Heute wurde die Longlist der nominierten Autoren und Autorinnen für den Deutschen Buchpreis 2009 bekanntgegeben.
79 Verlage aus Deutschland, Österreich und der Schweiz haben bis Ende März 154 deutschsprachige Romane eingereicht. Daraus wählte die Jury die 20 Bücher der Longlist. Aus der Longlist wählen die Juroren sechs Titel für die Shortlist, die am 16. September 2009 veröffentlicht wird.
Am 12. Oktober, dem Abend der Preisverleihung beim Auftakt der Frankfurter Buchmesse im Kaisersaal des Frankfurter Römer, erfahren die sechs Autoren, wer von ihnen den Deutschen Buchpreis 2009 gewonnen hat.
Der Deutsche Buchpreis ist mit insgesamt 37.500 Euro dotiert: Der Preisträger erhält 25.000 Euro, die übrigen fünf Autoren der Shortlist erhalten jeweils 2.500 Euro.
Longlist:
Sibylle Berg: Der Mann schläft (Hanser, August 2009)
Kurzbeschreibung
Eine Frau liebt einen Mann, weil der die Frau liebt. Was kann man sich Besseres wünschen in einer Welt, in der die Liebe nur noch ein Marketinginstrument ist? Ebendiese Welt kennt kein Pardon: Auf einer Reise nach China kommt der Mann gleich wieder abhanden, und man fragt sich, ob das mit rechten Dingen zugeht. Warum sucht man nach Veränderung, wenn man das Glück gefunden hat? Warum bleibt man nicht dort, wo man glücklich ist? Sibylle Berg erzählt eine moderne Liebesgeschichte und zeigt mit so melancholischen wie bösartigen Bildern eine Welt, in der man höchstens zu zweit überleben kann.
Mirko Bonné: Wie wir verschwinden (Schöffling & Co., Februar 2009)
Kurzbeschreibung
Wie wir verschwinden, der erwartete neue Roman von Mirko Bonné, erzählt eine große Geschichte der Erinnerung: Raymond, Witwer mit zwei so lebhaften wie eigensinnigen Töchtern, erhält nach Jahrzehnten des Schweigens einen Brief seines todkranken Jugendfreundes Maurice, der ihn in die gemeinsam erlebte Vergangenheit zurückversetzt: nach Villeblevin, wo 1960 Albert Camus bei einem Autounfall ums Leben kam. Ein französisches Dorf und ein historisches Ereignis werden für zwei Jugendfreunde zum symbolischen Angelpunkt, um die fünfzig zurückliegenden Jahre zu erinnern und ihre Schicksalhaftigkeit anzuerkennen. Erinnerung an die eigene Jugend und Sterben eines Idols verbinden sich zu einem ergreifenden Roman, der Mirko Bonné als einen der bedeutenden Autoren unserer Zeit zeigt. Wie wir verschwinden ist ein großes Buch der Erinnerung, ein Roman unseres Lebens wie des Sterbens einer Ikone des letzten Jahrhunderts: Albert Camus.
Thomas Glavinic: Das Leben der Wünsche (Hanser, August 2009)
Kurzbeschreibung
Stellen Sie sich vor, Ihre geheimsten Wünsche würden wahr. Die innersten, dunklen Wünsche, von denen Sie selbst bisher nichts ahnten. So ergeht es Jonas, dem ein Unbekannter eines Tages ein unerhörtes Angebot macht: „Ich erfülle Ihnen drei Wünsche.“ Der Ehemann, Vater, Werbetexter und leidenschaftliche außereheliche Liebhaber lässt sich auf das Spiel ein. Bis seine Frau eines Abends tot in der Badewanne liegt. Weiß die Nacht etwa mehr von Jonas‘ Wünschen als er selbst? Unverwechselbar erzählt der in Wien lebende Schriftsteller Thomas Glavinic die Geschichte eines ganz normalen Mittdreißigers, der genau das bekommt, was er sich wünscht. Und noch ein bisschen mehr.
Wolf Haas: Der Brenner und der liebe Gott (Hoffmann und Campe, August 2009)
Kurzbeschreibung
Ob du es glaubst oder nicht. Der Brenner ist wieder da. Ein Comeback, wie es noch keines gab.
