Seitensprung der Sisterhood – Kerstin unter Drachen

Seitensprung der Sisterhood

Kapitel 1
Kerstin unter Drachen

Wie lange der Flug schon gedauert hatte, wusste Kerstin nicht. Drago und sie waren schon kurz nachdem sie an Bord gegangen waren eingeschlafen. Nun hatte sie Dragos Stimme geweckt und verschlafen öffnete sie die Augen. Es hörte sich an, als würde er Selbstgespräche führen. Da wurde ihr bewusst, dass er telefonierte. Nachdem er bemerkt hatte, dass Kerstin aufgewacht war, verabschiedete er sich kurz und knapp und drehte sich zu ihr.
„Ah, er hat mit seiner Schwester telefoniert“, dachte sie.
„Ja, das habe ich“, beantwortete er ihre Gedanken und zwinkerte ihr dabei zu. An die Gabe des Gedankenlesens hatte Kerstin sich noch immer nicht richtig gewöhnt. Sie streckte sich und hatte plötzlich das Verlangen nach einem großen Pott Kaffee. Mit kleinen Tassen konnte sie nichts anfangen. Gerade als sie Drago bitten wollte ihr eine zu besorgen, kam jemand mit einem Tablett voller kleiner Köstlichkeiten aus dem vorderen Teil der Kabine. Und es duftete nach Kaffee. Kerstin wurde ganz kribbelig. Als sie tatsächlich eine große Tasse Kaffee in den Händen hielt, zeigte sich ein breites glückliches Grinsen auf ihrem Gesicht. Drago lachte laut.
„Was?†œ, fragte sie leicht irritiert.
„Du siehst einfach himmlisch aus, wenn du dich über so etwas Banales wie eine große Tasse Kaffee freust. Ich wusste nicht, dass du so leicht zufrieden zu stellen bist“, neckte er sie. Kerstin ließ sich aber nicht ärgern und streckte ihm nur die Zunge raus. Das war nicht sehr damenhaft, aber ungemein befreiend. Drago lachte wieder. Nachdem sie den ersten Schluck genossen hatte, blickte sie Drago ernst an. Jetzt oder nie, dachte sie im Stillen, schließlich blieb ihr nicht mehr viel Zeit bis zur Landung und bislang war er ihren Fragen nach seiner Familie stets ausgewichen.
„Okay, mein Schatz. Dann erzähl mir doch bitte ein bisschen von deiner Familie und von Neuseeland. Was muss ich beachten. Welches Fettnäpfchen sollte ich besser aus lassen?†œ Sie wusste aus Erfahrung, wenn es irgendwo ein Fettnäpfchen gab, traf sie es bestimmt. Drago lehnte sich in seinem Sitz zurück und blickte aus dem Fenster. Kerstin versuchte seine Gedanken zu lesen, aber er verbarg sie vor ihr. Und das gefiel ihr nicht. Nervös nahm sie einen weiteren Schluck Kaffee. Aber er antwortete noch immer nicht.
„Oh, mein Gott, ist es so schlimm mit mir, dass du nicht weißt, wo du anfangen sollst?“ Leichte Panik stieg in ihr auf. Drago drehte sich zu ihr und nahm ihre Hand.
„Nein, eigentlich sind da keine Fettnäpfchen, in die du treten könntest. Ich möchte dich nur darum bitten, dass du dich nicht zu sehr erschreckst.“ Kerstin schaute ihn verdutzt an. Er konnte die kleinen Fragezeichen in ihren Augen förmlich sehen.
„Nun, es ist so“, begann er, „dass meine Familie seit Anbeginn in einem Vulkan lebt. Er heißt Taranaki. Nun ja, …und sie leben dort so wie sie geboren wurden – also in Drachengestalt. Es ist der einzige Ort, an dem sie sie sich so geben können wie sie möchten.†œ Er machte eine kleine Pause, um Kerstin Gelegenheit für einen Aufschrei oder Ähnliches zu geben, aber sie war völlig sprachlos. „Natürlich wissen einige Bewohner in dem angrenzenden Tal Bescheid†œ, fuhr er fort, „aber sie akzeptieren meine Familie wie sie ist und profitieren von unserer Stärke und genießen unseren Schutz. Ich hoffe, du kannst das verstehen …?“ Sprachlos starrte Kerstin ihn an. Nachdem sie sich wieder gefangen hatte, sagte sie nur:
„Okay, das verstehe ich.“ In Wirklichkeit verstand sie natürlich gar nichts. Sie wusste zwar, dass Drago einer Drachenfamilie entstammte, aber auf die Idee, dass sie es nun mit leibhaftigen Drachen zu tun bekommen sollte, wäre sie nie gekommen. Ermutigt durch Kerstins cooler Reaktion und sichtlich erleichtert, erzählte Drago also weiter.
„Wir zeigen uns äußerst selten einem Menschen in Drachengestalt. Aber auch bei uns gibt es ein paar Exemplare die, nennen wir es mal …unverbesserlich …sind. Dazu gehören meine Brüder, mein Vater und mein Cousin.

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Ich glaube, man könnte sie mit Eigenbrötlern in der Menschenwelt vergleichen.“ Kerstin musste lachen, sie glaubte ihm natürlich kein Wort.
„Ach so, nach dem Motto, entweder du akzeptierst mich wie ich bin, oder du lässt es ?“
„Ja, so ungefähr. Was ich dir damit eigentlich sagen wollte, ist, erschreck dich bitte nicht, wenn dir bei der Begrüßung ein Drache seine Pranke reicht.“ Kerstin strahlte Drago an und gedanklich ließ sie ihn wissen, dass es für sie kein Problem war. Ganz im Gegenteil, sie freute sich inzwischen richtig darauf endlich Dragos ungewöhnliche Familie kennenzulernen. Dargo war offensichtlich ein riesiger Stein vom Herzen geplumpst. Er strahlte sie an, nahm ihr Gesicht in seine Hände und küsste sie leidenschaftlich. Durch die kleinen Fenster des Flugzeugs trafen die ersten Sonnenstrahlen in die Kabine. Beide schauten hinaus und hießen den sich ankündigenden Morgen willkommen. Es war atemberaubend zu sehen, wie sich die Sonnenstrahlen durch die dicken Wolken brachen. Durch einige Lücken in der Wolkendecke konnten sie plötzlich Wälder und Felder erkennen. Genau in diesem Moment erklang über den Lautsprecher die Aufforderung sich anzuschnallen. Kerstin atmete tief durch, denn so langsam wurde sie doch wieder nervös.
Als sie gelandet waren, wartete am Ende der Rollbahn eine große Limousine; genauer gesagt ein Hummer. Kerstin blieb der Mund offen stehen. Sie hatte ja schon viele schöne Autos gesehen, aber dieses war ein besonderes Exemplar. Vor ihnen stand ein original H2 Brabus. Überall glänzte Chrom. Die 28 Zoll Felgen steckten in 325/35er Schlappen. Der Motor lief als sie darauf zu gingen. Sie konnten förmlich die Kraft des 6,2 Liter V8 Motors mit seinen gestärkten 480 PS knurren hören. Die FOX-Sport-Auspuffanlage tat sein übriges dazu. Ein Geräusch, das bei Kerstin in der Magengegend ein angenehmes Kribbeln freisetzte. Drago schob die immer noch verdutzte Kerstin in Richtung Auto und öffnete eine der Flügeltüren, während einer der Angestellten das Gepäck im Heck verstaute. Drago musste über Kerstins Gesicht lachen.
„Ah, also nicht nur mit Kaffee kann man dich zufrieden stellen, sondern auch mit schicken Autos?†œ Aber Kerstin beachtete ihn gar nicht. Auch der Innenraum war ein Traum. Ein cremeweißer Teppich mit Trivlemuster bedeckte den Boden. Farblich dazu passend waren die Pilot-Sitze in Alcantara überzogen. Zwischen den Sitzen waren kleine Tischchen angebracht, die genügend Platz boten, um
Getränke abzustellen. Für angenehmes Licht sorgten eine beleuchtete Bar und ein glitzernder Sternenhimmel.

