zu fragen, was sich dahinter verbarg. Aber morgen war noch genügend Zeit dafür. Und so schleppte auch ich mich die Treppe hoch und freute mich auf mein Bett. Die Müdigkeit steckte in meinen Knochen. Oben zeigte Mary nach rechts einen langen Flur entlang.
„Auf der Seite wohnen Tim, Tiago, Eric und Cyrus, wenn sie auf dem Anwesen sind. Hier geht es zu Duncan, Fernando… Norbert und Bowen. Dragos Apartment ist ganz hinten. Ich habe schon gehört, dass er wieder dabei ist. Schön, er ist ein guter Junge!†œ Ich musste insgeheim grinsen. Junge! Für sie waren die Brüder wahrscheinlich wie ihre Söhne und sie litt bestimmt auch unter dem Verlust von Norbert und Bowen, die bei dem Kampf gegen die Red Dragons ums Leben gekommen waren. Unterdessen öffnete sie die Tür zu Duncans Apartment. Ich blickte noch schnell über meine Schulter zu den Türen von Norbert und Bowen. Da sah ich die Schwerter von den beiden und blieb abrupt stehen. Sie waren so an den Türen befestigt, dass ihre Spitzen nach unten zeigten. Ich schluckte schnell meine Tränen herunter, die mir unwillkürlich in die Augen traten, und räusperte mich.
„Was passiert mit den Apartments von Bowen und Norbert?†œ
„Sie wurden mit den Schwertern versiegelt. Und sie bleiben es auch, bis zwei neue Brüder vereidigt werden und dort einziehen. Ihre Namen werden morgen bei einer kleinen Zeremonie auf den Gedenkstein im Rosenpark geschrieben.†œ Für einen Moment sah sie uralt und sehr traurig aus, doch sie hatte sich schnell wieder gefangen und führte mich durch das Wohnzimmer ins Schlafzimmer und zeigte mir, dass sie schon all unsere Sachen in den Schränken verstaut hatte. Als ich an meine verboten scharfen Dessous dachte, die ich noch schnell in den Koffer geworfen hatte, wurde ich natürlich wieder rot und biss verlegen auf meine Unterlippe. Oh, wie peinlich! Doch sie verzog keine Miene, sondern zwinkerte mir auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer im Vorbeigehen zu. Und als sie sah, dass ich mich kaum noch auf den Beinen halten konnte, verabschiedete sie sich schnell.
„Ruhen Sie sich aus und schlafen Sie gut. Ich bin morgen Früh wieder da.†œ
„Danke, Mary. Und… es tut mir so leid, was mit Norbert und Bowen passiert ist†œ, fügte ich leise hinzu. Wahrscheinlich kannte sie nicht die ganze Geschichte, die zum tragischen Tod der beiden geführt hatte, aber das war auch gut so. Spontan drückte ich ihr einen Kuss auf die Wange.
„Und vielen Dank für die schönen Blumen.†œ Auf dem Tischchen in der Mitte des Raumes stand ein riesiger Strauß Rosen, die in allen möglichen Farben leuchteten. Der Duft war herrlich und erfüllte den ganzen Raum. Sie nickte kurz. Dann hob sie zögernd eine Hand und stich mir leicht über den Kopf, schloss die Tür hinter sich und schon war ich allein. Unbewusst zog ich meine Schuhe aus und krallte meine Zehen in den hellen flauschigen Teppich, der im Wohnzimmer und im Schlafzimmer den gesamten Boden bedeckte. Es fühlte sich so herrlich an, endlich wieder barfuß zu laufen. Nun konnte ich mich in aller Ruhe umschauen. In einem offenen Kamin brannte ein Feuer. Er war so groß, dass ich bestimmt problemlos aufrecht darin hätte stehen können. Auf dem Sims über dem Kamin, wo sonst oftmals ziemlich viel Nippes stand, war nichts – kein Bild, keine Erinnerungsstücke, einfach nichts! Auch die Wände in dem Raum waren leer. Nur ein riesiges in die Wand eingelassenes Regal voller Bücher, zeugte von einem Bewohner. Daneben war gerade noch Platz für eine Kommode, auf der ein Flatscreen stand. Alles wirkte sehr nüchtern und zweckmäßig, fast ein bisschen kalt und unpersönlich. Abgesehen von dem Bücherregal, ließ nichts auf Duncans regelmäßige Anwesenheit in dem Raum schließen. Aber das schwarze Ledersofa mit den vielen Kissen und dem Tisch davor, auf dem die Rosen standen, sahen gemütlich aus.