Der Brenner, Expolizist und Exdetektiv, hat endlich einen guten Job gefunden. Noch nie im Leben hat er sich so wohlgefühlt. Aber es wäre nicht der Brenner, wenn es lange dauern würde, bis wieder was passiert. So sorgt eine Tafel Schokolade für eine Kettenreaktion, an deren Ende sieben Begräbnisse stehen.
Ernst-Wilhelm Händler: Welt aus Glas (Frankfurter Verlagsanstalt, September 2009)
Kurzbeschreibung
Jillian und Jacob Armacost betreiben die größte Galerie für Glaskunst New Yorks. Dabei sind sie ein denkbar ungleiches Paar: Während Jillian seit einem Kindheitserlebnis eine Passion für die Blütenlampen von Tiffany hat und mit Mitte Zwanzig bereits eine führende Expertin für Glas ist, treibt der fast dreißig Jahre ältere Frauenheld Jacob die Galerie mit einem absurden Kauf um ein Haar in den Ruin.
Jillian trifft eine Entscheidung: Sie wird sich von Jacob trennen. Zuvor aber muss sie die Zukunft der Galerie sichern. Eine äußerst wertvolle Sammlung von Glasvasen in Italien erscheint als die letzte Rettung; ohne einen Moment zu zögern, reist sie nach Europa. Jacob, der nichts von ihren Plänen ahnt, ist unterdessen mit einer Kundin aus den besten Kreisen New Yorks an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze unterwegs, um auf seine Weise wieder an Geld zu kommen. Zur gleichen Zeit, als Jillian in Mailand und Venedig ihren größten Coup landet, wird Jacob in Mexiko entführt.
Jillian und Jacob haben ihre Schicksale dem Glas anvertraut. Jillian spekuliert auf die Ewigkeit, Jacob auf ein intensives Jetzt. Durchsichtig und doch unnahbar, lebendig und doch unbewegt ist die Welt aus Glas. Sie bedeutet viel Geld für den, der erkennt, was er sieht. Doch besitzt der einzelne Mensch in einer Welt aus Glas noch eine Seele? Wilde Verfolgungsjagden durch die Straßen von Tijuana und erotische Eskapaden in San Diego und Venedig treiben die Handlung voran. Im neuen großen Roman von Ernst-Wilhelm Händler ergänzen sich action und reflection auf außerordentliche und spannende Weise.
Anna-Katharina Hahn: Kürzere Tage (Suhrkamp, März 2009)
Marco wohnt im Hochhaus an der Hauptstraße. Von hier ist es nicht weit bis zum Olgaeck, und hinter dem Olgaeck liegt die Constantinstraße, wo die Altbauten unter Denkmalschutz stehen und die Äpfel beim türkischen Feinkosthändler teurer sind als im Hauptbahnhof. Hier wohnen die Aufsteiger, Übermütter und ihre wohlerzogenen Kinder. Hier scheint alles in Ordnung – wenn man nicht vom Supermarkt ins Büro und vom Büro in den Kindergarten hetzt, so wie Leonie, wenn man nicht am Doppelleben als Karrierefrau und Mutter verzweifelt. Judith findet Halt in der Anthroposophie. Hingebungsvoll pflegt sie den Jahreszeitentisch für ihre Kleinen. Doch nachts helfen nur Tabletten gegen die Angst. Im Nebenhaus wohnen die alten Posselts. Sie haben geschafft, wovon die Enkelgeneration nur träumt, nämlich ein Leben lang zusammenzubleiben. Da versetzt Marco die Nachbarschaft in Aufruhr. Kürzere Tage ist eine wortmächtige Bestandsaufnahme und eine melancholische Abrechnung mit einer Gesellschaft, in der alle Werte fragwürdig geworden sind. Wohlstand und Aussichtslosigkeit, Eurythmie und Hysterie, Elternglück und Kinderleid. Virtuos schildert Anna Katharina Hahn das satte Stuttgart von einer anderen Seite.
Reinhard Jirgl: Die Stille (Hanser, März 2009)
Kurzbeschreibung
Einhundert Jahre aus der Geschichte zweier Familien und aus der Geschichte eines Landes: Reinhard Jirgls „Die Stille“ ist das monumentale Epos vom langen 20. Jahrhundert in Deutschland. Am Anfang steht ein Fotoalbum, die ältesten Bilder sind über achtzig Jahre alt: einhundert Fotografien zweier Familien, die eine aus Ostpreußen stammend, die andere aus der Niederlausitz. Zwei Weltkriege, Inflation, Flucht und Vertreibung haben diese beiden Familien über fünf politische Systeme hinweg, von der Kaiserzeit bis heute, überlebt. Den einhundert Fotografien folgend, erzählt Jirgl Geschichten von Verletzungen, Liebe und Verrat. „Die Stille“ bestätigt seinen außergewöhnlichen Rang.
