Besondere Bücher zu Weihnachten: Empfehlungen aus dem Lesekreis

Durchschnittlich 80.000 neue Bücher erscheinen Jahr für Jahr in Deutschland. 9 Bücher sollen im Schnitt pro Jahr von jedem Deutschen gelesen werden. Die Anzahl ist ohne Gewähr, da im Netz viele unterschiedliche Angaben kursieren.

Besonders zu Weihnachten findet man überall „besondere“ Buchempfehlungen. Auch in der aktuellen Ausgabe des BÜCHER Magazins werden auf vier Seiten die 35 „wichtigsten Bücher 2010“ vorgestellt. Nun handelt es sich hierbei genau um die 20 Bücher der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2010 und die 15 Titel der Hotlist aus 2010, die per Publikumsabstimmung und einer Vorjury vom Fachmagazin „BuchMarkt“ nominiert wurden.

Bestsellerlisten und Nominierungen kann ich auch selber lesen, das muss die Redaktion eines Büchermagazins nicht schnöde für mich zusammenfassen„, schreibt die Literaturwissenschaftlerin und Lektorin Ailis vom Blog Leseturm in einem Kommentar zur Veröffentlichung der „wichtigsten Bücher 2010“ im BÜCHER Magazin.

Vielleicht hat Ailis recht, aber es gibt ja mittlerweile auch Buchempfehlungen von vielen einzelnen Personen. So verkünden zum Beispiel 18 F.A.Z.-Redakteure ihre persönlichen „Ratschläge für unentschlossene Käufer“ unter den Kriterien „Was süchtig macht“, „Was zu Herzen geht“, „Was den Verstand schärft“,  „Was das wieder kostet!“,  „Was unbedingt sein muss“, „Was für Kinder“, „Was längst fällig war“ und „Was bleibt“ und geben darin Tipps zum Kauf von CDs, DVDs und Büchern.

Und hier finden sich ganz, ganz viele Buchempfehlungen von verschiedenen Literturblogs, die wir unter der Prämisse 3 Buchempfehlungen zu Weihnachten gesammtelt haben. Entstanden ist wirklich ein großer „Kessel Buntes“ mit schönen Tipps. Da dürfte für jeden etwas dabei sein.

Nachfolgend noch fünf  Buchempfehlungen aus dem Lesekreis:  „Was Besonderes“ – natürlich rein subjektiv 😉

Das Jagdgewehr von Yasushi Inoue

Schattenfuchs von Sjón

Der Junge und das Meer von Tschingis Aitmatow

Atemschaukel von Herta Müller

Wie ein Stein im Geröll von Maria Barbal

Vielleicht hat ja der eine oder andere Blog Ideen für eigene „besondere“ Buchvorschläge als Geschenktipp zu Weihnachten und teilt uns das mit. Wir würden uns freuen.

Buchempfehlungen der „Vorleser“ am 03.12.2010 im ZDF

In der zehnten †œVorleser-Sendung† im ZDF mit Amelie Fried und Ijoma Mangold ist am 03.12.2010, um 23 Uhr, der Weltstar und Weltbürger Mario Adorf zu Gast.

Mario Adorf stellt sein derzeitiges Lieblingsbuch „Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel“ von Moritz Rinke vor. Diese Entscheidung rührt sicherlich daher, dass Adorf den Schriftsteller auch als Theaterautoren schätzen gelernt hat, spielte er doch vor dem Wormser Dom den Hagen in Rinkes Neuerzählung der „Nibelungen“.

Im Unterschied zu den sonstigen Sendungen wird Amelie Fried diesmal keine speziellen Buchtipps geben und auch Ijoma Mangold verzichtet auf seine „3 Bücher in 3 Minuten“. Stattdessen empfehlen die Vorleser und ihr Gast in der letzten Sendung dieses Jahres besondere Werke, die sich auch gut als Weihnachtsgeschenke eignen könnten.

Bücherliste vom 03.12.2010:

In die Nacht hinein von Michael Cunningham

Kurzbeschreibung
Was bleibt in der Mitte des Lebens vom Leben übrig, wenn plötzlich alles Bisherige in Frage gestellt wird?
Was bleibt, wenn sich in der Mitte des Lebens plötzlich ganz neue Möglichkeiten auftun, die alles Bisherige in Frage stellen? In seinem neuen Roman begleitet Michael Cunningham ein verheiratetes Paar durch eine Zeit voller Verlockungen und Ängste. Und wie in seinem pulitzerpreisgekröntem Roman »Die Stunden« huldigt er dem Rätsel des Lebens, der Mannigfaltigkeit der Welt und der Kraft der Liebe.
Peter und Rebecca Harris, Mittvierziger aus Soho, Manhattan, haben beide Karriere in der Kunstwelt gemacht: er als Galerist, sie als Herausgeberin einer Kunstzeitschrift. Sie sind wohlhabend, ihre Tochter geht auf ein College in Boston, sie haben einen großen, interessanten Freundeskreis †“ ja, sie gehören zu den »happy few« und haben allen Grund, glücklich zu sein. Da kommt Rebeccas wesentlich jüngerer Bruder Ethan zu Besuch, der ihr verwirrend ähnlich sieht. Ethan wird allgemein nur Missy genannt, ein Kosewort für »das Missgeschick «, weil seine Geburt alles andere als geplant war. Missy ist ein sehr gutaussehender und kluger junger Mann, aber er weiß nicht, was er aus seinem Leben machen soll und möchte mit Hilfe von Peter einmal die Welt der Kunst kennenlernen. Doch Missys Gegenwart verunsichert Peter zusehends; er hinterfragt plötzlich die Bedeutung seiner Künstler, den Wert seiner Arbeit und Karriere, seine Ehe †“ seine ganze sorgfältig aufgebaute Welt. Erst als er durch ein Fegefeuer der Versuchungen und Sinnkrisen gegangen ist, erkennt er, wie viel ihm sein bisheriges Leben, sein bisheriges Glück wirklich bedeuten.

Aus dem Englischen von Georg Schmidt
Gebundene Ausgabe, 320 Seiten
Luchterhand Literaturverlag, 2010

Flüchtig von Adam Thirlwell

Kurzbeschreibung
Haffner ist charmant, eitel und moralisch verwerflich. Er ist ein Freigeist und ein Wüstling. Und er liebt Frauen.
In einem behaglichen Alpen-Kurort sitzt Haffner nun, mit 78 Jahren, und denkt über die Verkopplungen des Lebens nach. Und sucht ein Allheilmittel, eine Wiedergutmachung. Und noch mehr Frauen. Nach und nach kommen bei ihm und dem Leser Fragen auf. Hat man seine Vergangenheit eigentlich verdient? Hat man die Familie, die man brauchte? Und die eigene Geschichte? Musste das sein?
Ein brillanter, bösartiger und melancholischer Roman, eine unzüchtige Komödie, die den Leser verblüfft zurücklässt.

Aus dem Englischen von Henning Ahrens
Gebundene Ausgabe, 384 Seiten
S. Fischer Verlag, 2010

Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel von Moritz Rinke

Kurzbeschreibung
Worpswas? – Worpswede! Moritz Rinke legt ein furioses Romandebüt vor. Stammt das angebissene Stück Butterkuchen im Tiefkühlschrank tatsächlich von Willy Brandt? Kann ein toter Onkel noch ein Kind zeugen? Wurde die schöne Kommunistin Marie von der Gestapo abgeholt oder von der eigenen Familie im Teufelsmoor vergraben? Und wie werden die Seelen der Menschen aufbewahrt?
Ausgerechnet als Paul Wendland in Berlin mit seinem Leben und seinen kuriosen Kunstprojekten in die Zukunft starten will, holt ihn die Vergangenheit ein. In Worpswede drohen das geschichtsträchtige Haus seines Großvaters und sein Erbe im Moor zu versinken – samt lebensgroßen Bronzestatuen von Luther über Bismarck bis zu Max Schmeling und Ringo Starr.
Die Reise zurück an den Ort der Kindheit zwischen mörderischem Teufelsmoor, norddeutschem Butterkuchen und traditionsumwitterter Künstlerkolonie nimmt eine verhängnisvolle Wendung. Vergessen geglaubte Familienfragen, aus dem Moor steigende historische Gestalten und die skurrile Begegnung mit einem mysteriösen Vergangenheitsforscher spülen ein ungeheuerliches Geflecht an Lügen und Geheimnissen aus einem ganzen Jahrhundert an die Oberfläche.
Moritz Rinke rührt sanft, aber vollkommen anarchisch und mit einer umwerfenden Tragikomik an die Lebensmotive, die Geschlechter-, Generations- und Identitätskonflikte seiner Figuren und ihre seelischen Abgründe. Er erzählt vom Künstlerleben, von Ruhm, Verführung und Vergänglichkeit und von einem Dorf im Norden, das berühmt ist für seinen Himmel und das flache Land – und überzeugt als raffinierter Komponist einer überschäumenden, irrwitzigen Realität in diesem furiosen Romandebüt.