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Na wenigstens etwas! Ein großer Schreibtisch stand vor dem Fenster. Behutsam strich ich mit den Fingerspitzen über die Platte, auf der nur ein sehr teurer Füller, und ein kleines schmuckloses Kästchen lagen. Plötzlich kam ich mir ein bisschen verloren vor, so ganz alleine in seinem Apartment, denn Duncan ließ sich immer noch nicht blicken und ich vermisste ihn. Seufzend ließ ich mich in den Stuhl hinter dem Schreibtisch fallen und zog gedankenverloren an den Schubladen. Doch keine ließ sich öffnen. Vielleicht waren in dem Kästchen die Schlüssel? Doch auch das war verschlossen. Suchend sah ich mich um. Halt! Was machte ich denn da? Kopfschüttelnd rief ich mich zur Ordnung. Er hatte schon seine Gründe haben, warum er keinen an seinen Schreibtisch ließ. Dann musste ich an meine Schwestern denken. Was die jetzt wohl gerade machten, ob sie schon sicher gelandet waren? Und was machte Doc so alleine auf der Insel? Auch vermisste ich die anderen Brüder, die mir doch sehr ans Herz gewachsen waren. Selbst Ef-Ef fehlte mir. Bevor mich noch das heulende Elend so richtig packte, zog ich schnell mein Handy aus meiner Hosentasche und beschloss eine SMS an meine Schwestern zu schreiben.
„Bin heil in Schottland angekommen. Das Anwesen ist gigantisch! Vermisse euch sehr! LG Angie.†œ
Dann drückte ich auf senden und schaltete mein Handy diesmal nicht aus, obwohl ich es hasste, wenn es in den unpassendsten Momenten klingelte. Plötzlich fiel mir ein, dass sie ja gar nicht wissen konnten, dass ich hier auf dem Anwesen war. Mist! Ach egal, sie würden sich schon ihren Teil denken. Auf jeden Fall hatte mich das etwas aufgemuntert und ich ging ins Bad, um zu duschen. Das Bad grenzte direkt an das Schlafzimmer und war eine exakte Kopie von dem auf der Seraphim, nur dass die Wanne nicht im Boden eigelassen war, sondern auf einem Podest stand. Man musste sogar zwei Stufen hoch gehen, um in die Wanne steigen zu können. Aber mir genügte heute eine schnelle Dusche. Die Wanne würde ich in den nächsten Tagen mal mit Duncan ausprobieren!
Mit meinem zweitliebsten Nachthemd bekleidet, meinem rosa Hello Kitty-Hemdchen mit den Spagettiträgern, das mir bis weit über die Knie reichte und noch feuchten Haaren, beschloss ich, es mir vor dem Kamin gemütlich zu machen und dort meine Haare trocknen zu lassen. Nachdem ich noch ein paar Scheite auf das Feuer gelegt hatte, schnappte ich mir ein Buch über die Geschichte Schottlands und ein paar Kissen und legte mich so auf den Boden vor den Kamin, dass ich die Tür genau im Blick hatte. Duncan kam immer noch nicht. Seufzend schlug ich die erste Seite auf. Doch ich schaffte nicht mal die erste Seite, mir fielen die Augen einfach zu, und ich schlief ein.
Ein lautes Poltern und ein nicht ganz stubenreiner Fluch rissen mich aus dem Schlaf.