Brigitte Kronauer: Zwei schwarze Jäger (Klett-Cotta, August 2009)
Klappentext
Wie in einem Treppenhaus kreuzen sich in diesem Buch die Geschichten und Erinnerungen. Alles scheint der Vorstellungskraft der Schriftstellerin Rita Palka zu entspringen, die sich gelegentlich selbst unter ihr Personal mischt, das verschiedener nicht sein könnte. Ob es nun die Dame im Rollstuhl ist, die ihren ehemaligen Liebhaber auffordert den Don Juan der Nachbarschaft zu spielen; die Kassiererin, die der Tristesse entfliehen will und Prostituierte wird; der Verlagslektor, der sich in einen Kellner verliebt; oder Wally, die nur zwei Nächte ihres Lebens mit einem Mann verbracht hat. Sie alle verbindet die Sehnsucht nach den verdeckten Träumen des Alltags, in einer Welt, die diese unerfüllbar und lächerlich macht. Und so rücken die Figuren mit ihren Ängsten und Niederlagen immer dichter zusammen, ohne zu ahnen, dass eine von ihnen zur Mörderin wird.
Rainer Merkel: Lichtjahre entfernt (S. Fischer, März 2009)
Kurzbeschreibung
Der Familientherapeut Thomas Kaszinski wird vor eine scheinbar unlösbare Aufgabe gestellt. Er muss sein Leben in Ordnung bringen. Auf einer Reise nach New York trifft er seine langjährige Freundin. Doch die Beziehung scheint am Ende zu sein. In immer neuen Anläufen und in dem ständigen Bemühen um noch intensivere Erlebnisse nähert er sich dem Zentrum der Katastrophe und erinnert sich an die dramatischen Ereignisse der letzten Monate, die, wie seine Liebe, Lichtjahre entfernt sind. Er verliert sich in der Vergangenheit. Eine gemeinsame Reise in die Wüste wird zu einer Grenz-Erfahrung. Kurz vor seinem Rückflug erkennt er plötzlich, dass es noch eine Möglichkeit auf Rettung gibt.
Terézia Mora: Der einzige Mann auf dem Kontinent (Luchterhand, August 2009)
Kurzbeschreibung
Das Leben eines Mannes im globalisierten Nirgendwo
Umgeben von globalen Wirtschaftskatastrophen macht sich ein Mann daran, sein Lebensidyll zu verteidigen, auch wenn er schon längst zugeben müsste, dass die Firma, für die er arbeitet, zusammengebrochen ist und seine Ehe vor dem Aus steht …
„Der einzige Mann auf dem Kontinent“ erzählt eine Woche im Leben von Darius Kopp. Er ist Anfang vierzig, verheiratet und einziger Vertreter einer US-amerikanischen Firma für drahtlose Netzwerke.
Darius sieht sich als Gewinner der neuen Zeit. Er stammt aus der DDR, war als Informatiker nach deren Zusammenbruch ein gefragter Mann und legt Wert darauf, ein zufriedener Mensch zu sein. In letzter Zeit laufen die Geschäfte allerdings mehr schlecht als recht. Eines Tages lässt ein säumiger Kunde eine Pappschachtel mit Geld in seinem Büro liegen. In der Folge versucht Darius Kopp vergeblich, einen seiner Chefs in London oder Los Angeles zu erreichen, um zu beraten, was mit dem Geld geschehen soll. Fast scheint es, als gebe es die Firma überhaupt nicht mehr.
Darius Kopp leidet zunehmend unter dem Verlust seiner Sicherheiten, doch er kann dies weder sich gegenüber zugeben, noch will er Flora, seine hypersensible Frau, damit belasten. Denn Flora findet sich in ihrem Leben nur schwer zurecht. Nicht nur in seinem Beruf, muss Darius schließlich erkennen, kämpft er um das nackte Überleben, auch seine Ehe, die Liebe seines Lebens, droht vor dem Aus zu stehen.