Gebundene Ausgabe, 496 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch, 2010

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Weihnachstipps von Amelie Fried, Ijoma Mangold und Mario Adorf:

Das weisse Buch von Rafael Horzon

Kurzbeschreibung
Rafael Horzon †“ Möbelmagnat, Originalgenie und Apfelkuchentycoon. Als Student und Paketfahrer gescheitert, baute er über Jahre hinweg das modocom-Imperium auf: Modelabel, Partnertrennungsagentur, Nachtklub, Fachgeschäft für Apfelkuchenhandel †“ eine bahnbrechende Idee jagte die nächste, und jedes Projekt sorgte für enormes Aufsehen: Mit einem Föhn begeisterte er die Kunstwelt, mit der Kopfkrawatte revolutionierte er die Welt der Mode und schaffte es, mit der Erfindung des perfekten Buchregals einen schwedischen Möbeldiscounter vollständig vom Markt zu verdrängen. Auf dem Höhepunkt seines an Ereignissen nicht armen Lebens hält er inne und blickt zurück. Und siehe da: Horzon erweist sich auch noch als überaus charmanter und intelligenter Erzähler seiner selbst.

Broschierte Ausgabe, 216 Seiten
Suhrkamp Verlag, 2010

Das Glück am Haken: Der ewige Traum vom dicken Fisch von Christoph Schwennicke

Kurzbeschreibung
»Natürlich kann ich mich an das erste Mal erinnern. Jeder Mann kann sich an das erste Mal erinnern. Das erste Mal, ich war gerade sieben geworden, tat ich es mit einer zartgrünen Vollglassteckrute.« Geistreich und selbstironisch erzählt der renommierte Journalist Christoph Schwennicke von seiner Passion, dem Angeln. Eine wunderbare und nicht ganz grätenfreie Allegorie auf das Leben, die Liebe und das Glück.

Gebundene Ausgabe, 238 Seiten
Droemer Verlag, 2010

Arche Kinder-Kalender 2011 – Mit Gedichten um die Welt

Herausgegeben und ausgewählt von der Internationalen Jugendbibliothek, München

Mit Gedichten um die Welt

Vorwort von Peter Härtling
60 Blätter, 53 vierfarbige Illustrationen

Ausgabe 2011: Ausgezeichnet mit dem Preis der Internationalen Kalenderschau 2011, Prädikat Silber

Für alle Tage – Ein Lebensbuch von Lew Tolstoi

Kurzbeschreibung
Tolstois letztes großes Werk – erstmals in vollständiger Fassung.
Lew Tolstoi hat große Gedanken und Einsichten, „den Verstand stärkende und das Herz erfüllende“ Erkenntnisse nach Themen sortiert den 365 Tagen des Jahres zugeordnet, um sich jeden Tag aus dieser Quelle seines Denkens und Handelns zu vergewissern. In diesen Zitaten und Reflexionen kommen seine Grundüberzeugungen zum Ausdruck: Gewaltlosigkeit, Ablehnung des Krieges und des Kriegsdienstes, Achtung und Respekt auch vor den Tieren, Bedürfnislosigkeit und die Nützlichkeit der Landarbeit, Ablehnung des Eigentums und bedingungslose Nächstenliebe, Ablehnung der kirchlichen Institutionen – um nur einige der wichtigsten Punkte zu nennen.
1906/07 brachte der Dresdner Verlag Carl Reißner eine deutsche Übersetzung der 2. Auflage des Werkes heraus, die nie wiederaufgelegt wurde und stark von der Ausgabe letzter Hand von 1908, Grundlage unserer Edition, abweicht. Die Slavistin Christiane Körner hat auf der Grundlage dieser Ausgabe letzter Hand eine gültige deutsche Fassung geschaffen, die eine ganze Reihe neuer Texte, auch von Tolstoi, und eine neue Anordnung der Texte beinhaltet. Sofern schon Übersetzungen vorlagen, wurden diese mit dem russischen Originaltext überprüft und stilistisch überarbeitet. Damit liegt erstmals die definitive Fassung des letzten großen Werkes von Tolstoi in einer deutschen Ausgabe vor.
Aus dem Russischen von Christiane Körner, Eugen Heinrich Schmitt und Albert Skarvan
Mit einem Geleitwort von Volker Schlöndorff und einem Nachwort von Ulrich Schmid

Gebundene Ausgabe, Leinen, 760 Seiten mit 9 Abbildungen im Schuber
Verlag C.H. Beck, 2010

