November 2010: Der Bonbonpalast von Elif Shafak

Literatur + Istanbul

Am 27.11.2010 besprechen wir im Lesekreis „Der Bonbonpalast“ der türkischen Schriftstellerin Elif Shafak. ‚Wir treffen uns zur üblichen Zeit bei Eli.

Über die Autorin
Elif Shafak lebt in der Türkei. Ihre Romane wurden in mehr als 25 Sprachen übersetzt. Für ihr Werk „Der Bastard von Istanbul“ stand die Autorin wegen „Beleidigung und Verunglimpfung des Türkentums“ unter Anklage, doch der Prozess wurde zu ihren Gunsten entschieden.

Elif Shafak ist Universitätsdozentin, schreibt für Magazine und Zeitschriften und textet Songs für türkische Rockbands. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Istanbul.

Kurzbeschreibung
Dieser Roman ist eine Liebeserklärung an Istanbul

Ein Haus als Metapher für eine ganze Stadt: †Der Bonbonpalast†œ verwebt kunstvoll die Geschichten der zahlreichen Hausbewohner mit der Geschichte und Gegenwart Istanbuls, einer Stadt zwischen Mystik, Religion und der Kraft der Moderne.

Ein ehemals prachtvolles Haus im Zentrum von Istanbul, gebaut von einem russischen Adeligen für seine Frau, ist der Schauplatz dieses Romans. Inzwischen ist der „Bonbonpalast“ allerdings ziemlich verwittert †” und Heimstatt nicht nur für eine, sondern gleich für zehn sehr unterschiedliche Familien. In der Erzählung ihrer Schicksale, Tragödien und Komödien folgt Der Bonbonpalast der Struktur von Tausendundeiner Nacht. In loser Folge und doch aufeinander bezogen werden die Schicksale und Erlebnisse eines zutiefst frommen Mannes, zweier ungleicher Zwillinge, die einen Friseursalon betreiben, eines namenlosen Ich-Erzählers, einer rätselhaften alten Frau, einer charmanten Schönheit und eines Marihuana rauchenden Studenten mit Hund erzählt †” und damit die des Gebäudes und der Stadt. Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft, alles fließt in diesem Roman zusammen, der vor Geschichten nur so sprudelt, Geschichten, die so unglaublich sind und so real wie der Geruch des Hauses, dessen Quelle ganz am Ende an unerwarteter Stelle gefunden wird.

Die gebundene Ausgabe von „Der Bonbonpalast“ umfasst 470 Seiten und ist im Juni 2010 neu im Verlag der Süddeutschen Zeitung in der Bibliothek der Metropolen erschienen.

September 2010: Andere Räume, andere Träume von Daniyal Mueenuddin

Am 25. September 2010 besprechen wir im Lesekreis „Andere Räume, andere Träume“ von Daniyal Mueenuddin. Der pakistanische Autor gewann mit seinem Debütroman, der unter dem Originaltitel „Other Rooms, Other Wonders“ im Jahr 2009 erschienen ist, The Story Prize 2009 und gehörte zu den Finalisten des National Book Award. 2010 war er für den Pulitzer Preis, den Commonwealth Writers‘ Prize, den Los Angeles Times First Fiction Award und den  Ondaatje Prize nominiert. Die gebundene deutsche Erstausgabe erschien in der Übersetzung von Brigitte Heinrich am 19.04.2010 im Suhrkamp Verlag.

Wir besprechen den Roman, falls es zufällig mal nicht regnet, bei Karin.

Kurzbeschreibung
Eine Villa in der Hauptstadt, eine Farm auf dem Land – der betagte K. K. Harouni ist ein vermögendes und einflußreiches Mitglied der pakistanischen Landbesitzerklasse. Verständlich, daß seine Beziehung zu einer Frau, die gesellschaftlich weit unter ihm steht, bei seiner Familie auf wenig Begeisterung stößt. Nach Harounis Tod wird sie dorthin verstoßen, wo sie herkam: auf die Straße.

Um den Clan dieses Patriarchen und seine Angestellten kreisen acht faszinierende Erzählungen: über Harounis Neffen, der sich in eine Amerikanerin verliebt; über Nawab, den Elektriker, unentbehrliche Arbeitskraft auf Harounis Besitztümern und immer auf der Suche nach neuen Einnahmequellen; über Saleema, die sich als Küchenhilfe durchschlägt, bis sie Harounis Diener Rafik begegnet und ihr Leben plötzlich ganz anders zu werden verspricht. Doch das Glück ist meist von kurzer Dauer in Mueenuddins Pakistan.