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Diverse Displays und eine Anlage mit Subwoofer-Lautsprechern rundeten das luxuriöse Ambiente ab. Im Hintergrund war Linkin Park zu hören.
„Äh, wie viel Watt hat die Anlage?“ Eigentlich eine überflüssige Frage, aber Kerstin wollte es genau wissen.
„Oh“, sagte Drago, „ich glaube, so um die 1360 Watt“. Wow, mehr als sie erwartet hatte. Langsam setzte sich der Wagen fast schwebend in Bewegung. Das Fahrwerk war so gut gefedert, dass man keine Bodenwelle spürte. Selbst der Champagner, der in Gläsern bereitgestellt war, schwappte nicht über.
„Das nenn ich mal ein ausgewogenes Fahrgefühl†œ, sagte Kerstin voller Ehrfurcht und strich dabei mit den Fingerspitzen abwesend über den Sitz.
„Hast du dich denn immer noch nicht sattgesehen an dem Ding… ähm … ich meine Auto?“, fragte Drago etwas schnippisch. Als Kerstin Drago ansah, musste sie laut lachen.
„Hey, du bist doch wohl nicht eifersüchtig auf ein Auto? Entschuldige, ja, du hast recht, aber es ist schon sehr lange her, dass ich so einen traumhaften Wagen gesehen habe. Ich habe doch nun mal eine Schwäche für schöne Autos.“ Drago verdrehte die Augen.
„Na klasse, dann werde ich wohl Luft sein, wenn du erst in unsere Garage gesehen hast… Kerstin horchte auf.
„Ihr habt noch mehr Meisterwerke wie dieses hier?“ Ihre Augen glänzten.
„Ja, haben wir. Oh man, hätte ich doch nur nichts gesagt“, antwortete Drago völlig genervt. Kerstin rückte ein Stück näher an Drago heran und legte ihre Arme um seinen Hals. Er nutzte die Gelegenheit und zog sie auf seinen Schoß.
„Sorry, ich wollte dich nicht nerven, wie kann ich das nur wieder gutmachen?“, sagte Kerstin und schaute ihm dabei tief in die Augen. Drago nahm Kerstins Gesicht in seine Hände und küsste sie innig. Sie spürte eine leichte Hitze in sich aufsteigen und küsste ihn leidenschaftlich zurück. Seine Hände wanderten forschend ihren Rücken entlang und verursachten eine leichte Gänsehaut. Kerstin spürte förmlich wie sich jedes einzelne Härchen aufstellte. Plötzlich wurde die Wagentür aufgerissen, die  fast aus den Angeln flog. Völlig überrascht starrten beide hinaus. Ein Schrei war zu hören und jemand kam in das Wageninnere gestürmt.

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Kerstin war im Begriff sich eine einigermaßen gute Verteidigungsposition suchen, als Drago plötzlich laut auflachte. Erstaunt sah sie ihn an und folgte dann seinem Blick zur Wagentür. Da stand doch tatsächlich ein kleiner Drache vor ihnen. Ob männlich oder weiblich ließ sich auf Anhieb nicht so genau sagen. Nicht größer als 1,50 Meter schimmerte er giftgrün, eine orangefarbene Federboa zierte seinen dünnen Hals. Er hatte kleine Flügel, die von der Größe her überhaupt nicht zu dem Rest seines massigen Körpers passten. Mitten im Hummer stehend, nahm er die Position eines albernen US-Talkmaster an, streckte die Hände in die Höhe und rief voller Begeisterung:
„Tadaaa… unser Drago ist wieder da.“ Dabei quietschte er voller Begeisterung und lachte laut. Dann kam er auf Drago und Kerstin zugestürmt, sodass der ganze Wagen anfing zu wackeln. Dass er die beiden in einem ganz intimen Moment gestört hatte, schien er gar nicht bemerkt zu haben. Er hatte nur noch Augen für Drago. Etwas unsanft schob er seinen kleinen massigen Körper an Kerstin vorbei und nahm Drago in seine kurzen massigen Arme. Er quietschte wieder so laut, dass Kerstin sich die Ohren zuhalten musste.
„Oh Drago, bist du endlich mal wieder zu Hause. Hast dich die ganze Zeit nicht gemeldet, du böser Junge. Aber jetzt bist du endlich wieder da †“ wie schööön.“ Er ließ Drago gar nicht zu Wort kommen. Sanft aber bestimmt schob Drago den kleinen Drachen von sich und strahlte ihn an.
„Na, Gunther, meine kleine Tucke. Alles gut im Vulkan?“, fragte Drago. Gunther plusterte seine Bäckchen auf.
„Du sollst mich doch nicht immer so nennen“, antwortete der Drache und boxte Drago in die Rippen. Die vertraute Art der beiden ließ Kerstin schmunzeln. Dann spürte sie Gunthers Blick auf sich und wurde sofort wieder ernst. Er neigte den Kopf zur Seite und forderte Kerstin mit einer Handbewegung auf, sich einmal im Kreis zu drehen. Etwas widerstrebend tat sie es. Als sie ihre Pirouette beendet hatte, strahlten sie zwei riesige bernsteinfarbene Augen an. Kerstin hatte so eine leichte Vorahnung von dem, was jetzt passierte. Sofort legte er seine kleinen Arme um ihre Taille und drückte sie so stark an sich, das Kerstin das Gefühl hatte zu ersticken. Sie erwiderte seine Umarmung, wobei sie sich etwas nach unten beugen musste, da ihr der Drache gerade bis unter die Brust reichte. Die winzigen Stacheln seiner Frisur kitzelten an ihrer Nase. Sie blickte auf das sehr blonde Haar und dann zu Drago. Der zuckte nur mit den Schultern und wartete darauf, dass Gunther sich endlich von Kerstin löste. Aus Erfahrung wusste er, dass es keinen Zweck hatte die unendliche Freude der kleinen Frohnatur zu unterbrechen. So war Gunther nun mal, nichts und niemand vermochte es ihn aus seiner Stimmung reißen. Er hatte immer ein Lächeln und auf den Lippen und plapperte gern wie ein Wasserfall. Endlich ließ Gunther von Kerstin ab und wandte sich wieder an Drago.
„Oh, sie ist so süß. Ein bisschen dünn vielleicht aber, mein Gott, ist die süüüß“, quietschte er wieder. „Hach, wir werden bestimmt gute Freunde, nicht wahr?†œ Erwartungsvoll schaute er Kerstin an und diese konnte nur bestätigend nicken.
„So, nun wollen wir aber reingehen. Die anderen warten auch schon, und du weißt, dass deine Mutter es hasst, wenn man sie warten lässt. Husch, husch.†œ Erst jetzt hatte Kerstin die Möglichkeit sich um zusehen. Der Wagen hatte direkt vor einer Höhle gehalten. Ein riesiges Holztor, das bestimmt 10 Meter in die Höhe ragte und mit imposanten Schnitzereien verziert war, versperrte den Weg. Auf dem Holz waren verschiedene Kampfszenen zu sehen, bei denen Kerstin nicht erkennen konnte, aus welcher Zeit sie stammten. Drago bemerkte ihr Interesse und sagte:
„Das haben unsere Vorfahren anfertigen lassen. Immer wenn einer von ihnen aus einem Kampf zurückgekehrt war und seine Geschichten erzählt hatte, begannen einige der Zimmermannsleute mit den Schnitzereien. Du siehst also einen Teil unserer Familiengeschichte an dem Tor.