„Verdammter Mist! Welcher Trottel hat denn seine Schuhe mitten… oh, du? Was machst du denn hier auf dem Boden?†œ
„Warten†œ, murmelte ich schlaftrunken und rieb meine Augen. Duncan lag bäuchlings vor mir auf dem Teppich, hielt einen von meinen Schuhen in der Hand und sah mir ein bisschen ungehalten in die Augen. Ich krabbelte noch im Halbschlaf auf dem Teppich auf ihn zu. Da drehte er sich grinsend auf den Rücken und ich kuschelte mich in seine wartenden Arme und legte meinen Kopf auf seine Brust, nicht ohne ihn vorher gründlich und ausgiebig geküsst zu haben. Endlich war er wieder da!
„Ich, der Trottel…`tschuldigung. Wowastn?†œ, nuschelte ich und war schon fast wieder eingeschlafen. Er erzählte irgendetwas, aber ich hörte nicht richtig zu, sondern lauschte nur dem Klang seiner Stimme – bis das Wort Feenring viel. Sofort war ich hellwach und starrte ihn neugierig an.
„Was hast du gesagt? Was ist mit dem Feenring?†œ
„Wir wissen nun, warum er bei unserer Ankunft geleuchtet hat.†œ
„Und warum?†œ
„Sie wollten uns eine Warnung zukommen lassen.†œ
„Welche denn? Oh Duncan, nun lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen!†œIch stieß ihn ungeduldig an. Sein düsterer Blick machte mich noch neugieriger, als ich ohnehin schon war.
„Dazu muss ich ein bisschen weiter ausholen. Also, es gibt da eine Splittergruppe bei den Feen. Die bösartigsten von ihnen haben sich mit einer anderen verfluchten Spezies vor Jahrhunderten zusammengetan, und zusammen sind sie verdammt gefährlich und sehr blutrünstig. Diejenigen, die hier in den Highlands ihr Unwesen getrieben haben, konnten wir ausrotten. Aber die anderen, es sind zum Glück nicht mehr viele, sind immer da zu finden, wo es gerade brennt! Uns wurde eben mitgeteilt, dass sie auf der Suche nach dem Mörder ihres Königs, oder Anführers, wie auch immer die ihn nennen, sind.†œ Plötzlich nahm sein Gesicht einen grausamen Zug an und ich konnte sehen, wie er die Zähne zusammen biss.

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„Also so eine Art Söldnertruppe?†œ Er nickte grimmig.
„Woher wisst ihr das alles? Ich meine, von wem habt ihr die ganzen Informationen?†œ, fragte ich ihn erstaunt. Erst zögerte er, doch dann sah er meinen auffordernden Blick und antwortete mir.
„Ein paar Feen gehören auch zum Orden. So konnten wir einige Spione bei ihnen einschleusen und immer ein wachsames Auge auf sie und ihre Aktivitäten haben. Bis vor ein paar Monaten haben sie sich ruhig verhalten. Aber dann ist ein Teil von ihnen plötzlich mit ihrem Anführer spurlos verschwunden.
„Und wer ist dieser Anführer?†œ Ich war wahnsinnig gespannt.
„Es war der Troll, den du in Peru getötet hast und nun suchen sie … dich!†œ
„Mich?†œ Das war ja unglaublich! Wütend sprang ich auf und lief aufgebracht vor Duncan, der immer noch auf dem Boden saß, hin und her.
„Dann haben sich diese abtrünnigen Feen mit den Trollen zusammen getan? Das darf doch wohl nicht wahr sein. Und was will denn dieser Abschaum ausgerechnet jetzt von mir? Ich meine, woher wissen die eigentlich, dass ich es war, der ihren Anführer geköpft hat? Wir haben doch alle erledig, die da waren, oder konnten doch welche entkommen? Da macht man mal endlich Urlaub seit…, †œ blitzschnell überlegte ich, dann kam ich zu dem verblüffenden Ergebnis.
„Überhaupt?! Das auf der Seraphim zählt nicht! Das war ja im Grunde genommen gar kein Urlaub! Oh, ich könnte verrückt werden.†œ Ich redete mich so richtig schön in Rage und suchte nach einem Ventil für meine Wut – irgendetwas, was ich an die Wand werfen konnte. Aber hier gab es ja nichts! Mit verschränkten Armen blieb ich vor ihm stehen.