Nach „Alle Tage“ hat Terézia Mora erneut einen hochaktuellen und überaus wachen und sensiblen Roman eines Mannes geschrieben, der glaubt, in der besten aller Welten zu leben, auch wenn sein Leben genauso wie die Welt um ihn herum längst in Stücke zerbricht. Krisen von noch so globaler und intim-verworrener Natur sollen ihm nichts anhaben können. In der umspannenden vernetzten Welt mag zerbrechen, was will, sein Lebensidyll nicht. Das neue Buch der Autorin des preisgekrönten Romans „Alle Tage“.
Herta Müller: Atemschaukel (Hanser, August 2009)
Kurzbeschreibung
Rumänien 1945: Der Zweite Weltkrieg ist zu Ende. Die deutsche Bevölkerung lebt in Angst. „Es war 3 Uhr in der Nacht zum 15. Januar 1945, als die Patrouille mich holte. Die Kälte zog an, es waren -15° C.“ So beginnt ein junger Mann den Bericht über seine Deportation in ein Lager nach Russland. Anhand seines Lebens erzählt Herta Müller von dem Schicksal der deutschen Bevölkerung in Siebenbürgen. In Gesprächen mit dem Lyriker Oskar Pastior und anderen Überlebenden hat sie den Stoff gesammelt, den sie nun zu einem großen neuen Roman geformt hat. Ihr gelingt es, die Verfolgung Rumäniendeutscher unter Stalin in einer zutiefst individuellen Geschichte sichtbar zu machen.
Angelika Overath: Flughafenfische (Luchterhand, Mai 2009)
Kurzbeschreibung
In der Ortlosigkeit eines Flughafens kreuzen sich die Lebenslinien dreier Menschen. Eine müde Magazinfotografin gerät vor dem Riffaquarium der Transithalle in den Schwindel fragmentierter Reisebilder aus Afrika und Asien. Sie findet eine seltsame Nähe zu dem Mann, der hier die stillen Tiere pflegt wie seine Kinder. Während sich zwischen den beiden eine verschwiegene Liebe entwickelt, geht nebenan im Raucherfoyer eine Ehe zu Ende. Variiert werden im Wendekreis der Fische die Muster von Sehnsucht, Einsamkeit und Paarungen.
Es hatte keinen Anschlussflug gegeben; Elis streift durch den Transit. Sie zweifelt an ihrem Leben als Magazinfotografin. Auf einmal stockt sie vor einem riesigen Aquarium. Fische aus allen tropischen Meeren ziehen über Korallenbänke und Anemonenwiesen, während der Strom der Passanten den Glaskörper umfließt. Als sie Tobias entdeckt, der die Scheiben reinigt, beginnt sie, sich für diesen Mann zu interessieren. Auch er hat sie beobachtet, aus einem Grund, den sie nicht ahnt. Sie spricht ihn an. Er gibt Auskunft über Fischsymbiosen, Seepferdchenväter, die Fortpflanzung von Korallen; sie erzählt von Reisen, einer unglücklichen Liebe. Die beiden sprechen aneinander vorbei und geraten doch in eine vorsichtige Vertrautheit, die alles ändern kann. Im Raucherfoyer trinkt sich unterdessen ein alternder Biochemiker in einen finalen Ehemonolog. „Flughafenfische“ variiert im Transit eines futuristischen Airports die uralten Themen Liebe und Tod.Angelika Overath schreibt Romane als „Reportagen aus der Intimität“. Wo scheinbar nichts geschieht, öffnet sie irritierende und berührende Innenräume.