Verlorene Stunden von Anne Tyler

Kurzbeschreibung
Anne Tylers neuster, feinsinniger Roman über einen Mann, der verlorenen Erinnerungen hinterherjagt und dabei die Liebe findet Als Liam Pennywell seinen Job verliert, beschließt der 60-Jährige aus seinem Haus in eine Wohnung zu ziehen. Er hofft, dort Ruhe zu finden und auf sein Leben zurückblicken zu können. Doch dann kommt alles anders: Liam wird in der ersten Nacht in seinem neuen Heim überfallen. Als er am nächsten Tag im Krankenhaus aufwacht, kann er sich nicht an die Geschehnisse erinnern. Von da an ist er nur noch von einem einzigen Gedanken besessen: Er muss sein Gedächtnis wiedererlangen. Auf der Suche nach dem verlorenen Stück Leben lernt er die 22 Jahre jüngere Eunice kennen. Obwohl sich ihre Welten grundlegend voneinander unterscheiden, fühlen sich die beiden zueinander hingezogen. Doch als Liam erfährt, dass Eunice bereits verheiratet ist, droht ihre Liebe zu zerbrechen. Die verlorenen Stunden beleuchtet mit viel Charme und äußerst scharfsinniger Beobachtungsgabe das Leben eines einsamen Mannes, das plötzlich kopfsteht, obwohl er schon im letzten Akt zu sein schien.
Aus dem Amerikanischen von Simone Jakob

Gebundene Ausgabe, 304 Seiten
Verlag Kein & Aber, 2010

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Die nächste Sendung findet am Freitag, den 04.02.2011, um 23 Uhr, statt.

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Morgen, Kinder, wird´s nichts geben!

Weihnachtslied, chemisch gereinigt von Erich Kästner (1928)

Morgen Kinder, wird´s nichts geben!
Nur wer hat, kriegt noch geschenkt.
Mutter schenkte Euch das Leben.
Das genügt, wenn man†™s bedenkt.
Einmal kommt auch eure Zeit.
Morgen ist†™s noch nicht soweit.

Doch ihr dürft nicht traurig werden.
Reiche haben Armut gern.
Gänsebraten macht Beschwerden.
Puppen sind nicht mehr modern.
Morgen kommt der Weihnachtsmann.
Allerdings nur nebenan.

Lauft ein bisschen durch die Straßen!
Dort gibt†™s Weihnachtsfest genug.
Christentum, vom Turm geblasen,
macht die kleinsten Kinder klug.
Kopf gut schütteln vor Gebrauch!
Ohne Christbaum geht es auch.

Tannengrün mit Osrambirnen †“
Lernt drauf pfeifen! Werdet stolz!
Reißt die Bretter von den Stirnen,
denn im Ofen fehlt†™s an Holz!
Stille Nacht und heil†™ge Nacht †“
Weint, wenn†™s geht, nicht! Sondern lacht!

Morgen, Kinder, wird†™s nichts geben!
Wer nichts kriegt, der kriegt Geduld!
Morgen, Kinder, lernt fürs Leben!
Gott ist nicht allein dran schuld.
Gottes Güte reicht so weit …
Ach, du liebe Weihnachtszeit!

Quelle: Kästner für Erwachsene / 4 Bände: Ausgewählte Schriften 1 – 4

Die gebundene Ausgabe umfasst 1552 Seiten und ist im August 2005 im Atrium-Verlag erschienen.

Ein Muss für jeden Bücherschrank: „Kästner für Erwachsene„: Mit sämtlichen Romanen und allen großen Gedichtbänden bietet die umfangreiche Kästner-Werkausgabe eine nahezu vollständige Sammlung der Texte des Erwachsenenautors Erich Kästner. Die Auswahl – von „Fabian“ bis zu „Ein Mann gibt Auskunft“ – zeigt das gesamte Spektrum des Moralisten und Satirikers und lädt dazu ein, immer wieder aufs Neue zu stöbern und zu entdecken. Dazu kommen Erich Kästners Autobiographie „als ich ein kleiner Junge war„, ein ausführliches Kästner-Porträt sowie eine detaillierte Zeittafel.

Vier Bände im Schuber, Leineneinband. Mit Illustrationen von Erich Ohser und einem Vorwort von Hermann Kesten. „Erich Kästner ist ein Sohn des Volks mit Witz, ein Literat mit Geist, ein Volksfreund, ein Freund der Vernünftigen, ein Weltfreund, ein konsequenter deutscher Poet.“ (Hermann Kesten in der Einleitung zu „Kästner für Erwachsene“)

Siegfried Lenz: Fröhliche Weihnachten oder Das Wunder von Striegeldorf

Fröhliche Weihnachten oder Das Wunder von Striegeldorf von Siegfried Lenz

Vieles hat sich unter Weihnachten in Masuren ereignet, weniges aber kommt an Merkwürdigkeit gleich jenem Vorfall, den mein Großonkel, ein sonderbarer Mensch mit Namen Matuschitz, auslöste. Ich möchte davon erzählen, auf jede Gefahr hin.