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Kerstin hatte seinen Worten gelauscht und war noch immer dabei die kunstvollen Schnitzereien zu betrachten, als Gunther plötzlich zu schnattern begann:
„Wenn die Süße jetzt nicht langsam ihren zarten Hintern in Richtung Eingangshalle schiebt, dann werde ich wirklich böse.“ Dabei versuchte er ein strenges Gesicht aufzusetzen, was ihm aber in Anbetracht seines Aufzugs mit der Federboa nicht ganz gelang.
„Oh Himmel, wir können später noch gucken. Aber wenn wir zu spät zum Dinner kommen, kriegen wir mächtig Ärger mit Tante Margret. Das ist Dragos Mutter. Und glaub mir, Schätzchen, das möchte niemand.“ Kerstin musste grinsen.
„Was macht sie dann? Schickt sie uns ohne Mittagessen ins Bett?“ Gunther drehte sich abrupt zu ihr um.
„Pscht, lass sie das bloß nicht hören. Meine Tante ist noch ein Drache aus der alten Generation. Sie legt sehr viel Wert auf Pünktlichkeit und Etikette. Also, keine Ellenbogen beim Essen auf den Tisch und es wird nicht geschlürft mit der Suppe. Die Unterhaltung wird auf ein Minimum beschränkt und, ach ja, wenn Tante Magret mit dem Essen fertig ist, sind auch alle anderen fertig. Verstanden?“ Kerstin verdrehte die Augen und sah Drago an.
„Das ist jetzt nicht sein Ernst, oder? Sag mir, dass er das nicht ernst meint.“ Drago presste seine Lippen so fest aufeinander, dass nur noch ein kleiner, weißer Strich zu sehen war. Dann brachen Gunther und er in schallendes Gelächter aus. Kerstin war völlig irritiert.
„Was?†œ, fragte sie.
„Das war nur ein Scherz. Natürlich ist meine Mutter eine Drachendame der alten Dekade, aber so staubige Ansichten hat sie nun doch nicht. Gunther macht sich da immer einen Spaß draus. Er und sein Freund George lieben es so ihre Späßchen zu treiben.“ Kerstin blieb der Mund offen stehen.“ Sein-Freund ? Du meinst Gunther ist wirklich…
„Schwul, vom anderem Ufer, eine Tucke – keine Transe, hast du damit ein Problem?“, fragte Gunther leicht gereizt.
„Nein, nein, ich bin nur überrascht“, sagte Kerstin schnell. Und um Gunther davon zu überzeugen, dass ihr das wirklich nichts ausmachte, beugte sie sich zu ihm runter und gab ihm einen dicken Kuss auf die Stirn. Woraufhin er wieder anfing zu quietschen.
„So, das wäre geklärt“, sagte Kerstin, „und nun möchte ich den Rest der Familie kennenlernen.“ Drago nahm ihre rechte Hand, weil an der linken schon Gunther hing, und zusammen gingen sie durch das riesige Tor in eine Halle, deren Ausmaß man kaum beschreiben konnte. Das Tor war schon eindrucksvoll, aber die Halle war gigantisch. In die Wände des Vulkansteins waren lebensgroße Figuren von Drachen, aber auch von menschlichen Gestalten gehauen. Wieder stand Kerstin sprachlos staunend mit großen Augen da.
„Das ist so etwas wie unsere Ahnentafel. Andere haben Gemälde, wir haben Skulpturen.“
Kerstin studierte Dragos Gesicht, aber er schien es diesmal wirklich ernst zu meinen.
„Wow†œ, brachte sie gerade noch heraus, als Gunther sie schon an der Hand zupfte.
„Können wir jetzt weiter oder fällst du gleich in Ohnmacht, bei so viel Familiengeschichte?“, dabei zog er sie schon weiter durch die imposante Halle, deren viele verschieden große Türen auf ein weiteres großen Innenleben deuteten. Der Boden war aus schwarzem Marmor, brennende Fackeln an den Wänden sorgten für ein angenehmes Licht.
Dann standen sie vor einer Flügeltür, hinter der ein angeregtes Gemurmel zu hören war. Kerstin atmete noch einmal tief durch, woraufhin Drago und Gunther gleichzeitig ihre Hände drückten, ganz so, als wollten sie ihr Mut machen. Als die Türen sich öffneten verstummte das Gemurmel und Kerstin sah in einen Saal voller Drachen und Menschen.

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„Oha†œ, dachte Kerstin und versuchte nicht ganz so wie ein Fisch an Land zu gucken. Es gelang ihr nur nicht, und Gunther amüsierte sich über ihren Gesichtsausdruck so sehr, dass er laut anfing zu lachen. Er verstummte jäh, als Drago ihn kräftig in den Arm kniff. Alle im Saal drehten sich zu den Ankömmlingen um, und Kerstin sah in viele lächelnde aber auch in skeptisch dreinschauende Gesichter. Das verkleinerte ihr Unbehagen nicht gerade.
Ein Drache in edler, stahlgrauer und mit zarten Stickereien verzierter Robe kam langsam auf sie zu. Sein Hals zierte ein überdimensionales, kostbares Collier und Kerstin wusste sofort, dass das nur Dragos Mutter sein konnte. Sie hätte es nie für möglich gehalten, dass eine so große Gestalt so graziös schreiten konnte. Hinter ihr hielt sich ein Drache mit einem Smoking-Jackett.
„Das wird dann wohl sein Vater sein?†œ, dachte sie als beide Drachen vor ihnen stehen blieben. In ihren Gesichtern zeigte sich keinerlei Regung. Kerstins Pulsschlag hatte sich auf eine ungesunde Höhe beschleunigt. Sie spürte ein Rauschen in ihren Ohren und wünschte sich, dass ihre Schwestern jetzt bei ihr wären. Angie hätte bestimmt einen passenden Spruch auf den Lippen gehabt, um sie ein wenig aufzuheitern und Doc und Lilli hätten ihr Mut gemacht. Aber so stand sie jetzt alleine mit Drago und einem vor Ehrfurcht erstarrtem Gunther auf der ersten Stufe einer wunderschönen Treppe. Diese hatte Kerstin in ihrer Aufregung zuvor noch gar nicht wahrgenommen.
Im Saal war es mucksmäuschenstill. Kerstin bekam sofort einen trockenen Mund. Ihre Nackenhaare stellten sich auf und ihre Hände fingen an zu schwitzen.
Das, was Kerstin für Dragos Mutter hielt, guckte ihr für den Bruchteil einer Sekunde tief in die Augen und Kerstin erschrak.
Sie konnte die Stimme des Drachen hören und es war ganz bestimmt nicht die Stimme, die Kerstin erwartet hatte.
Sie klang sehr rauchig und tief, fast so, als wenn zu viel Whisky und Zigaretten im Spiel waren. In dem Moment wurde ihr bewusst, dass, wenn sie die Gedanken ihres Gegenübers hörte auch ihr Gegenüber ihre hören konnte. Kerstin wurde knallrot. Da war wieder eins von diesen kleinen hinterlistigen Fettnäpfchen. Dragos Mutter fing laut an zu lachen und zog Kerstin an sich. Auch Dragos Vater lachte. Es war im Gegensatz zu dem Lachen seiner Frau ein ganz normales Männerlachen und erst da begriff auch Drago, dass alles gut war. Kerstin war so überrascht, dass sie am längsten brauchte um zu verstehen, was hier vor sich ging. Noch immer ärgerte sie sich selbst, ihre Gedanken nicht unter Kontrolle gehabt zu haben.
„Meine Liebe, so ein tolles Kompliment hat mir noch niemand gemacht†œ, sagte Dragos Mutter und lächelte ihr aufmunternd zu, „ich danke dir und heiße dich in unserer Familie auf das herzlichste willkommen. Entschuldige bitte, dass ich dich auf die Probe gestellt habe, aber das ist meine Art Menschen kennenzulernen. Ich werde es dir in einer ruhigen Minute noch etwas genauer erklären.“ Kerstins Lächeln als Antwort verunglückte ein wenig, und Gunther schmiss sich auf die Treppe und hielt sich den Bauch vor Lachen.

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Ein ernst drein schauender junger Mann, vielleicht so Mitte zwanzig, kam auf Gunther zu und schaute ihn böse an. Sofort hörte Gunther auf und stand auf. Seine von Lachtränen feuchten Augen, guckten verlegen drein.
„Gunther, ich weiß ja, dass es dir wahnsinnig viel Spaß macht die Leute aufs Korn zu nehmen, aber das hier geht zu weit. Ich möchte, dass du dich bei Kerstin entschuldigst“, sagte der junge Mann. Gunther guckte ihn missmutig, ja sogar ein wenig trotzig an und zog einen leichten Schmollmund. Trotzdem drehte er sich zu Kerstin, verneigte sich ein wenig und murmelte eine Entschuldigung. Der junge Mann räusperte sich kaum hörbar.
„Ach so, ja, also das hier, mit einer Handbewegung zeigte Gunther auf den jungen Mann, „ist George. Er ist mein Freund, Partner und manchmal mein schlechtes Gewissen. Eigentlich für jeden Spaß zu haben, aber heute etwas unpässlich…“ Weiter kam Gunther nicht, weil George ihn in den Schwitzkasten nahm. Nun begann eine wilde Rangelei. Drago verdrehte die Augen und richtete das Wort an seine Eltern.
„Mum, Dad, ich freu mich wieder zuhause zu sein. Und ich danke euch für diesen tollen Empfang. Auch dafür, dass ihr Kerstin von ganzem Herzen in unsere Familie aufnehmt.“ Dragos Mum nahm Kerstins Gesicht vorsichtig in ihre großen Klauen und gab ihr einen für ihre Verhältnisse zärtlichen Kuss auf die Stirn. Das war das erste Mal, dass Kerstin an diesem Abend aufatmen konnte. Es folgte ein großer Begrüßungsmarathon. Dragos Mutter Margret und seinen Vater Alexander kannte sie nun. Jetzt warteten noch Onkel Edwin und Tante Berta, beide in Menschengestalt. Onkel Edwin war der Bruder von Dragos Mutter und eine stattliche Erscheinung. Er trug einen Frack, der ruhig eine Nummer größer hätte sein dürfen. Um seinen Bauch hatte er eine grüne Schärpe gebunden, die alles in Form zu halten versuchte. Seine Frau hatte eine zierliche Figur, aber der Händedruck hätte von einem Holzfäller stammen können. Kerstin versuchte danach unbemerkt ihre Hand auszuschütteln.
Tante Berta trug ein cremeweißes Kleid. Es zierte viele Stickereien in der gleichen Farbe. Ein kleiner Stehkragen und der taillierte Schnitt betonte ihre schlanke Figur. Sie trug ebenfalls eine grüne Schärpe. An ihnen vorbei drängelte sich Cousine Melinda. Ein zartes Wesen mit einem Porzellangesicht. Sie trug ein smaragdfarbenes weit ausgestelltes Samtkleid mit verspielten Rüschen am Dekolleté. Es passte wunderbar zu ihren Augen, die Kerstin überaus arrogant und kühl musterten. Sie schüttelten sich kurz die Hände.
„Okay†œ, dachte Kerstin, „wir werden wohl keine Freundinnen.†œ Melinda drehte sich ohne ein weiteres Wort um und verschwand in der Menge der Gäste.Hilflos schaute Kerstin zu Tante Berta. Diese zuckte aber nur mit den Schultern.
„Melinda wird sich schon wieder beruhigen. Sie ist oft etwas schüchtern.“
„Natürlich, schüchtern†œ, dachte Kerstin und blickte dabei zu Drago. In seinen Gedanken konnte sie hören, dass er sich das Lachen verkniff. Das gab ihr ein klein bisschen Sicherheit. Ihr Blick fiel auf einen kleinen Drachen, der sich hinter einem jungen Mann versteckte. Drago ging auf beide zu und umarmte erst den jungen und dann den kleinen Drachen. Lächelnd drehte er sich zu Kerstin um und stellte ihr die beiden als Carl und Sui vor. Seine Geschwister. In Gedanken teile Drago ihr mit, dass Sui wirklich sehr schüchtern war, und dass er ihr den Grund später erklären wollte. Kerstin nickte ganz leicht und lächelte Sui an. Diese guckte sie mit großen unsicheren Augen an und versuchte es ihrerseits mit einem Lächeln. Ein wenig verkrampft, aber wenigstens ein Anfang.
Nachdem Kerstin die wohl wichtigsten Leute von Dragos Sippe kennengelernt hatte, schwirrte ihr der Kopf. Hoffentlich konnte sie sich die ganzen Namen merken. Um sie ein bisschen abzulenken, nahm Drago ihre Hand und führte sie zur Tanzfläche. Eng an aneinander geschmiegt bewegten sich beide zu der Musik. Drago brach als erster das Schweigen.