Daniyal Mueenuddins Debüt war bereits vor seinem Erscheinen ein Ereignis und machte Furore mit Vorabdrucken im New Yorker und in Salman Rushdies Best American Short Stories. Mitreißend, tragisch, elegisch und humorvoll webt es die Lebensgeschichten von Menschen ineinander und öffnet den Blick auf eine Welt, die man so schnell nicht vergißt.

Über den Autor
Daniyal Mueenuddin, geboren 1963, wuchs in Lahore, Pakistan, und Elroy, Wisconsin, auf und studierte am Dartmouth College und an der Yale Law School. Nach mehreren Jahren als Jurist in New York lebt und arbeitet er heute, als Autor und als Bauer, auf einer Farm in Khanpur, Pakistan.

Juli 2010: Atem von Tim Winton

Am 30.07.2010 besprechen wir Atem von Tim Winton im Lesekreis. Gerlinde hat den Roman vorgeschlagen, er konnte sich in der Abstimmung gegen „Die dunkle Seite der Liebe“ von Rafik Schami und Julia Francks „Die Mittagsfrau“ durchsetzen. Wir treffen uns zur üblichen Zeit bei Karin.

Das Leben ist eine Ansammlung von Erfahrungen. Einige führen uns an unsere körperlichen und mentalen Grenzen und manchmal überschreiten wir diese, freiwillig oder gezwungenermaßen. „Atem“ ist ein poetischer Beleg dafür. Der Autor Tim Winton erzählt mit einer so anschaulichen und klaren Wortgewalt, dass der Leser sich bei der Vorstellung ertappt, mit Surfbrett und Meer eins zu werden. Es ist ein Roman für alle, die das Meer lieben, eine Hommage an den Sport und das Leben.

Kurzbeschreibung
Sonne, Meer und Weite †“ für einen Surfer ist das nicht genug. Er braucht die große, die immer größere Welle. Bruce Pike ist in seinem Leben viele Wellen geritten, er weiß um die Faszination und die Tücken dieses Sports. Dabei fing alles so harmlos an, in seinem kleinen Kaff an der Westküste Australiens: Als Kind tauchte er mit seinem Freund Loonie um die Wette, es ging darum, so lange wie möglich den Atem anzuhalten. Bald entdeckten sie gemeinsam das Surfen †“ und forderten immer waghalsiger den Tod heraus.

„Nach seinem berauschenden ersten Buch, das ins Deutsche übersetzt wurde „Der singende Baum„, erzählt Australiens erfolgreichster Schriftsteller nun 17 Geschichten aus seiner Heimat, die das Leben auf dem fünften Kontinent lebendig werden lassen. Die Figuren darin sind so präsent, dass man sich mit ihnen freut, mit ihnen leidet und mit ihnen trauert. Das Mitfühlen wird hier ganz groß geschrieben.“
Bild am Sonntag über „Weite Welt“

Pressestimmen
„Wintons biegsame Sprache, seine Nachdenklichkeit, die nie belehrend wirkt, seine naturverbundene Erdhaftigkeit machen den zurückgezogen lebenden Autor zu einer literarischen Kultfigur.†œ NDR Kultur

„Tim Winton fesselt mit einer Geschichte über die Sehnsucht nach Freiheit und Abenteuer.†œ Cosmopolitan

„Das ist doch mal ein Sommerbuch!†œ Volker Weidermann, FAZ

Über den Autor
Tim Winton wurde 1960 in der Nähe von Perth, Westaustralien, geboren. Er hat zahlreiche Romane, Sachbücher sowie Kinderbücher veröffentlicht und ist einer der erfolgreichsten Schriftsteller Australiens. Zweimal kam er auf die Shortlist des „Man Booker Prize“, und dreimal erhielt er den „Miles Franklin Award“, den wichtigsten Literaturpreis Australiens. Seine Werke sind in zwölf Sprachen übersetzt, einiges wurde für Bühne, Radio und Film adaptiert. Tim Winton lebt mit seiner Frau und drei Kindern in Westaustralien. Bei Luchterhand ist erschienen: „Der singende Baum“ (Roman, 2004) und und „Weite Welt“ (Erzählungen, 2007).