„Und weißt du, was mich am meisten aufregt? Da hat man die Welt von einem Übel befreit und schon taucht das nächste auf! Ich habe es satt… einfach satt!†œ Wütend kickte ich den Schuh, der vor mir auf dem Teppich lag, mit voller Wucht in den Kamin. Zu dumm, das das Feuer noch brannte. Oh nein! Ohne zu überlegen wollte ich hinterher, um ihn zu retten, doch Duncan war mal wieder schneller. Mit hochgezogenen Brauen stand er plötzlich vor mir und hielt mir den Schuh vor meine Nase. Schuldbewusst sah ich erst ihn und dann das leicht angesengte Stück an. Meine ganze Wut verpuffte augenblicklich. Der Schuh konnte ja nun wirklich nichts dafür und Duncan auch nicht.

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Ich hätte heulen können und schniefte laut.
„Ist doch wahr. Danke. Ich habe mich doch so auf unseren Urlaub gefreut! Aber was sollen wir denn jetzt machen?†œ Fragend sah ich ihn an. Er schüttelte nur mit dem Kopf und schloss mich tröstend in seine Arme.
„Gar nichts. Wir machen nichts. Die Feen hier in unmittelbarer Umgebung des Anwesens, die mit uns zusammen arbeiten, haben uns ja nur gewarnt. Sie wissen auch noch nichts Genaues. Morgen trifft der Spion ein, den wir bei den Söldnern eingeschleust haben, der wird uns dann einiges erzählen können. Außerdem bist du hier sicher. Komm mit, ich zeige dir mal was.†œ Er zog mich mit vor das Fenster und zeigte nach draußen.
„Sieh mal.†œ
Zuerst sah ich nur einige Schatten über den Wegen und zwischen den Häusern umher huschen, doch bei näherer Betrachtung erkannte ich die Gargoyles, die tagsüber zu Stein erstarrt auf den Dächern hockten und nur in der Nacht zum Leben erwachten.
„Eigentlich brauchen wir keine Wächter hier, aber sie bestehen darauf, uns zu beschützen. Irgendwie fühlen sie sich uns verpflichtet, keiner weiß genau warum.†œ
„Es sind schon merkwürdige Geschöpfe.†œ Eine plötzliche Veränderung in seinem Tonfall machte mich stutzig, und ich musterte forschend sein Gesicht.
„Duncan, da ist doch noch was. Irgendetwas beschäftigt dich doch noch.†œ Er seufzte tief. Dann strich er sich über die Augen und antwortete.
„Es ist nichts weiter, ich bin nur müde. Mach dir keine Sorgen, es war ja auch ein langer Tag.†œ Lächelnd sah er mich an und strich mir behutsam eine Strähne hinters Ohr. Er log. Ich wusste genau, dass er mich anlog. Oh nein, er sah schon richtig fertig aus, schließlich hatte ich ja schon ein paar Stunden Schlaf gehabt und er nicht. Seine tiefen Ringe unter den Augen zeigten mir, wie erschöpft und müde er sein musste, aber ihn bedrückte noch etwas, das konnte ihr fühlen. Ich wusste auch, dass er es mir nicht sagen würde, zumindest jetzt nicht. Nun gut, das war seine Entscheidung. Ungläubig sah ich auf meine Uhr.
„Na, dann komm, mein Schotte. Es ist mittlerweile nach zwei. Gehen wir schlafen.†œ
Kurze Zeit später lag ich hellwach im Bett und starrte an die Decke. Duncan schlief tief und fest. Er hatte mich wohlig brummend an sich gezogen, einen Kuss in mein Haar gedrückt und war dabei eingeschlafen. Und bevor ich noch anfing über den vergangenen Tag nach zu grübeln, beschloss ich, mir etwas zu trinken zu holen. Vielleicht konnte ich ja danach endlich einschlafen.