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„Ich bin wirklich stolz auf dich. Du hast die Situation mit Bravor gemeistert.“ Ein wenig verlegen schaute Kerstin in Dragos Augen und lächelte. Sie spürte das starke Verlangen mit ihm allein zu sein. Gerade in dem Moment als sie es ihn sagen wollte, unterbrach Gunther ihren Tanz.
„So, jetzt bin ich dran. Ihr habt noch die ganze Nacht.“ Breit grinsend nahm er Kerstins Hand ohne eine Antwort abzuwarten. Auch das leise Knurren von Drago beeindruckte ihn nicht. Seine ganze Aufmerksamkeit galt jetzt nur noch Kerstin. Da es ein langsamer Tanz war, war es Kerstin leicht unangenehm, dass Gunther sie so dicht an sich drückte. Aber ihm war es egal.
„Weißt du eigentlich, dass ich meinen Cousin schon lange nicht mehr so glücklich gesehen habe. Seit, ach keine Ahnung, wie vielen Jahren“, sprach er in ihren Bauch. Da er ihr ja nur bis knapp unter die Brust ging, waren sie bestimmt ein lustiges Paar. Kerstin räusperte sich.
„Er macht mich auch glücklich und ich liebe ihn wie noch niemanden zuvor. Und so langsam fange ich an, seine Familie zu mögen“, sprach sie und wuschelte Gunther durch seine sorgfältig gestylten Haare.
„Hey, mach mir die Friese nicht kaputt. Hast du eigentlich eine Ahnung wie viel Zeit…..“, aber weiter kam er gar nicht. Drago packte ihn unter den Armen und stellte ihn auf die andere Seite der Tanzfläche. Mit einem finsteren Blick zeigte er Gunnar, dass die Zeit um war. Gunther streckte Drago die Zunge raus und warf Kerstin einen Kussmund zu. Dann verschwand er in der Menge.
Es war ein rauschendes Fest auf dem ausgelassen getanzt wurde. Mal modern, mal nach ganz altem Stil, der Kerstin überhaupt nicht vertraut war. Dann wurde zu Tisch gebeten. Das Abendessen war ein Gedicht. Und auch nicht ganz das, was Kerstin erwartet hatte. In einem Nebensaal, den Kerstin zuvor gar nicht bemerkt hatte, war eine riesige Tafel mit erlesenem Porzellan und Silber gedeckt. Die dazu gestellten Wein und Wassergläser funkelten im Einklag mit einem gigantischen Kronleuchter, der über der ganzen Szene hing. Zur Vorspeise gab es drei verschiedene Suppen – eine Krabbensuppe an Kressenschaum, eine Drachensuppe mit viel Chilli und eine Kartoffelsuppe. Letztere war die Leibspeise von Dragos Vater.
Danach gab es einen kleinen gemischten Salat.
Als Hauptgang wurde Spießbraten, Spanferkel und zu Kerstins großem Erstaunen Wiener Schnitzel mit vielen verschiedenen Soßen serviert.
Als Beilage gab es Reis, Kartoffeln, Nudeln, Kroketten und Gratin.
Dazu wurde verschiedenes Gemüse angeboten.
In noch größeres Erstaunen wurde Kerstin versetzt, als sie sah, wie jeder Gast sein Essen selber auf dem Teller anrichtete. Drago erklärte ihr, dass seine Mutter ganz gerne selbst bestimmte, was und wie viel sie aß und deswegen vor vielen Jahren diese Regel aufgestellt hat.
Anfangs stieß die Regel auf Unverständnis bei den anderen Familienmitgliedern. Aber Margret interessierte es nicht. Sie sagte dazu nur:
„Wem es nicht gefällt, braucht ja nicht kommen, dann gibt es weniger zu Spülen“. Als Drago Kerstin das erzählte, leuchteten seine Augen voller Liebe und Wärme zu seinen Eltern. Kerstins Bewunderung und Sympathie für Dragos Eltern wurde immer größer. Als sie ganz kurz zu ihnen hinüberschaute, warfen ihr beide ein freundliches Lächeln zu. Augenblicklich wurde Kerstin rot. Wieder hatte sie vergessen, dass beide ebenfalls Gedanken lesen konnten. Drago fing an zu Lachen und aus Reflex piekste Kerstin ihn mit ihrer Gabel in den Oberschenkel.

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Sie versuchte, finster zu gucken, musste am Ende dann aber doch schmunzeln und beschloss, sich durch ihre eigene Ungeschicktheit nicht den Abend verderben zu lassen.
Als sich das Dinner langsam dem Ende näherte, dachte Kerstin, sie müsste platzen. So viel und so gut hatte sie schon lange nicht mehr gegessen. Aber das Dinner war ja noch nicht vorbei.
Es gab noch Nachtisch und Kerstin wäre am liebsten aus dem Saal geflüchtet.
Als die Dienerschaft mit den kleinen Wägelchen voller süßer Leckereien den Saal betrat, wurde ihr fast übel – aber eben nur fast.
Es gab Schokoladenkuchen mit dicker Schokoglasur, fünfzehn verschiedene Eissorten, wahlweise mit Soße oder mit Sahne, verschiedene Puddingsorten mit oder ohne Obst und den Lieblingskuchen von Kerstin und ihren Schwestern – Käsekuchen. Bei dem Anblick musste sie unweigerlich an Angie, Lilli und Doc denken und fragte sich, ob es ihnen gut ging. Sie nahm sich fest vor, allen so schnell wie möglich eine SMS zu schicken. Sie hatte eigentlich schon viel zu lange nichts mehr von ihnen gehört. Ein leichtes ungutes Gefühl beschlich sie. Drago bemerkte, dass sich Kerstins Stimmung geändert hatte und musterte sie neugierig.
„Nicht jetzt. Später“, teilte sie ihm per Gedankenübertragung mit. Sie wollte die Stimmung am Tisch nicht zerstören.
Nach dem Dessert konnte es Kerstin kaum noch in dem überfüllten Saal aushalten.
Drago schien es genauso zu gehen, denn er machte den Vorschlag, einen kleinen Spaziergang zu unternehmen. Mehr als erleichtert stimmte Kerstin zu. Durch eine kleine Tür gelangten sie in einen schmalen Flur, der zu den Außentüren führte. Draußen war die Luft angenehm klar und warm. Beide atmeten tief durch und genossen die Ruhe, die sie augenblicklich umgab. Der Garten glich einem Park. Umgeben von einigen Statuen, befand sich in der Mitte ein mächtiger Springbrunnen. Die Büsche und Sträucher in der Anlage waren kunstvoll beschnitten und eingerahmt von Blumenrabatten. Als Kerstin zum Nachthimmel sah, erblickte sie unzählige kleine funkelnde Sterne, die ihre Bilder zur Schau stellten. Drago legte zärtlich seinen Arm um ihre Taille, und Kerstin schmiegte sich an ihn. Zärtlich küsste er ihren Hals. Sie genoss die Berührung, da sie allem Anschein nach alleine waren. Sie schaute ihm tief in die Augen.
„Wow, das waren viele neue Eindrücke, die ich da sammeln durfte“, flüsterte sie ihm ins Ohr. Doch Drago war offensichtlich nicht zum Sprechen aufgelegt. Seine Küsse wurden leidenschaftlicher, und Kerstin spürte wieder dieses Prickeln, welches sie immer überkam, wenn sie mit Drago zusammen war. Sie spürte eine Gänsehaut der Erregung auf ihrem Körper. Auch Dragos Erregung war deutlich zu spüren. Leicht neckend biss Kerstin in seine Lippe. Seine Hände glitten an ihrem Rücken entlang. Dann nahm er ihr Gesicht in seine Hände.
„Ich liebe dich“, sagte er mit solcher Inbrunst, dass Kerstin leicht erschauerte.
„Ich liebe dich auch“, hauchte sie zurück.
„Oh, und ich liebe euch beide“, hörten sie plötzlich, und schon kam George hinter einer Hecke hervor. Kerstin und Drago stöhnten gleichzeitig auf.
„Hat man vor dir eigentlich nie seine Ruhe?“, schimpfte Drago. Aber George reagierte darauf nur mit amüsiertem Lächeln.
„Meinst du wirklich, jetzt wo wir Kerstin in unserer Familie haben, könnte ich Ruhe geben? Endlich ist mal jemand da, mit dem ich über Klamotten und Schminke und Gott und Welt ratschen kann. Wir können zusammen Kaffee trinken. Ich weiß ja nicht, wie viel Zeit ich mit ihr verbringen kann, aber ich werde mir jede Minute stehlen, die ich kriegen kann“, gab er trotzig zurück. Kerstin musste bei so vielen ehrlichen Gefühlen schlucken.