Heinrich Matuschitz, ein fingerfertiger Besenbinder, hatte sich an einem fremden Motorrad vergangen und war für wert befunden, einzusitzen für ein halbes Jahr. Er saß zusammen mit einem finsteren Menschen mit Namen Mulz, der ein alter Forstgehilfe war und dem die Wilddiebe, hol sie der Teufel, zwei Frauen nacheinander von der ehelichen Seite fortgefrevelt hatten, woraufhin Otto Mulz in gewalttätigem Kummer den ganzen Striegeldorfer Forst anzündete. Gut.

Die Herren leisteten sich rechtschaffen Gesellschaft in ihrer Zelle, beobachteten die berühmten Striegeldorfer Sonnenuntergänge, plauderten aus ihrem Leben, und derweil taten Wochen und Monate das, wovon sie scheint†™s niemand abbringen kann: Sie strichen ins Land, rückten vor, diese Monate bis zum Dezember, brachten Schnee mit, brachten Frost, bewirkten, daß das schmucklose Gefängnis beheizt wurde, taten so, was man von ihnen erwartet. Insbesondere aber brachten sie näher gewisse Termine, und mit den niederen Terminen auch den Obertermin sozusagen: den Heiligen Abend nämlich. Nun fällt es einem Masuren schon schwer genug, auf die Annehmlichkeiten der Freiheit im Allgemeinen zu verzichten, furchtbar aber wird es, wenn man ihn zu solchem Verzicht auch am Heiligen Abend zwingt. Demgemäß wandte sich Heinrich Matuschitz, mein Großonkelchen, an seinen Zellenbruder, sprach ungefähr so: „Der Schnee, Otto Mulz“, so sprach er, „kündigt liebliches Ereignis an. Nimmt man den Frost noch hinzu und das Gefühl im Innern, so muß der Heilige Abend nicht weit sein. Habe ich richtig gesprochen?“ „Richtig“, sagte der alte Forstgehilfe.
„Also“, stellte mein Großonkelchen befriedigt fest. Dann starrte er hinaus in den wirbelnden Flockenfall, sann, während er sich am Gitter festhielt, ein Weilchen nach, und nachdem ein neuer Gedanke ersonnen war, sprach er folgendermaßen: „Das Ereignis“, so sprach er, „das liebliche, es steht bevor. Jedes Wesen in Striegeldorf und Umgebung ist angehalten, sich zu freuen. Die Menschen sind angehalten, die Hasen, die Eichhörnchen, und schon gar nicht zu reden von den Kindern. Nur wir, Otto Mulz, sollen gebracht werden um unsere Freude. Weil sich aber jedes Wesen zu freuen hat an diesem Termin, müssen wir ersinnen einen Ausweg.“
„Man will uns“, sagte der alte Forstgehilfe, „die Freude stehlen.“
„Eben“, sagte Heinrich Matuschitz, mein Großonkel. „Aber wir werden uns, bevor es dazu kommt, die Freude besorgen, und zwar da, wo sie allein zu finden ist: in der Freiheit. Wir werden uns zum Heiligen Abend beurlauben.“

„Das ist, wie die Dinge liegen, gut gesagt“, sprach Mulz. „Nur wird der alte Schneppat uns nicht bewilligen solchen Urlaub zu Freude. Unter den Aufsehern, die ich kenne, ist Schneppat der Schlimmste. Man wird uns, schlickerdischlacker, gleich wieder schnappen, zumal durch meine persönliche Feuersbrunst verlorengegangen sind die schönsten Verstecke im Walde.“
Bei diesen Worten wies er mit ordentlicher Bekümmerung auf die traurigen Baumstümpfe, die vom Striegeldorfer Forst nachgeblieben waren. Das Großonkelchen indes gnidderte, das heißt: lachte versteckt, legte dem Otto Mulz einen Arm um die Schulter, winkte sich sein Ohr ganz nahe heran und sprach:
„Uns wird“, so sprach er, „überhaupt niemand vermissen, kein Schneppat und niemand. Denn wir werden zurücklassen unser Ebenbild. Wir werden hier sein und nicht hier.“
Was Otto Mulz dazu brachte, mein Großonkelchen zuerst erstaunt, dann mißtrauisch und schließlich mitfühlend anzusehen und nach einer Weile zu sagen: „Manch einen, Heinrich Matuschitz, hat große Freude schon blöde gemacht. Denn erkläre mir, bitte schön, wie ein Mensch gleichzeitig sein kann bei dem lieblichen Ereignis in der Freiheit und hier in der Zelle.“

Obwohl diese Worte, man wird es zugeben, nicht unbedingt höflich waren, verlor das Großonkelchen weder Faden noch Geduld, sondern begann mit listigem Lächeln zu flüstern, und zwar flüsterte er dermaßen vorsichtig, daß nicht einmal etwas für diese Erzählung erlauscht werden konnte. Sicher ist nur, daß er dabei den Otto Mulz, sei es überredete, sei es überflüsterte; denn das finstere Gesicht des alten Forstgehilfen hellte sich auf, spiegelte Teilnahme, spiegelte Begeisterung, und zuletzt spiegelte es †“ na, sagen wir: Verklärung.