Über den Übersetzer
Klaus Berr, geb. 1957 in Schongau, Studium der Germanistik und Anglistik in München, einjähriger Aufenthalt in Wales als „Assistant Teacher“, ist der Übersetzer von u.a. Lawrence Ferlinghetti, Tony Parsons, William Owen Roberts, Will Self.

Trond Sander, die Hauptperson in Per Pettersons „Pferde stehlen“

Menschen wie wir

Trond Sander, die Hauptperson in Per Pettersons „Pferde stehlen“.

Trond Sander, 67 Jahre, zieht sich zurück. Er, der Junge mit den Goldhosen, der durch den Verkauf seiner Firma nun genug Geld hat, möchte ein Leben in der Stille beginnen. Ihn begleiten seine Hündin Lyra aus einem Tierheim in Oslo und seine Erinnerungen.
Diese drohen so übermächtig zu werden, dass er ihnen nicht mehr ausweichen kann.

„Ich habe verkauft, was von der Firma übrig war, und bin hierher gezogen, das musste ich tun, sonst wäre es mir übel ergangen. Ich konnte nicht weitermachen wie bisher.†œ S.283

Trond hat sich aller Bindungen entledigt. Seine Frau starb bei einem Autounfall vor drei Jahren, seine Töchter wissen nicht, wo sich ihr Vater aufhält, und dass er sich ein Haus fernab von der lärmenden Großstadt Oslo in der Stille der ostnorwegischen Wälder gekauft hat. Hier stellt er sich seinen Erinnerungen, die schneller kommen als ihm lieb ist.

Auslöser ist sein Nachbar Lars Haug, in dem er den Bruder seines Jugendfreundes Jon erkennt.
In seiner Jugend hat er 15-jährig einen Sommer mit seinem Vater an einem ähnlichen Ort verbracht. Das war der letzte Sommer mit seinem Vater, ein Sommer in dem er unfreiwillig erwachsen geworden ist. Seine Mutter und seine Schwester blieben in Oslo. Er wähnte sich als „Auserwählter†œ mit seinem Vater in enger Zweiergemeinschaft verbunden.

Rückblickend erkennt er, dass diese Sicherheit eine trügerische war. Der Vater wird die Familie und ihn am Ende des Sommers verlassen, und er wird nie wieder Kontakt zu ihm aufnehmen. Die Zeit mit dem Vater ist geprägt von Eindrücken, die ihn jetzt einholen. Der Vater hat in der norwegischen Widerstandsbewegung gearbeitet und Informationen und Menschen außer Landes geschleust. Unterstützt wird er dabei von einer Frau, die in diesem Sommer ihre „zufällige†œ Nachbarin ist. Mit ihr wird er ein neues Leben beginnen, zusammen mit ihrem Sohn Lars – ein Leben, in dem Trond keinen Platz mehr hat.

Später wird Tronds Lieblingslektüre „David Copperfield†œ sein. Dem Titelheld ergeht es übel, aber die Geschichte nimmt einen guten Ausgang. Trond liest das Buch „Seite um Seite, fast starr vor Schreck, weil ich sehen musste, wie alles zuletzt auf seinen Platz fiel, und dem war ja auch so, aber es dauerte immer so lange, bis ich mich sicher fühlte. In der Wirklichkeit war es anders.†œ

Für Trond waren die Erlebnisse in diesem Sommer traumatisch und richtungweisend für sein weiteres Leben.
Sein Vater lebte nun in einer anderen Familie weiter mit einem Stiefsohn.

Als er Jahre später auf Lars trifft, wäre seine brennendste Frage, die er sich jedoch nicht traut ihm zu stellen: „Hast du den Platz eingenommen, der eigentlich meiner war? Hast du Jahre meines Lebens bekommen, die eigentlich mir gehören sollten?“ S.280
Dieses Gefühl, nicht für das geliebt zu werden was man ist und auswechselbar zu sein, hat sein weiteres Leben bestimmt. Es ergeht ihm wie David Copperfield. „Ob ich als Hauptperson meines eigenen Lebens hervortreten werde, oder ob sonst jemand diesen Rang einnehmen wird, müssen diese Seiten erst erweisen.†œ S.279

Per Petterson beschreibt hier einen Menschen, der schockartig erwachsen werden muss, denn „der kindliche Glauben an die immer gute Wendung im Leben†œ hat sich erledigt. Das Vertrauen war „im Laufe eines einzigen Julitages wie weggeblasen†œ. Sein Vater ist für ihn so gut wie tot, die Trauer über den Verlust unterdrückt er sein Leben lang. Das kindliche Gefühl, zusammen mit seinem Vater „Bäume ausreißen†œ zu können, verpufft. Er trifft auf eine Grenze, die er akzeptieren muss.