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„Ach komm her, du kleine Nervensäge“, sagte sie zu ihm und nahm ihn liebevoll in ihre Arme.
George kuschelte sich an sie und strahlte über das ganze Gesicht.
„Weißt du was, George, ich bin sehr froh, deine Freundin sein zu dürfen.“ Georges Augen wurden groß wie Untertassen. Er quiekte laut auf und schmiss sich sofort wieder in ihre Arme. Drago zuckte nur mit den Schultern und verdrehte die Augen.
„Meinetwegen. Aber nicht 24 Stunden am Tag und schon gar nicht jetzt“, raunzte Drago den kleinen Drachen an. Kerstin lächelte besänftigend, und versprach George, dass sie sich sehr gerne mit ihm am nächsten Morgen zum Frühstück treffen wollte. Sie vereinbarten eine Uhrzeit, und dass George sie von ihrem Zimmer abholen sollte, damit sie sich nicht verlief. George platze fast vor Stolz, doch als er Dragos leichtes Knurren hörte, verstand er die Drohung. Noch einmal schlang er seine kleinen dicken Arme um Kerstin und verschwand ohne Drago eines Blickes zu würdigen. Kerstin sah ihm grinsend nach. Augenblicklich zog Drago sie in seine Arme zurück.
„Dir ist schon klar, dass du George jetzt nicht mehr los wirst? Er wird mehr an dir kleben, als dein eigener Schatten.“
„Sag mal, du bist doch nicht etwa eifersüchtig? Das darf doch nicht wahr sein! Hey, lass ja meinen neuen Freund in Ruhe“, antwortete sie mit gespieltem Ernst. Drago sah sie ungläubig an. Und schon musste Kerstin lachen.
„Mal schauen, ob du in drei Tagen auch noch lachst“, gab er schelmisch zurück. Diese Überlegung hatte Kerstin auch schon beschäftigt, aber das wollte sie im Moment nicht zugegeben.
„Wo haben wir eben aufgehört?“, fragte Drago und bevor Kerstin antworten konnte, küsste er sie. Es war ein sehr langer Kuss voller Begehren. Mühsam löste er sich von ihr.
„Lass uns in unser Zimmer gehen. Noch eine Unterbrechung und ich kann für nichts mehr garantieren“, raunte er in ihr Ohr. Wieder bekam Kerstin eine Gänsehaut.
„Ich möchte auch keine Störung mehr. Können wir irgendwie in unser Zimmer kommen ohne gesehen zu werden?“ Vorfreude blitzte in ihren Augen.
„Hey, ich bin hier aufgewachsen. Ich kenne diese Gemäuer wahrscheinlich besser als seine Erbauer“, gab Drago geheimnisvoll zurück. Er nahm sie an die Hand und führte sie zu einem Rosenbusch. Interessiert beobachtete Kerstin wie Drago das Spalier anfasste und dann nach vorne zog. Sein Grinsen dabei war schon fast spitzbübisch.
„Darf ich bitten, my Lady?“ Mit einer tiefen Verbeugung reichte er ihr die Hand. Dann zog er sie in einen Tunnel, den sie zuvor gar nicht gesehen hatte. Als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte sie das gleiche Mauerwerk wie in der Eingangshalle. Winzige Lichtquellen verliefen auf dem Fußboden. Kerstin umfasste Dragos Hand etwas fester.
„Du brauchst keine Angst zu haben“, sagte er und Kerstin erkannt den leichten Spott in seiner Stimme.
„Hab ich auch gar nicht“, gab sie leicht schnippisch zurück. Drago musste lachen.
„Nein, natürlich nicht. Komm jetzt, sonst zeige ich dir noch hier unten, was ich eigentlich oben alles mit dir machen will.“ Seine Worte klangen wie ein Versprechen und sie hatte das Gefühl, dass der Tunnel nie enden würde. Sie wusste zuletzt nicht mehr, um wie viele Ecken sie gebogen waren, aber sie hatte bemerkt, dass es einen leicht bergauf ging. Endlich gelangten sie an eine Tür.
„Erschreck´ dich jetzt bitte nicht“, sagte Drago und sah sie verschwörerisch an. Das war jetzt nicht sehr beruhigend, aber sie atmete noch einmal tief durch und versuchte sich davor zu wappnen, was da kam. Drago drehte an dem Türknopf und die Tür sprang auf.

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Seitensprung der Sisterhood – Buenos Dias Argentina

Seitensprung der Sisterhood

Kapitel 1
Buenos Dias Argentina

Lilli schlug verschlafen die Augen auf. Sie starrte auf ein Flugzeugfenster, an dem die Blende herunter gezogen war, und sie war kurz orientierungslos.
„Ach ja, ich bin im Flugzeug unterwegs nach Argentinien†œ, dachte sie und lächelte. Sie räkelte sich auf ihrem Liegesitz und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Dann drehte sie sich nach links und schaute in die wunderschönen, braunen Augen von Fernando.
„Hallo, meine Schöne. Hast du gut geschlafen?†œ, fragte er mit einem Grinsen im Gesicht und Lilli konnte deutlich seine Belustigung hören.
„Hallo†œ, seufzte sie, „na los, sag es mir schon. Habe ich im Schlaf geredet, oder habe ich wieder blöde Grimassen gemacht?†œ
Fernando legte seine Hand sanft auf ihre Wange und streichelte sie, während sein Grinsen noch breiter wurde.
„Also geredet hast du nicht viel. Du hast nur „Nando, ich liebe Dich†œ gesagt, und dann hat es sich so angehört, als hätten wir sehr viel Spaß miteinander. Blöde Grimassen hast du auch keine gemacht, ganz im Gegenteil. Was ich in deinem Gesicht gesehen habe, war so wunderschön, dass ich darauf brenne, dir diesen Traum zu erfüllen.†œ
Fernando beugte sich zu Lilli und küsste sie so zärtlich, verheißungsvoll und intensiv, dass sich ein ganzes Heer von Schmetterlingen in ihrem Bauch erhob und ihr Körper überall kribbelte. Er wanderte mit seiner Hand über ihren Rücken, zog sie näher zu sich heran und küsste sie noch intensiver. Er ließ all seine Gefühle, die er für sie empfand, in diesen Kuss und diese Umarmung hineinfließen. Als Lilli all diese Gefühle spürte, war sie so überwältigt, dass ihr die Sinne schwanden und sie den Atem anhielt. Sie gab sich ganz ihren Empfindungen hin, doch Fernando beendete abrupt den Kuss. Lilli schlug verwirrt die Augen auf.
„Atmen†œ, sagte er lächelnd zu ihr.
„Oh, ja†œ, keuchte Lilli, „das hatte ich total vergessen.†œ Sie schaute Fernando mit großen Augen fragend an. Dieser Gesichtsausdruck war einfach zu köstlich und er musste laut lachen.
„Seit wann hältst du denn die Luft an, wenn ich dich küsse?†œ
„Na, seit du mich so küsst.†œ
„Da werde ich in Zukunft wohl etwas vorsichtiger sein müssen†œ, sagte er lächelnd und küsste ihre Nasenspitze.
„Untersteh dich! Ich werde mich schon daran gewöhnen und wenn nicht, kannst du mich ja erinnern weiter zu atmen.†œ
Lilli löste sich von Fernando und reckte und streckte sich noch einmal.
„Wo sind wir eigentlich?†œ, fragte sie ihn.
„Wir sind ungefähr in einer Stunde da†œ, antwortete Fernando.
„Was? Und das sagst du mir erst jetzt! Oh Gott, ich muss mich noch frisch machen, umziehen, die Haare machen, und überhaupt… ich sehe bestimmt aus wie ein alter Besen†œ, rief Lilli und wollte aufspringen, aber Fernando zog sie wieder zu sich zurück und schaute sie mit seinem typischen, belustigten Grinsen an.
„Also, ich würde ja sagen, du siehst aus wie ein flotter Feger, aber ich bin ja auch befangen. Lilli, meine Familie weiß, dass wir schon seit Stunden mit dem Flugzeug unterwegs sind. Die erwarten ganz bestimmt nicht, dass wir wie frisch aus einem Modemagazin entsprungen aussehen. Kann es sein, dass du etwas nervös bist?†œ
Lilli setzte sich auf, verdrehte die Augen und raufte sich die Strubbelhaare.
„Nervös ist gar kein Ausdruck. Mir ist schlecht vor Aufregung. Wir treffen gleich deine Familie. Was ist, wenn ich ihnen nicht gefalle, wenn sie mich nicht mögen…, und dann bin ich auch noch eine Elfe und kein Vampir. Die können mich bestimmt nicht leiden.†œ
Fernando zog sie wieder an sich und nahm sie liebevoll in seine Arme.