Und dann begab sich folgendes: Heinrich Matuschitz, mein Großonkel, aß kein Brot mehr †“ ebensowenig aß es sein Zellenbruder †“ ; und jede Ration wurde unter dem Bett versteckt, wurde gestreichelt und gehütet, während das liebliche Ereignis unaufhaltsam heraufzog. Die einsitzenden Herren wurden, je näher das Ereignis kam, unruhiger, gespannter und flattriger, man plauderte nicht mehr aus dem Leben, fand keine Zeit zu müßiger Beobachtung, alles an ihnen war nur noch eingestellt in Richtung auf das Kommende und auf das, was zwischen ihnen geflüstert war.

Und eines Morgens, nachdem der Frost sie muntergekniffen hatte, erhob sich Heinrich Matuschitz und gab preis, was er so sorgfältig auch vor uns verborgen gehalten hatte: Fingerfertig, wie mein Großonkelchen war, zog er das gesparte Brot unter dem Bett hervor, benetzte es auskömmlich und begann, weiß der Kuckuck, aus dem weichen Brot den Kopf des alten Forstgehilfen zu kneten. Walkte und knetete mit einem Geschick, daß sich dem Otto Mulz die Sprache versagte; zog eine Nase aus, das Großonkelchen, schnitt zwei Lippen in den Teig und alles haargenau nach dem Original des Forstgehilfen. Lachte dabei und sprach:
„Der wird“, sprach er, „Otto Mulz, genau wie Du. Hoffentlich steckt er nur keinen Forst an.“
„Mir wird es“, sprach Mulz, „unheimlich zumute. Obwohl ich weiß, Heinrich Matuschitz, daß Du manches kannst schnitzen mit deinem Messer, wußte ich doch nicht, daß Du einen Striegeldorfer formen kannst nach seinem Ebenbild.“
Dann sah er atemlos zu, wie Ohr und Kinn entstanden, und zuletzt hielt er zitternd still, als ihm das Großonkelchen ein paar Haare absäbelte und sie an den Brotkopf klebte.
„Pschakrew“, sagte der Forstgehilfe, „wenn ich schon früher so doppelt gewesen wäre, dann hätte einer von mir zuhause bleiben können: die Wilddiebe hätten sich nicht rangetraut, die Frau wäre mir geblieben, ich hätte den Forst nicht angezündet und brauchte hier nicht zu sitzen. Wenn ich, Pschakrew, das alles gewußt hätte.“

Nachdem der Kopf des Forstgehilfen fertig war, fabrizierte mein Großonkelchen sich selbst, und weil das Brot nicht hinreichte, nahm er zur Ausbildung des Hinterkopfes einige Pfefferkuchen, die ihnen, da das liebliche Ereignis unmittelbar bevorstand, hereingeschoben worden waren.
Kaum war er fertig damit, als die Klappe in der Tür fiel und Schneppat, der kurzatmige Aufseher, hereinschaute zum Zweck der Kontrolle. Er schaute wichtigtuerisch, dieser Mensch, und zum Schlusse fragte er in seiner höhnischen Besorgtheit: „Na“, fragte er, „was wünschen sich die Herren zum Heiligen Abend?“
„Schlummer“, sagte mein Großonkelchen prompt. „Wir möchten bitten das Gesetz um langen, ungestörten Festtagsschlummer.“
„Könnt ihr haben“, sagte Schneppat. „Aber da ich nicht hier bin, wird†˜ ich es Baginski sagen, dem Aufseher aus Sybba. Er löst mich ab für zwei Tage. Wer schlummert, sündigt nicht.“

Damit ließ er die Klappe herunter und empfahl sich. Seine Schritte waren noch nicht verklungen, als Heinrich Matuschitz die Brotköpfe hervorholte, sie auf die Pritschen legte, die Decken kunstgerecht hochzog und überhaupt einen unwiderlegbaren Eindruck hervorrief von zwei Herren im Festtagsschlummer. Wehmütig standen sie vor ihren Ebenbildern, ergriffen sogar, und dann sagte das Großonkelchen vor seiner Büste: „Ich grüße dich“, sagte er, „Heinrich Matuschitz auf der Pritsche. Gott segne deinen Schlummer.“
Etwas Ähnliches sprach auch der alte Forstgehilfe, und nachdem sie Abschied genommen hatten von sich selbst, hoben sie das Gitter ab und verschwanden durchs Fenster in Richtung auf das liebliche Ereignis.