Norbert Scheuer: Überm Rauschen (C. H. Beck, Juni 2009)
Kurzbeschreibung
Einst sind der Vater und die Brüder gemeinsam fischen gegangen, das Rauschen des Wehrs hinter der Gaststätte in der Eifel, in der sie gelebt haben, hat die Kindheit der Brüder mit Ahnungen und Phantasien belebt. Aber der Vater, der beim Angeln immer auf der Suche nach einem riesigen, mythischen Urfisch war, ist schon lange tot. Und der ältere Bruder Hermann ist abgeholt worden, musste in die Klinik, er hat den Verstand verloren, sein Schicksal ist ungewiss. Der jüngere Bruder, der Ich-Erzähler, ist zurückgekehrt an den Ort der Kindheit, um der Familie zu helfen, steht im Fluss, angelt und lässt das Leben des Bruders, sein eigenes, das der Familie Revue passieren. Die Kindheit am Fluss, die erste Liebe, die kauzigen Gäste der elterlichen Gastwirtschaft, die Ausbruchsversuche des Bruders, der Niedergang der Kneipe, der Fluss und die Fische, der Tod der holländischen Gelegenheitsgeliebten des Bruders und die ungeklärte Frage nach dem eigenen leiblichen Vater – erschöpft und doch überwach versucht der Erzähler, aus den Erinnerungen und Gesprächen, Ereignissen und Beobachtungen einen Zusammenhang herzustellen, eine Erklärung zu finden. Norbert Scheuers neuer Roman „Überm Rauschen“ entwickelt mit seiner genauen und poetischen Sprache einen enormen Sog. Trauer und Schönheit einer ganzen Welt entstehen durch diese suggestive Geschichte, deren Protagonisten mit ihrer Suche nach dem großen mythischen Fisch zugleich auf der Suche nach dem Glück sind. Und das Glück ist da, im Rauschen, in der wehmütigen Kraft des Erzählens.
Kathrin Schmidt: Du stirbst nicht (Kiepenheuer & Witsch, Februar 2009)
Kurzbeschreibung
Vom Hirnschlag erwacht – die Geschichte einer Heilung Helene Wesendahl weiß nicht, wie ihr geschieht: Sie findet sich im Krankenhaus wieder, ohne Kontrolle über ihren Körper, sprachlos, mit Erinnerungslücken. Ihr Weg zurück ins Leben konfrontiert sie mit einer fremden Frau, die doch einmal sie selbst war. Kathrin Schmidt packt ihre Leser diesmal durch die Beschränkung, und zwar im wörtlichen Sinne. Mit den Augen ihrer erwachenden Heldin blicken wir in ein Krankenzimmer, auf andere Patienten, das Pflegepersonal und den eigenen Körper, der plötzlich ein Eigenleben zu führen scheint. Und wir erleben die mühsamen Reha-Maßnahmen mit, die Reaktionen der Familie, den aufopferungsvollen Einsatz ihres Mannes – und die bruchstückhafte Wiederkehr ihrer Erinnerung. Was da zutage tritt, konfrontiert Helene mit einem Leben, in dem sie sich kaum wiedererkennt, und das vieles in Frage stellt, was in der neuen Situation so selbstverständlich scheint. Sie entdeckt frühe Brüche in ihrer Biographie, verdrängte Leidenschaften und aus der Not geborene Verpflichtungen. Als ihr bewusst wird, dass ihr Herz sich bereits auf Abwege begeben hatte und sie den Mann, der sie jetzt so eifrig pflegt, eigentlich verlassen wollte, droht sie den Boden unter den Füßen zu verlieren. Kathrin Schmidt gelingt das Erstaunliche: Sie macht den Orientierungs- und Sprachverlust nach einer Hirnverletzung erfahrbar und zeigt einen Weg der Genesung, der in zwei Richtungen führt, zurück und nach vorn. Dabei entsteht ein Entwicklungsroman ganz eigener Art, der durch seine innere Dynamik fesselt und durch die Rückhaltlosigkeit, mit der seine Heldin sich mit ihrer Vergangenheit und Gegenwart konfrontiert, fasziniert. Er überzeugt vor allem durch die bewegende Schilderung eines sprachlichen Neubeginns.
Clemens J. Setz: Die Frequenzen (Residenz, Februar 2009)
Kurzbeschreibung
Dies ist die Geschichte von Walter, dem Sohn eines Architekten mit Einfluss. Er will Schauspieler werden oder will es nur sein Vater? Walter bekommt seine Chance, als ihn Valerie, eine Psychotherapeutin, die bessere Tage gesehen hat, engagiert, um in Gruppensitzungen fiktive Patientenrollen zu spielen. Doch er geht zu sehr in seiner Rolle auf. Dies ist die Geschichte von Alexander. Er ist Altenpfleger, ein junger Mann mit ausufernder Phantasie, die sich im Schatten einer einsamen Kindheit entwickelt hat. Alexander kündigt seinen Job, und er will seine Freundin loswerden, um mit Valerie zusammenzuleben. Doch die wird eines Tages brutal zusammengeschlagen Nach Söhne und Planeten, seinem Debüt, das ihm einhelliges Lob der Kritik einbrachte, legt Clemens J. Setz ein Werk vor, das alle Erwartungen sprengt: atemberaubend kraftvoll, bunt, sprachgewaltig und zart.
