Die Novelle der Süddeutschen Zeitung zum Deutschen Buchpreis 2008

Hundert Tage Kaltenburg vergingen, dann verstand sie die Abschaffung der Arten und rief ein Taxi. Das dunkle Schiff legte ab, der Kollateralschaden blieb zurück, schon nahm sie Kurs auf die Winter im Süden. Langsam brach die morawische Nacht herein, und jemand wisperte: „Treffen sich zwei – der Vogel, der spazieren ging, und der Verdächtige.“ Nach Hause schwimmen war von nun an unmöglich. Sie seufzte „Willkommen, neue Träume“. Denn Träume sind unausweichlich, ob wir wollen oder nicht. Zwar war ungewiss, ob sie die Ludwigshöhe je erreichen würde. Längst warf auf Adam und Evelyn der Turm seinen Halbschatten. Doch seit Jahrhunderten wartete dort ein liebender Mann. Und sie war bestimmt, den Liebesbrand zu löschen. 😉

Deutscher Buchpreis 2008: Titel der Longlist
Quelle: Süddeutsche Zeitung
Bild: Wachtmeister

Trugbild – Ein Gedicht von Cees Nooteboom

Trugbild

Nie gewesen, der du sein wolltest,
der du dachtest, daß du warst.
Das falsche Kostüm
in einer verqueren Welt.

Immer mit der Lüge gegangen,
der ältesten Verlobten, nie geglaubt,
daß nächstliegende Worte

die innigsten sind. Für dich ist
die Erscheinung verwandter
als der erste Gedanke,

du hast zuviel Welt, zuviel Moos
an deinem Standbild, du stehst da
mit dem Buch, das du selbst nicht gelesen,

ein Mann aus Fleisch, der zu Kalk wurde,
ein Engel aus Schatten, allein,
gehüllt in deinen Namen
als leeren Beruf.

Cees Nooteboom wurde am 31. Juli 75 Jahre alt.

Cees Nooteboom: Gesammelte Werke Band 1: Gedichte
Aus dem Niederländischen von Ard Posthuma und Helga van Beuningen; hg. von Susanne Schaber; © Cees Nooteboom 2003 ; Suhrkamp Verlag, 2008; 418 S., 34,90 €

Quellen: Zeit Foto: Flickr

Radovan Karadzic: Ich habe mich vom Guten abgewendet

Radovan Karadzic

Das Gedicht steht als Beispiel Karadzics literarischer Aktivitäten:

Ich habe mich vom Guten abgewendet
Von Radovan Karadzic

Ich habe mich vom Guten abgewendet
brenne wie eine Zigarette auf
meinen neurotischen Lippen.
von allen fertiggemacht
warte ich in der Morgendämmerung auf
meine große Stunde.
Endlich werde ich
die Morgenbombe werfen und
man wird nur noch das
Lachen eines launischen
einsamen Mannes hören.

Radovan Karadzic, der vor dem UN-Tribunal in Den Haag wegen Kriegsverbrechen und Völkermord angeklagt ist, wurde 1945 im montenegrinischen Bergdorf Petnjica geboren. Der frühere bosnische Serbenführer studierte in den sechziger Jahren in Sarajewo Medizin und betrieb später als Psychiater eine eigene Praxis in Pale. 1990 wurde er Präsident der Republika Srpska in Bosnien und Herzegowina und begann einen Krieg gegen die anderen bosnischen Bevölkerungsgruppen. KaradŠ¾ić wird beschuldigt, die dabei vorgenommenen sogenannten „ethnischen Säuberungen“ und Übergriffe auf bosniakische und kroatische Zivilisten geplant und befohlen zu haben. So wurde u.a. auf Befehl KaradŠ¾ićs am 11. Juli 1995 die UN-Schutzzone Srebrenica mit über 40.000 bosnischen Flüchtlingen von serbischen Truppen ohne Widerstand der niederländischen UN-Truppen eingenommen. Während Frauen und Kinder in Richtung Tuzla vertrieben wurden, wurde der größte Teil der männlichen Bevölkerung (bis zu 6.975 Bosniaken ermordet.

Auf anhaltenden internationalen Druck hin musste KaradŠ¾ić am 30. Juni 1996 als Präsident der Republika Srpska abtreten. Am 24. April 1995 gab das UN-Kriegsverbrechertribunal bekannt, dass es gegen KaradŠ¾ić ermittelt. Am 14. November reichte es eine erweiterte Anklageschrift ein, am 11. Juli 1996 erließ es einen internationalen Haftbefehl.

Auch eine von den Vereinigten Staaten ausgerufene Belohnung von fünf Millionen Dollar für Hinweise zur Verhaftung von Radovan KaradŠ¾ić hatten nicht zur Festnahme KaradŠ¾ićs geführt. Der nunmehr untergetauchte KaradŠ¾ić konnte aufgrund der Unterstützung von Regierungsbeamten der Republika Srpska und zunächst wohl auch seitens MiloŠ¡evićs, sich immer wieder dem Zugriff entziehen.

Karadzic verfasste Gedichte, schrieb Kinderbücher und komponierte volkstümliche serbische Musik. Von 1968 bis 1990 veröffentlichte er vier Gedichtbände, wobei bereits der erste, Ludo koplje (deutsch: Verrückte Lanze), vom Kampfgeist der Serben handelt. Während seines Belgrad-Aufenthalts lernte er den damals schon bekannten Romancier und Essayisten Dobrica Ćosić kennen, der ihn stark beeinflusste und in die literarische Szene der Hauptstadt einführte.