Dies Ereignis, es wurde angesungen von den Zöglingen der Striegeldorfer Schule, wurde von Glöckchen verkündet, vom Geruch gebratener Gänse, und ehedem hatte sich an der Verkündung auch der Wind im Striegeldorfer Forst beteiligt. Mein Großonkelchen und Otto Mulz, sie gingen mit sich zu Rate, wie sie das liebliche Ereignis ihrerseits am besten verkünden könnten, und nach schwerer Grübelarbeit beschlossen sie, es durch Gesang zu tun, mit den Zöglingen der Striegeldorfer Schule. Während des Gesanges schon wurden sie teilhaftig der Freude, obwohl die Oberlehrerin Klimschat, die das Singen befehligte, Mühe hatte, die Herren einzustimmen; bei jedem Mal, da sie die Stimmgabel anschlug, lauschte sie verwundert und sprach: „Mir kollert, pschakrew, ein Tönchen nach dem andern von der Gabel runter.“

Na, aber da sie von mitfühlendem Wesen war, ließ sie die Herren singen, und nach dem Gesang gingen diese zu meinem Großonkelchen nach Hause, wo neue Freude bezogen wurde aus gebratenem Speck, aus geräuchertem Aal und, natürlich, aus dem lieblichen Schein der Talglichter. Bezogen soviel Freude, die Herren, daß sie wieder ins Singen verfielen, sangen von dem lieblichen Ereignis, und nach abermaligem Essen suchten die Herren auf dem Fußboden nach einem Festtagstraum.

Träumten angenehm bis zum nächsten Tag, lächelten sich innig zu beim Erwachen und stellten fest, daß man nicht bestohlen worden war um rechtmäßige und zustehende Freude. Und nach solchen Versicherungen beschlossen sie zurückzukehren, in das ansprechende, wenn auch schmucklose Gefängnis, um unnötige Schwierigkeiten zu vermeiden. Machten sich also auf, die beiden, und gelangten alsbald zum Ort ihrer Bestimmung, der bewacht wurde von dem Aufseher Baginski aus Sybba. Dieser Mensch jedoch, wachsam wie er war, entdeckte die Herren, als sie in der Dämmerung durchs Fenster steigen wollten, rief sie drohend an und kommandierte:
„Der Unfug“, kommandierte er, „hat an diesem Haus zu unterbleiben, zumal Weihnachten. Alle Personen zurück.“
Worauf mein Großonkelchen entgegnete:
„Wir fordern nicht gerade, was recht, aber was billig ist. Wir gehören hierher. Wir sind, wenn ich so sagen darf, wohnberechtigt.“
Baginski lugte durch das Fenster, äugte eine ganze Zeit hinein, und dann sprach er: „Die Betten, wie man sieht, sind besetzt. Die Herren schlummern. Da sie sich ausbedungen haben den Schlummer zum Festtag, hat jede Störung zu unterbleiben.“
„Ein Irrtum“, sagte Otto Mulz, dem die Kälte zuzusetzen begann. „Ein reiner Irrtum, Ludwig Baginski, die Herren, die da schlummern, sind wir.“ „Wir möchten“, ließ sich mein Großonkel vernehmen, „die Schlafenden nur austauschen gegen uns.“ Ludwig Baginski, der Aufseher, blickte düster, blickte zurechtweisend, schließlich sagte er: „Meine Augen“, so sagte er, „sie sehen, was nötig ist. Und hier ist nötig Ruhe für zwei schlummernde Herren. Also möchte ich bitten um das, was gebraucht wird zur Erhaltung des Schlummers: Stille nämlich.“
Stellte sich, weiß Gott, gleich ziemlich drohend auf, dieser Ludwig Baginski, und zwang die Herren abzuziehen. Nun, sie zogen davon bis zu den Baumstümpfen des ehemaligen Striegeldorfer Forstes, stellten sich zusammen und, da sie diesmal keinen Grund besaßen zu flüstern, vernahm man Otto Mulz folgendermaßen:

„Napoleon“, so vernahm man ihn, „hatte es schwer auf seinem Weg nach Rußland. Verglichen mit unserer Schwierigkeit, war seine ein Dreck.“
„Man müßte“, sagte Heinrich Matuschitz, „etwas ersinnen.“
„Mäuse“, sagte der alte Forstgehilfe. „Wir werfen Mäuse in das Zellchen, sie werden unsere Köpfe wegknabbern, und wenn wir nicht mehr da schlummern, wird man uns wieder reinlassen, und wir können in Ruhe abbrummen die letzten Wochen.“
„Auch die Mäuse, Otto Mulz, sind zu dieser Zeit angehalten zur Freude. Sie finden mehr als genug. Nein, wir müssen warten, bis Ludwig Baginski sich niederlegt zur Ruhe. Dann werden wir†™s noch einmal versuchen.“