Peter Stamm: Sieben Jahre (S. Fischer, August 2009)
Kurzbeschreibung
Ein Mann zwischen zwei Frauen, die eine ist begehrenswert, bei der anderen ist er frei. In seinem großen Roman Sieben Jahre
Sonja ist schön und intelligent und lebt mit Alex. Eine vorbildliche Ehe, er müsste glücklich sein. Aber wann ist die Liebe schon einfach? Und wie funktioniert das Glück? Iwona wäre neben Sonja fast unsichtbar, sie ist spröde und grau. Aber Alex fühlt sich lebendig bei ihr und weiß nicht, warum. Sie liebt ihn. Er trifft sie immer wieder, und als sie von ihm schwanger wird und das Kind kriegt, das Sonja sich wünscht, setzt er alles aufs Spiel.
Peter Stamm erzählt so lakonisch und leidenschaftlich wie kein anderer von widerstreitenden Gefühlen und der Sehnsucht nach dem Leben. Sieben Jahre ist ein großer Roman über die Zumutung des Glücks, geliebt zu werden.
Thomas Stangl: Was kommt (Droschl, Januar 2009)
Kurzbeschreibung
Von den zahllosen Lebenden und Toten, die Wien bevölkern, hebt Thomas Stangl in seinem dritten Roman zwei Personen heraus: Emilia, 17, die wir im Sommer 1937 kennenlernen, am Vorabend der historischen Katastrophe, und Andreas, den Pubertierenden, der vierzig Jahre später, Ende der 70er Jahre, wie Emilia allein mit seiner Großmutter lebt und ebenfalls in eine private? politische? Katastrophe gerät. Geschichte ist nicht nur das, was sich schon ereignet hat, „Geschichte heißt, das kommt erst“, schreibt Thomas Stangl. Für seinen Roman bedeutet das, dass sich verborgene Motive, kaum merkliche Anklänge, Wiederholungen, Blicke, ja auch Menschen quer durch das Buch und die Zeiten ziehen, das Wiedergänger-Motiv, Elemente der Gespenstergeschichte spielen schon in Ihre Musik eine gewisse Rolle (wie wir auch Emilia Degen schon aus diesem Roman kennen, als die ältere der beiden Frauen). In überwältigenden, auch schockierenden Bildern hält Stangl das fest, was sich der Beschreibung – zumindest in der gegenwärtigen Literatur – entzieht und wofür wir höchstens den Film als zuständig erachten: er schafft Räume des Übergangs, der Unschärfen, der Ahnungen und Déjà-vus, Räume für die Lebenden und die Toten, die Geschichte und ihre Opfer, Sterben und Verschwinden, Wirklichkeit und Traum. Thomas Stangls Sätze sind ein Rausch der Wahrnehmung, der die Grenzen zwischen Innen und Außen auflöst und eine befreiende Wirkung hat wie wenige Bücher, ein barock-romantisches Meisterwerk.Der immer gegenwärtige Alptraum der Geschichte und der Skandal des Todes: ein literarisches Meisterwerk.
Stephan Thome: Grenzgang (Suhrkamp, August 2009)
Kurzbeschreibung
Alle sieben Jahre steht Bergenstadt kopf: Man feiert Grenzgang, das traditionelle dreitägige Volksfest, und dabei werden nicht nur die Gemeindegrenzen abgeschritten. Auch abends im Festzelt wird ausprobiert, wie weit man gehen kann. Alle sind dabei, nur zwei stehen am Rand: Thomas Weidmann und Kerstin Werner. Er ist nach gescheiterter Uni-Karriere als Lehrer ans Gymnasium Bergenstadt zurückgekehrt. Sie versorgt nach gescheiterter Ehe ihre demenzkranke Mutter und hat Ärger mit ihrem pubertierenden Sohn. Vor sieben Jahren beim letzten Grenzgang sind sich die beiden schon einmal begegnet, und damals ist etwas passiert, woran sich die beiden auch noch bei diesem Fest nur mit gemischten Gefühlen erinnern.