Nicht umsonst beginnt das Buch mit einer Grenzerfahrung. Die Kohlmeisen, die Trond aus seiner Hütte heraus beobachtet, fliegen gegen die Fensterscheibe und landen betäubt im Schnee. Was für ein wunderbares Bild für die innere Isolation, das an Marlen Haushofers Roman „Die Wand†œ erinnert. Trond fragt sich „Ich weiß nicht, was ich habe, dass sie haben wollen†œ. Wir hoffen für ihn, dass er seine Einsamkeit überwinden wird.

Die Kommunikation mit seiner unverhofft auftauchenden Tochter lässt darauf schließen, dass er beginnt sich zu öffnen. Oder wie ein Rezensent es schrieb: „Er hat sich endlich entschlossen in seinem Leben selbst die Hauptrolle zu spielen, auch wenn der Abgang von der Lebensbühne nicht mehr fern ist.

„Pferde stehlen“ von Per Petterson ist am 10. Januar 2008 im Fischer Verlag erschienen. Der Lesekreis hat das Buch im April 2010 besprochen.

Rezensionen:

FAZ vom 04.03.2006, Nr. 54 / Seite 50: Wir entscheiden selbst, wann es weh tut – Hasenjagd auf die verlorene Zeit: Per Pettersons großes Vatersuchspiel

23.04.2006 Lesemond

April 2010: Pferde stehlen von Per Petterson

„Pferde stehlen“ von Per Petterson, in der Übersetzung von Ina Kronenberger, lautet der neue Titel von dem Roman, den wir am 24.04.10 im Lesekreis besprechen. Wir treffen uns zur üblichen Zeit bei Jürgen. Wir können uns auf „eine ruhige, kraftvolle Prosa, wie auch die ZEIT über den Roman urteilt, freuen.

Kurzbeschreibung
Norwegen im Sommer 1948: Der fünfzehnjährige Trond verbringt die Ferien in einer Hütte nahe der schwedischen Grenze. Als in der Nachbarsfamilie ein schreckliches Unglück geschieht, entdeckt der Junge das wohlgehütete Lebensgeheimnis seines Vaters. In den Kriegsjahren hatte dieser zusammen mit der Nachbarin politisch Verfolgte über den Fluss gebracht. Und sich dabei für immer in diese Frau verliebt. Noch ahnt Trond nicht, dass er seinen Vater nach diesem gemeinsamen Sommer nie wiedersehen wird.

Pressestimmen
„Eine wunderschön erzählte Geschichte über die Liebe und das Glück, das Jungsein und das Alter, die Natur und die Einsamkeit. Das Schönste wäre, wenn einer auf die Idee käme, dieses Buch zu verfilmen. Das wäre ein Film, bei dem man ein bisschen weinen würde, aber gleichzeitig auch den Daumennagel anknabberte, weil es so spannend ist.“ (Christine Westermann, WDR)

„Pferde stehlen ist ein elegischer Vaterroman, aber auch eine poetische Huldigung an die nordische Natur.“ (Neue Züricher Zeitung)

„Eindringlicher als Per Petterson kann man von Leuten in ihrer Landschaft nicht erzählen.“ (Süddeutsche Zeitung)

„Das ist verdichtetes Leben: von absolut zwingender und unangestrengter Notwendigkeit.“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung)

Über den Autor
Per Petterson, geboren 1952 in Oslo, ist ausgebildeter Bibliothekar und arbeitete als Buchhändler und Übersetzer, bevor er sich als Schriftsteller etablierte. Sein Buch Sehnsucht nach Sibirien wurde 1997 für den Nordic Council’s Literature Prize nominiert.Ina Kronenberger, geboren 1965 in der Pfalz, übersetzt aus dem Norwegischen und Französischen, u.a. Per Petterson, Linn Ullmann, Ketil Björnstad, Anna Gavalda, Amin Maalouf und Thomas Gunzig.