Und das taten die Herren. Sie warteten frierend im ehemaligen Striegeldorfer Forst, und als die Stunde gut war und günstig, schlichen sie zum Gefängnis, stiegen diesmal unbemerkt ein, als die Klappe in der Tür fiel und der Aufseher Baginski argwöhnisch hereinsah.
Es durchfuhr ihn, er grapschte in die Luft und taumelte zurück, und als die Benommenheit sich legte, rannte er nach dem Schlüssel, rannte zurück und schloß auf. Was er sah, waren zwei blinzelnde Herren, die auf ihren Pritschen lagen. Aber Baginski gab sich nicht zufrieden, respektierte keinen Schlummer und keinen Festtag, sagte statt dessen: „Meine Augen, sie sehen, was zu sehen ist. Und sie haben in diesem Zellchen erblickt vier Herren, statt zwei. Demnach möchte ich bitten um Aufschluß über die zwei andern.“
„Wir haben, wie gewünscht, angenehm geschlummert“, sagte Mulz.
„Aber es waren vier, wie meine Augen gesehen haben.“
Darauf sammelte sich mein Großonkelchen und sprach:
„Wenn ich mich, Ludwig Baginski, nicht irre, geschehen zu diesem Termin Wunder auf der ganzen Welt. Warum, bitte sehr, sollte Striegeldorf verschont bleiben von solchen Wundern? Besser, es geschieht ein Wunder als gar keins. Habe ich richtig gesprochen, Otto Mulz?“
„Richtig“, bestätigte der alte Forstgehilfe, und die Herren wickelten sich jeder in sein Deckchen und wünschten sich „gute Nacht“.

Die schönsten Geschichten aus MasurenAus: „Weihnachtsgeschichten aus Masuren“ (Hrsg. Wolf von Lojewski), Mit freundlicher Genehmigung des Gütersloher Verlagshauses.

Wer stimmungsvolle Geschichten liebt und es sich in der Advents- und Weihnachtszeit gemütlich machen möchte, für den ist dieses Weihnachtsbuch genau das Richtige. „Masuren†œ †“ ein Land wie aus einer anderen Zeit, schlicht und bodenständig, dabei voller Überraschungen. „Meinetwegen kann Weihnachten anfangen†œ †“ mit diesem wunderschönen Geschenkbuch auf jeden Fall.

Mit Erzählungen von:

Annemarie von Au, Paul Brock, Ruth Geede, Bogumil Goltz, Michael Kluth, Siegfried Lenz, Agnes Miegel, Hermann Sudermann, Arno Surminski, Christa Wank

Weihnachtsgeschichte beim Deutschen Roten Kreuz schreiben

Mit jedem Wort Gutes tun!

Jeder kann mitmachen bei der Entstehung einer wunderbar wild wachsenden Weihnachtsgeschichte auf der Homepage beim Deutschen Roten Kreuz. Für jedes geschriebene Wort spendet Land Rover 50 Cent an das Deutsche Rote Kreuz.

Eine Aktion, die der Lesekreis gerne unterstützt.

DRK - Weihnachtsgeschichte

DRK Weihnachtsgeschichte1Liebes Lesekreis-Team,

das Deutsche Rote Kreuz wagt sich in moderne Web-Gefilde vor. Nach dem Wiki-Prinzip schreiben die Nutzer seit 1. Dezember unter http://weihnachtsgeschichte.drk.de gemeinsam an einer Weihnachtsgeschichte.

Jeder kann mitmachen. Jeden Tag vom 1. bis 24. Dezember wird ein neues Kapitel freigeschaltet. Die User können schreiben, ändern, korrigieren, diskutieren.

Den Anfang der Geschichte hat der Bestseller- und Drehbuch-Autor David Safier geschrieben (Mieses Karma, Berlin, Berlin).

Für jedes Wort der fertigen Geschichte spendet Land Rover 0,50 Euro an die Auslandshilfe des Deutschen Roten Kreuzes. Unter allen Usern wird zudem täglich ein Hörbuch von Audible verlost.

Links:
Prolog von David Safier: Die Weihnachtsfrau
Die Idee
Spielregeln

Vielleicht ist die Geschichte interessant für Ihre Leser. Für weitere Fragen zur Aktion sind wir natürlich immer zu haben.

Viele Grüße
Patrick Baumann