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„Lilli, du musst dir keine Sorgen machen. Sie lieben dich jetzt schon. Du bist meine Gefährtin. Ich habe schon ewig auf dich gewartet und nach dir gesucht. Meine Familie weiß, wie sehr ich mir gewünscht habe, dich endlich zu finden. Und jetzt bist du bei mir und machst mich unendlich glücklich. Schon alleine dafür lieben sie dich. Und wenn sie dich jetzt erst einmal gesehen und kennengelernt haben, wirst du ihr Herz vollends erobern. Obwohl…, dass du eine Elfe bist, das könnte schon ein Problem mit meiner Grandma geben.†œ
Lilli schaute Fernando entsetzt an und fing an nervös an seinen Hemdknöpfen zu spielen.
„Ich habe es doch gewußt. Sie hätte lieber, wenn ich auch ein Vampir wäre. Sie kann Elfen nicht leiden. Habe ich Recht?†œ Fernando lachte, nahm Lillis Finger von seinen Knöpfen und küsste sie.
„Nein, ganz im Gegenteil. Meine Grandma ist total vernarrt in Elfen, und wenn ich nicht aufpasse, nimmt sie dich so unter Beschlag, dass ich dich gar nicht mehr zu Gesicht bekomme. Seit sie weiß, dass du eine Elfe bist, ist sie total aus dem Häuschen. Sie kann es gar nicht erwarten, dass wir endlich ankommen.†œ
„Wie, deine Großmutter ist verrückt nach Elfen? Das musst du mir aber mal genau erklären.†œ
„Da müsste ich aber ein bisschen weiter ausholen†œ, sagte Fernando und lächelte Lilli verschmitzt an. Erwartungsvoll sah sie ihn an und kuschelte sich in seine Arme.
„Los, erzähl. Wir haben ja noch eine Stunde bis wir landen.†œ
„Ach, auf einmal haben wir Zeit. Na gut, dann erzähle ich dir mal ein bisschen was von meiner Großmutter Claire und den Elfen†œ, sagte Fernando und schmunzelte.
„Deine Großmutter heißt also Claire. Das ist ein sehr schöner Name und klingt französisch.†œ
„Ja, genau. Meine Großmutter stammt aus Frankreich. Und jetzt bitte keine Unterbrechungen mehr, du weißt, wir haben nur noch eine knappe Stunde Zeit und du willst doch noch zur Kosmetik und zur Modeberatung.†œ
Lilli schnaubte empört und fuhr herum. Doch bevor sie etwas sagen oder machen konnte, hatte Fernando schon mit der einen Hand ihre Handgelenke gefangen, mit der anderen hielt er ihr den Mund zu. Er lachte über das ganze Gesicht, nahm seine Hand von ihrem Mund und drückte ihr schnell einen Kuss auf die Lippen.
„Ja, ich weiß, ich bin ein ganz frecher, unmöglicher Vampir. So, und jetzt sind wir ganz lieb und kuscheln uns wieder in Nandos Arme, damit der endlich die Geschichte erzählen kann.†œ
Von seinem Charme geschlagen, musste auch Lilli lachen und legte sich wieder friedlich in die Arme von Fernando.
„Also,… es war einmal.†œ Lilli zuckte schon wieder.
„Ja, ja schon gut, ich bin jetzt ganz ernst und konzentriert†œ, prustete Fernando raus, während er Lilli in seinen Armen festhielt.
„Meine Großmutter wurde Ende des 13. Jahrhunderts in Frankreich geboren. Meine Urgroßeltern lebten mit ihr in einem Dorf vor den Toren von Bordeaux.

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Urgroßvater Patrick war Steinmetz und kam aus England. Auf der Suche nach Arbeit hatte es ihn nach Bordeaux verschlagen, dass damals noch unter der Herrschaft der englischen Könige stand. Dort lernte er dann meine Urgroßmutter Marie kennen und lieben. Während Patrick am Bau der Kathedrale Saint-André beschäftigt war, arbeitete Marie in den Weinbergen der Umgebung. Sie hatten ein gutes Einkommen, ein kleines gemütliches Häuschen und sehr nette Nachbarn. Als dann noch Claire auf die Welt kam, war ihr kleines Glück perfekt – bis Claire sehr krank wurde. Sie hatte keinerlei körperliche oder seelische Symptome für eine Krankheit, aber sie wurde immer schmaler und blasser. Es war, als würde sie ohne ersichtlichen Grund dahin schwinden. Grandma hat mir erzählt, dass es sich anfühlte wie ein kleiner schwarzer Punkt, der sich immer mehr ausbreitete. Zum Ende hin war ein riesiges schwarzes Loch in ihrem Inneren, das sie fast verschlang. Patrick und Marie machten sich furchtbare Sorgen um ihr kleines Mädchen und gingen mit ihr zu unzähligen Badern und Heilern, aber keiner konnte ihnen helfen. Eines Nachts, auf dem Rückweg von einem dieser Quacksalber, trafen sie auf drei berittene Männer. Zuerst dachten sie, dass sie Räubern zum Opfer fallen würden, aber es stellte sich heraus, dass diese drei Männer zu einer großen Familie gehörten, die nach einer neuen Heimat suchten. Die Männer bemerkten sofort die bleiche, kraftlose Claire in den Armen meines Urgroßvaters und betrachteten sie mit sehr sorgenvollem Blick. Sie fragten, woran das arme Kind leide. Patrick erzählte ihnen, dass sie nicht wussten, welche Krankheit Claire befallen hatte, und dass ihnen niemand helfen konnte. Die drei Männer unterhielten sich kurz flüsternd miteinander und fragten dann, ob sie mit ihnen in ihr Lager kommen wollten, und ob sie versuchen durften Claire zu helfen. Sie hätten eine Ahnung, was mit ihr nicht stimmen könnte. Patrick und Marie hatten zwar Bedenken den Fremden zu folgen, aber sie wollten unbedingt, dass ihr Kind wieder gesund wurde. Also schlossen sie sich ihnen an. Im Lager angekommen, wurden sie von drei Frauen und vier Kindern sehr herzlich willkommen geheißen und zum ersten Mal fiel ihnen auf, dass alle Mitglieder dieser Familie sehr spitze Ohren hatten und ein seltsames Leuchten von ihren ausging. Patrick wich mit der kleinen Claire auf dem Arm zurück und fragte sich, wo sie da wohl hingeraten waren. Marie war schon immer etwas aufgeschlossener und neugieriger als Patrick und so war ihr auch gleich klar, dass sie es hier nur mit Elfen zu tun haben konnten. Sie kannte die alten Sagen über dieses Volk der Anderswelt und deshalb fragte sie dann auch frei heraus, ob sie Elfen wären. Die Elfen hatten sich im Halbkreis um die drei aufgestellt und bejahten mit einem Lächeln Maries Frage. Meine Urgroßmutter nahm Claire aus den Armen von Patrick und legte sie der ältesten Elfe in die Arme und sagte ihr, dass sie alles in ihrer Macht stehende tun sollte um die kleine Claire zu retten. Die Elfe lächelte meine Urgroßmutter an, nickte mit dem Kopf und ging mit dem sterbenden Kind in eines der Zelte. Die anderen Elfen nahmen Patrick und Marie bei den Händen und setzten sich mit ihnen ans warme Feuer. Einer der Elfen erklärte ihnen dann, dass Claire mit schwarzer Magie in Berührung gekommen sein musste und sie dadurch vergiftet wurde. Sie versicherten ihnen aber, dass die Elfe Aramena mit ihrem großen alten Wissen über die Magie Claire heilen könnte. Es dauerte drei Tage bis Grandma von der schwarzen Magie befreit war. Aus Dankbarkeit nahmen meine Urgroßeltern die Elfen dann mit in ihr Dorf und waren ihnen dabei behilflich eine neue Heimstatt zu finden. Ganz in der Nähe des Dorfes konnten sie einen verfallenen Bauernhof mit einem riesigen angrenzenden Waldstück übernehmen. In dem Waldstück fanden die Elfen dann auch eine sehr tiefe, unheimliche Höhle in der noch jede Menge schwarze Magie vorhanden war. Aramena verbrachte Wochen damit diese gefährliche Magie zu beseitigen und niemand wusste, woher die Magie stammen konnte. Meine Urgroßeltern erzählten jedem im Dorf, wen sie da mitgebracht hatten und welche Heilkräfte die Elfen besaßen. Alle Dorfbewohner freuten sich über diese neuen, hilfsbereiten und freundlichen Nachbarn. Es entstand eine tiefe Freundschaft zwischen den Menschen und den Elfen und jeder im Dorf wahrte treu ihr Geheimnis. Aber meine Großmutter war die treueste Freundin der Elfen.