Am Montag, den 21. Juli 2008, wurde Karadzic in Belgrad verhaftet. Nach Angaben serbischer Ermittler habe er vor seiner Festnahme unter falscher Identität und mit stark verändertem äußeren Erscheinungsbild als „Dragan Dabić“ unbehelligt in Belgrad gelebt und in einer Arztpraxis als „Alternativmediziner“ gearbeitet. Kurz vor der Festnahme habe er sich auf seinen bevorstehenden Urlaub in der kroatischen Stadt Split vorbereitet.

Quelle: Süddeutsche Zeitung – Peter Köpf: Karadzic: Die Schande Europas. Econ-Verlag, Düsseldorf 1995

Peter Rühmkorf – Gedichte zum Abschied

ParadiesvogelschißRückblickend mein eigenes Leben
fast noch die günstigste Lösung.

Und dann willst du bald nur noch mit deinem Fischmann
und der Gemüsefrau soweit zurechtkommen,
daß sie dir nicht unentwegt angegangenen Dorsch
und verstockte Radieschen andrehn –
Mit sonem stillen Stubengelehrten
kann man natürlich manches machen.

Von einer gewissen Gleichgültigkeitswarte aus
ließe sich vielleicht sogar noch
über diesen und jenen Lichtblick verhandeln:
eine bindfadenblonde Rose im Zugwind,
die es zu stützen gilt;
und du tust dich statt mit deinen Altersbeschwerden
ausnahmsweise mal
als großer Wohltäterätäter hervor.

Über den Grabesrand weg läßt sich ohnehin
nur schwer spekulieren.
Keine Mörsergranaten ins Brautbett, schon einmal gut.
Keine Tretminen in den Blumenrabatten, und auch das!
Keine Herzattacke ohne den Beistand von deinem
Lieblingskardiologen
Und der BARMER ERSATZKASSE,
Und wenn du morgens wieder mal dunkeltrunken deinen Rattenbau erreichst,
gratuliere, ah, im Kühlschrank brennt noch Licht.

Manches hält man natürlich nur aus, wenn man weiß,
daß man sich bereits auf der Rückfahrt befindet.
Die Haare lichter.
Stimme leiser.
Und auch die Schlaganfälle knattern nur so um dich rum,
daß du glaubst, in deiner lokalen Galaxis
wär bereits Weltuntergang angesagt.
Man nur gut, daß kein Ehrgeiz dich treibt,
von jedem Stück Lokuspapier
einen Durchschlag hinterlassen zu müssen.

Am schwierigsten bei solcher Lage der Dinge
Immer noch ein für Außenstehende
alles begleichendes Schlußwort.
Sage beim Abschiednehmen gern einfach
„Halten Sie die Stellung“,
was im Allgemeinen begrüßt wird –
O b w o h l S i e ?
D i e S t e l l u n g ?
H a l t e n ?

Wo die Erde bereits wie ein durchgedrehter Brainburger
durch die große kapitalistische Imbißstube saust,
rasend,
rotierend,
dem Selbstverzehr entgegen,
bis der letzte Biß und der letzte Schiß in einem Reim
zusammenfallen
und die Führung endgültig an die Kakerlaken übergeht …

Peter Rühmkorf erlag am 08.06.2008 seiner Krebserkrankung.

Paradiesvogelschiß
Gebundene Ausgabe, 160 Seiten, erschienen im Rowohlt Veralg

Quelle: Süddeutsche Zeitung

Für Buchtrinker und Seitenfresser mit dem Faible für Ringelnatz

Ich habe dich so lieb

Ich habe dich so lieb!
Ich würde dir ohne Bedenken
Eine Kachel aus meinem Ofen
Schenken.

Ich habe dir nichts getan.
Nun ist mir traurig zu Mut.
An den Hängen der Eisenbahn
Leuchtet der Ginster so gut.

Vorbei – verjährt –
Doch nimmer vergessen.
Ich reise.
Alles, was lange währt,
Ist leise.

Die Zeit entstellt
Alle Lebewesen.
Ein Hund bellt.
Er kann nicht lesen.
Er kann nicht schreiben.
Wir können nicht bleiben.

Ich lache.
Die Löcher sind die Hauptsache
An einem Sieb.

Ich habe dich so lieb.

„Knochiges Sturmhaubengesicht…geiernder Raubritterschädel!“ – Kommentare wie diese muss Joachim Ringelnatz ein Leben lang über sich ergehen lassen. Dass er nicht wirklich das Bild eines Liebhabers abgibt, weiß niemand besser als er selbst: “ Ich bin überzeugt, dass mein Gesicht mein Schicksal bestimmt. Hätte ich ein anderes Gesicht, wäre mein Leben ganz anders, jedenfalls viel ruhiger verlaufen.

Ringelnatz leidet unter seiner Erscheinung, vor allem unter seiner großen Nase, die er schon früh bedichtet:

Hans freite des Nachbars Liesel so gern
Da drüben über der Straße.
Und sagt ihm die Liesel:
Sie mag keinen Mann
mit einer so langen Nase.

Joachim Ringelnatz, eigentlich Hans Bötticher (1883-1934), war Abenteurer, Seemann, Minensuchboot-Kommandant, Artist und Bohemien aus Sachsen (Leipzig). Die Nazis verboten ihm 1933 Kabarett-Auftritte und beschlagnahmten seine Bücher, ein Jahr später starb er völlig mittellos in Berlin. Sein Werk aber bleibt in der deutschen Literatur unsterblich. Seine Zeitgenossen liebten seine skurrilen und trotzig optimistischen Texte.

„Sein eigentliches künstlerisches Element war die Sprachphantastik, das erfinderische Spiel des Wortes, das er mit handwerklichem Sinn für Farbe und Kraft behandelte; das konnte lärmende Kaskaden geben, aber die besten seiner Verse soll man still und schlicht lesen, und dann schenken sie keine gedichtete Journalistik, sondern etwas sehr Altmodisches: Poesie.†œ Theodor Heuss