Vorsichtig und leise stand ich auf und schlich auf Zehenspitzen nach unten. Außer Duncan und mir war zum Glück niemand im Haus, und so konnte ich wie ich war, in meinem kurzen Hemdchen, rumlaufen. Die Küche lag direkt hinter dem großen Esszimmer. Sie war mit den modernsten Geräten ausgestattet, doch ich hatte nur Augen für den überdimensionalen Kühlschrank. Wow! Es stand zwar nicht viel drin, weil wir im Moment ja nur zu zweit waren, aber er bot genug Platz für Lebensmittel, die eine komplette Fußballmannschaft problemlos versorgen konnte. Mit einem Glas Milch bewaffnet wollte ich gerade die Treppe wieder nach oben gehen, als mein Blick auf die kleine Tür, die mir schon vorher aufgefallen war, fiel. Sie stand merkwürdigerweise einen kleinen Spalt offen. Neugierig ging ich näher und sah sie mir genauer an. Da waren der Drache und der Phönix, der Werwolf und der Gargoyle. Bei näherer Betrachtung entdeckte ich noch ein Einhorn, und über allen hatte Pegasus seine weiten Flügel gespannt. Diese feine Intarsienarbeit war wunderschön und einzigartig. Vorsichtig umfasste ich das Schloss der Tür mit zwei Fingern und zog sie ein weiter auf. Obwohl ich eigentlich im Dunkeln sehen konnte, war es hinter der Tür ungewöhnlich dunkel und ich konnte nichts erkennen. Als ich mit einer Hand nach einem Lichtschalter in dem Raum suchte, flammten plötzlich einige Fackeln auf. Sie waren an den Seitenwänden angebracht und beleuchteten einen langen Gang, der scheinbar in die Tiefe führte. Automatisch zog ich meine Hand zurück und die Lichter erloschen. Innen mussten Bewegungsmelder abgebracht sein. Doch wer hatte die Tür offen gelassen? Duncan, oder Mary? Gerade als ich noch einmal meine Hand in den Gang strecken wollte, hörte ich Duncan von ober nach mir rufen. Vor lauter Schreck schlug ich gegen die Tür, die mit einem leisen Klick einrastete und sich nicht wieder öffnen ließ. Beinahe hätte ich auch noch die Milch verschüttet, als Duncan wieder meinen Namen rief, und jetzt klang seine Stimme regelrecht verzweifelt. Oh nein, da stimmte etwas nicht! So schnell ich konnte, lief ich, zwei Stufen auf einmal nehmend, nach oben ins Schlafzimmer. Dort bot sich mir ein schreckliches Bild. Duncan wälzte sich stöhnend auf dem Bett hin und her, seine Hände fuhren suchend über das Lacken, Schweißperlen bedeckten seine Stirn. Seine Augen waren fest verschlossen und das Gesicht schmerzverzerrt. Laut rief er immer wieder verzweifelt nach mir.
„Angie? Wo bist du? Komm zurück… verlass mich nicht…bitte! Oh mein Gott, das habe ich doch nicht gewollt!†œ
Er war in einem Albtraum gefangen! Es tat mir in der Seele weh, ihn so zu sehen.
Schnell schlüpfte ich zu ihm unter die Decke, drängte mich an seinen Körper und umfasste mit beiden Händen sein Gesicht.
„Duncan! Schscht, ganz ruhig, ich bin ja da. Ich gehe nirgendwo hin.†œ Sein Atem ging ziemlich heftig, und ich konnte seinen schnellen Herzschlag spüren. Leise versicherte ich ihm immer wieder meine Anwesenheit, dabei küsste und streichelte ich sein Gesicht. Ganz allmählich beruhigte er sich, er schien mich endlich zu spüren und meine Stimme erreichte sein Unterbewusstsein. Aufatmend umschlang er mich und murmelte etwas Unverständliches an meinem Hals. Endlich konnte er friedlich weiterschlafen und auch mir fielen vor Erschöpfung die Augen zu. Mein letzter Gedanke war nur noch, dass ich am nächsten Morgen auf ein paar Antworten bestehen würde! Zu viele Fragen hatten sich aufgetan.

Fortsetzung Kapitel 2: „Seitensprung der Sisterhood – Das Anwesen der Bruderschaft“ findet sich hier.

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