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Wenn sie nicht zu Hause war, war sie bei den Elfen. Diese liebten sie und nahmen sie auf wie eine von ihnen. Meine Urgroßeltern teilten gerne aus tiefster Dankbarkeit Claires Liebe mit den Elfen … So, das war die Geschichte von Claire und den Elfen. Jetzt weißt du, warum meine Grandma so verrückt nach Elfen ist.†œ
Lilli schreckte geradezu hoch, sie war ganz vertieft in Fernandos Erzählung.
„Das ist eine wunderschöne Geschichte. Und wie ging es dann weiter? Was wurde aus den Elfen, wie lernte Claire deinen Großvater kennen und überhaupt wie kam sie nach Argentinien?†œ
Fernando musste über so viel Wissensdurst lachen. Er richtete sich auf und küsste Lilli.
„Das erzähle ich dir ein anders Mal oder besser noch, das kann dir Grandma selbst erzählen. Wir haben jetzt nämlich keine Zeit mehr, wir sind im Landeanflug.†œ Lilli sprang mit entsetztem Gesicht hektisch auf und tippelte aufgeregt vor ihrem Sitz herum.
„Wie …, wo …, was schon?! Aber wir können noch nicht landen, ich bin doch noch gar nicht fertig. Nein, das geht nicht, so steige ich nicht aus dem Flugzeug. Unter gar keinen Umständen.†œ Fernando stellte sich vor sie und musterte sie von Kopf bis Fuß. Er nahm sie in seine Arme und vergrub sein Gesicht in ihren Haaren.
„Du bist wunderschön und siehst einfach umwerfend aus. Nur das grüne Leuchten könntest du vielleicht ein bisschen runter drehen, das sieht ein etwas grell aus.†œ
Lilli drückte ihn von sich weg, machte ein furchtbar empörtes Gesicht und holte tief Luft.
„Ich …,†œ weiter kam sie nicht mehr, denn ihr Protest wurde mit sehr heißen und fordernden Lippen unterbrochen. Fernando liebkoste sie mit seinen Lippen und seiner Zunge, bis ihr wieder der Atem stockte und ihre Beine nachgaben. Sanft ließ er sie auf ihren Sitz sinken und bevor Lilli noch mitbekam, was er da machte, hatte er sie auch schon angeschnallt. Als sie wieder zu Atem gekommen war und die Augen öffnete, saß er neben ihr und hatte sein unverschämt sexy aussehendes Lausbubengrinsen auf dem Gesicht.
„Ich ergebe mich. Du hast gewonnen. Deine Argumente waren absolut überzeugend†œ, seufzte Lilli. In diesem Moment setzte die Maschine auf der Sandpiste auf und rollte langsam aus.
Fernando nahm Lillis Hand drückte sie und lächelte ihr aufmunternd zu.
„Na, meine Schöne? Bist du bereit oder sollen wir lieber noch ein paar Stunden hier drin bleiben?†œ Lilli führte seine Hand an ihren Mund und küsste zärtlich seinen Handrücken.
„Nein, natürlich nicht. Wir können doch deine Familie nicht so lange warten lassen. Ich bin zwar tierisch aufgeregt und nervös, aber ich bin auch unheimlich neugierig auf deine Eltern, deine Großmutter und auf dein Zuhause.†œ Lilli hatte noch nicht ganz ausgeredet, da hatte Fernando auch schon die Tür geöffnet und die Treppe herunter gelassen. Lilli blieb noch kurz, etwas unschlüssig an ihrem Sitz stehen.
„Mensch, wie blöd bin ich denn eigentlich? Ich habe mich mit den schlimmsten Monstern und Verbrechern herumgeschlagen und vor Fernandos Familie mache ich mir fast in die Hose. Ich bin ja wohl total bescheuert†œ, dachte sie und schlug sich mit dem Handballen an die Stirn.

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Fernando, der ihr seine Hand entgegen streckte, schaute sie verblüfft und fragend an. Lilli straffte ihre Schulter, lächelte und ergriff seine Hand.
„Alles klar. Ich habe mir nur ein bisschen Mut zugesprochen.†œ
Nachdem sie mit Fernando den Jet verlassen hatte, musste Lilli ein paar Mal blinzeln, bis sich ihre Augen an das helle Sonnenlicht gewöhnt hatten. Fernando stellte sich vor sie und küsste lächelnd ihre Hand.
„Herzlich willkommen auf der Zoom-Ranch, meinem Zuhause.†œ
Er trat hinter sie, schlang seine Arme um ihre Hüften und legte sein Kinn leicht auf ihren Kopf. Nun hatte Lilli freie Sicht auf ihre Umgebung, und ihr stockte ein wenig der Atem. Vor ihr breitete sich eine unendlich erscheinende Ebene aus. In der Sonne leuchtete die Erde in einem tiefen, warmen Rotbraun und die unzähligen Grasbüschel, mit denen die Erde übersät war, leuchteten in einem satten Grün. Jetzt wusste sie, warum Fernando es so liebte, wenn sie anfing zu leuchten. Das Gras und ihr Leuchten hatten dasselbe Grün, sie erinnerte ihn an seine Heimat.
Einige Meter von ihnen entfernt schlängelte sich ein Bach durch die Ebene. Lilli verfolgte seinen Verlauf bis an den Horizont, wo sie sanft geschwungene Hügel und dahinter Berge erkennen konnte. Auf der anderen Seite des Bachs graste friedlich eine riesige Rinderherde. Zwei Gauchos saßen lässig und locker auf ihren Pferden und umkreisten langsam die Herde. Sie hielten an, nahmen ihre Hüte vom Kopf und schwenkten sie zur Begrüßung. Fernando und Lilli winkten zurück.
„Das sind unsere Vorarbeiter, Sancho und Pancho†œ, erklärte Fernando. Lilli drehte sich abrupt herum und prustete los.
„Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?†œ Fernando grinste über das ganze Gesicht.
„Doch, das ist mein voller Ernst. Und ja, ich weiß, dass du ein absoluter Froschfan bist. Und nein, sie sind nicht grün. Sie sind Zwillinge. Als die beiden auf die Welt kamen, gab es die beiden Comic-Frösche noch nicht. Aber man kann es nicht abstreiten, es gibt frappierende Ähnlichkeiten. Das wirst du sicher noch feststellen.†œ
„Ich kann es kaum abwarten†œ, sagte Lilli lachend. „Sancho und Pancho. Ich kann es nicht fassen.†œ Hinter Fernandos Rücken ließ sich ein ungeduldiges Räuspern vernehmen.
Er nahm Lillis Hände und zwinkerte sie aufmunternd an.
„Und? Bist du bereit für die Familie Zoom?†œ Lilli strahlte und nickte nur kurz mit dem Kopf. Vor einem mächtigen Torbogen aus Holz standen fünf Personen, Fernandos Familie. Dem ersten Anschein nach, waren sie genau so aufgeregt wie sie. Fernando drückte aufmunternd ihre Hand und zog sie mit sich.
„Darf ich vorstellen, das ist meine Familie.†œ Er wandte sich nach links.
„Das ist meine Mutter Angelina Zoom.†œ Eine wunderschöne Frau nickte Lilli lächelnd zu. Sie hatte sehr elegant geschwungene Gesichtszüge, kastanienbraune, glänzende Locken, die ihr bis zur Hüfte reichten und dieselben schönen dunkelbraunen Augen wie Fernando. Lilli dachte sofort an eine Statue der Schönen Helena, die sie einmal gesehen hatte. Nun deutete Fernando auf den Mann an ihrer Seite. Ein echter Richard Gere-Typ mit schwarzen längeren Haaren und silberfarbenen Schläfen stand vor ihr. Das ihr allzu bekannte Lausbubengrinsen umspielte seine vollen Lippen, und seine Augen strahlten eine unheimliche Wärme und Güte aus.
„Das ist mein Vater Frederico Zoom.†œ Auch er nickte Lilli lächelnd zu. Neben Frederico standen zwei Teenager. Sie hatten dieselbe kurze Strubbelfrisur wie Lilli, allerdings waren ihre Haare pechschwarz. Ihre Gesichtszüge ähnelten sehr denen von Fernandos Vater.
„Das sind meine Cousine Annabella und mein Cousin Jaime. Sie leben bei uns seit ihre Eltern bei einem tragischen Unglück ums Leben gekommen sind.†œ Annabella hob etwas schüchtern die Hand und Jaime zwinkerte keck. Nun waren sie bei der letzten Person angekommen und Lilli war sichtlich überrascht. Dass Fernando ihr Grandma Marie vorstellte, nahm sie gar nicht richtig wahr, zu sehr war sie von ihrem äußeren Erscheinungsbild abgelenkt. Da stand doch tatsächlich eine richtige Großmutter mit silbergrauen Haaren, rosafarbenen Wangen und gütigen Augen. Um ihren Mund und ihre Augen versammelten sich sanfte Falten, die von einem langen, erfüllten Leben erzählten.