Grenzgang ist das furiose Debüt eines jungen Autors, der von Anfang an aufs Ganze geht: Spannungsreich und voller überraschender Wendungen erzählt Stephan Thome von der Jagd nach dem Glück, die seine Figuren aus Berlin und Köln in die hessische Provinz und von dort in einen Swinger-Club an der Frankfurter Peripherie führt. Schnell wird klar, wie leicht vermeintliche Sicherheiten abhanden kommen können und wie dünn das Eis ist, auf dem Lebensentwürfe gründen – und daß es trotzdem keine Alternative zum Kampf um das eigene Glück gibt.
David Wagner: Vier Äpfel (Rowohlt, September 2009)
Kurzbeschreibung
Vielleicht ist heute ein besonderer TagMit vier Äpfeln fängt alles an. Ein Mann, der weniger zu tun hat als ihm lieb ist, erlebt an der Obst- und Gemüsewaage seines Supermarkts einen magischen Moment: die grüne Leuchtanzeige zeigt 1-0-0-0.
Vier Äpfel, die zusammen genau tausend Gramm wiegen – er ist, er weiß selbst nicht genau wieso, gerührt, klebt das Etikett mit der Strichcodezeichnung vorsichtig auf die Tüte und schiebt seinen Wagen durch eine ihm plötzlich fremd gewordene Welt.
Seine Gedanken schweifen ab in in eine Zeit, als man noch in kleineren Läden andere Dinge kaufte, zu Frühergerüchen , zum Konsumverhalten überhaupt, und er erinnert sich an L., die Frau, die ihn verlassen hat. Vier Äpfel erzählt von tieftraurigen Produkten und ihren Konsumenten, erzählt die Geschichte einer alten Liebe, einer Gegenwart, die immer schon vergangen ist. David Wagner hat ein Buch geschrieben, das Wahrnehmungsweisen schärft, sie vielleicht sogar verändert. Darin liegt seine große Kunst.
Norbert Zähringer: Einer von vielen (Rowohlt, Juli 2009)
Kurzbeschreibung
Mit einem Beben, einer Erschütterung fängt alles an, am 1. September 1923, mitten in der Mojawe-Wüste. Die Erde wankt, der Putz fällt von der Decke, Tassen stürzen sich eine nach der anderen vom Küchenbüffet. Hinein in dieses Chaos wird Edison Frimm geboren. Am selben Tag kommt in einem Berliner Mietshaus, rund 10 000 Kilometer weiter westlich, Siegfried zur Welt, und weil auch er in schwierige Zeiten, nämlich in die Rezession der Weimarer Republik, geworfen ist, bettet man ihn auf rund fünf Millionen Reichsmark billiger als auf Heu. Noch am Abend wird sein Vater, ein NS-Mann der ersten Stunde, mit zwei Schüssen ums Leben gebracht. So nimmt eine Jahrzehnte umspannende Kriminalgeschichte ihren Lauf – und es beginnen zwei ungleiche Lebenswege, die sich später, im kriegsverdunkelten Himmel über Berlin, kreuzen werden. Von der Ironie der Geschichte, ihrem Motor, dem Zufall, von Kriegen, großen Katastrophen und kleinen Dramen erzählt Zähringers neuer Roman. Voller Sympathie für die kleinen Leute und ihre Geschichten schlägt er abenteuerliche Volten, baut überraschende Brücken zwischen Historie und Gegenwart, Amerika und Deutschland. „In der deutschen Literatur passiert es selten, dass solche existenziellen Einsichten in einen leichten und auf verzweifelte Art auch noch komischen Roman verpackt werden. Norbert Zähringer ist eine Ausnahmeerscheinung.“ (Kolja Mensing, Deutschland Radio Kultur)
Quelle: Deutscher Buchpreis 2009
Mit dieser Liste bin ich rundum zufrieden. LG tinius
hi tinius,
na ja, es steht mal wieder 13:7 – also gibt es einen Autorinnen-Anteil von gut 33 %. Das ist mir mal wieder zu wenig! Ansonsten muss ich mich noch einlesen – einige Bücher und Autoren sagen mir leider gar nichts. Über Herta Müllers „Atemschaukel“ habe ich heute schon ganz früh in der ZEIT in Iris Radischs aktuellem Lesetipp mehr erfahren. Dass Glavinic und Jirgl vertreten sind überrascht nicht weiter – interessant finde ich Wolf Haas in der Liste. 😉
LG