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Aber wie war das möglich? Vampire und ihre Gefährtinnen alterten doch nicht. Fernando hatte natürlich mit Lillis Reaktion gerechnet, er beugte sich vor und flüsterte ihr ins Ohr.
„Das erkläre ich dir später noch genau.†œ Lilli fasste sich wieder etwas.
„Darauf kannst du Gift nehmen†œ, flüsterte sie etwas bissig zurück. Es ärgerte sie, dass er sie nicht darauf vorbereitet hatte. Nun legte Fernando seinen Arm um Lilli und sah sie voller Stolz und Liebe an.
„Und das hier, liebe Familie, ist sie – meine Lilli. Die Waldelfe Lilliana Ithilia, Hüterin und Königin des Waldes und der Erde.†œ Lilli lief knallrot an, es war ihr furchtbar peinlich, dass Fernando so mit ihr angab. Sie wollte ihm gerade den Ellenbogen in die Seite stoßen, doch dazu kam sie nicht mehr. Sie war von Menschen umringt, die sie in ihre Arme nahmen und rund um sie herum herrschte ein Stimmengewirr, von dem sie nur Bruchstücke wie „froh dich kennenzulernen†œ oder „endlich seid ihr da†œ verstehen konnte. Plötzlich wurden sie von einem lauten Pfiff, der einem Pferdekutscher alle Ehre gemacht hätte, unterbrochen und alle verstummten und traten einen Schritt zurück. Marie trat milde lächelnd zu Lilli und strich ihr fürsorglich über den Arm.
„Lasst sie doch mal Luft holen und ein bisschen zur Ruhe kommen. Sie bekommt ja noch Angst vor euch. Lilli, nimm uns unseren Übermut nicht übel, aber wir sind so überglücklich, dass Nando endlich seine Gefährtin gefunden hat und wir dich kennenlernen dürfen.†œ
Lilli schaute in die Runde und sah nur glückliche Gesichter, die ihr freundlich und liebevoll entgegen lächelten.
„Nein, macht euch keine Sorgen. Ich bin ja so froh, dass ihr mich so überschwenglich begrüßt. Fragt nur mal Nando, ich habe mir vor Angst, dass ihr mich nicht mögen könntet, fast in die Hose gemacht.†œ Fernando fing an schallend zu lachen.
„Ja, das kann ich nur bestätigen. Lilli hatte mehr Angst vor euch als vor den Red Dragons.†œ
Jetzt lachte die ganze Gesellschaft, und Lilli fühlte sich unheimlich wohl und glücklich. Das war eine Familie, zu der sie sehr gerne gehören wollte. Angelina trat zwischen Fernando und Lilli, hakte sich bei ihnen unter und zog sie mit in Richtung Haus.
„Dann lasst uns doch mal reingehen. Ihr wollt euch sicher noch etwas frisch machen und ein wenig ausruhen. Es war ja doch ein langer Flug. Später gibt es dann Abendessen, und anschließend können wir uns noch lange genug unterhalten.†œ Sie drehte sich noch einmal um.
„Frederico, Jaime, kümmert ihr euch bitte um das Gepäck während ich den beiden ihr Zimmer zeige.†œ Fernando schaute seine Mutter etwas verständnislos an.
„Also so lange war ich jetzt auch wieder nicht weg. Ich finde mein Zimmer schon noch alleine.†œ
Angelina lächelte ihren Sohn verschmitzt an.
„Ja, mein Schatz, das weiß ich ja, aber dein Zimmer ist leider nicht fertig geworden. Da wir ja jetzt Familienzuwachs bekommen, dachten wir, dass dein Zimmer wohl ein bisschen zu klein wäre und haben angefangen es umzubauen und zu vergrößern. Es dauert aber noch ein paar Tage, also habe ich die Gästesuite für euch vorbereitet.†œ
„Oh, Mum, ihr seid einfach unmöglich! Aber danke, da bin ich mal gespannt.†œ Lachend liefen sie weiter zum Haus. Lilli ließ sich von den beiden mitziehen und hing ihren Gedanken nach. Sie war unheimlich froh, dass Fernandos Familie sie so herzlich begrüßt hatte, und auch die Ranch gefiel ihr unheimlich gut. Jetzt war sie auf das Haupthaus gespannt, das noch hinter hohen Bäumen und Büschen etwas versteckt lag. Plötzlich lief ihr ein eiskalter Schauer den Rücken hinunter und sie fühlte sich schlagartig sehr unwohl. Dieses Gefühl traf sie so hart und unvorbereitet, dass sie kurzzeitig den Atem anhielt. Fernando und seine Mutter bemerkten davon nichts, sie waren in ihr Gespräch vertieft. Lilli befreite sich sanft von Angelinas Arm, blieb stehen und blickte sich um. Einige Meter oberhalb der grasenden Rinderherde befand sich eine kleine Anhöhe. Von dort spürte Lilli die Quelle ihres Unbehagens, sie spürte abgrundtiefen Hass.

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Sie sah ein sehr edles, wunderschönes schwarzes Pferd, das eine Reiterin trug, die auch ganz in Schwarz gekleidet war. Ihr langes blondes Haar wehte im Wind, und Lilli spürte wie der Blick der Frau sie durchbohrte. Inzwischen waren Angelina und Fernando zu ihr zurückgekehrt.
„Was ist denn, Lilli?†œ, fragte Fernando besorgt und folgte ihrem Blick. Lilli konnte sich von dem Anblick der Frau nicht losreißen.
„Wer ist das?†œ
„Ach, das ist Joana, die Tochter unserer Nachbarn†œ, antwortete Angelina vergnügt, „die wirst du morgen kennen lernen. Wir haben für morgen unsere Nachbarn und Freunde zu einem Barbecue eingeladen. Alle freuen sich schon darauf. Kommt weiter.†œ
Fernando und Lilli drehten sich um und folgten Angelina. Fernando schaute Lilli fragend an.
„Später†œ, flüsterte Lilli ihm zu.
„Na, das kann ja heiter werden†œ, dachte sie und hatte immer noch am ganzen Körper eine Gänsehaut. So einem starken Hass war sie noch nicht oft begegnet. Lilli trottete hinter Angelina und Fernando her und betrachtete beim Laufen ihre Schuhspitzen. Sie war so in ihre Gedanken versunken, dass sie die Umgebung völlig außer Acht ließ. Was hatte das nur zu bedeuten? Warum hasste diese Joana sie so? Vielleicht, weil sie eine Elfe war, oder hatte es etwas mit Fernando zu tun? Wie sollte sie sich bei ihrer nächsten Begegnung verhalten? Da wollte sie sich ein paar Tage ausruhen und den Mann, den sie liebte und seine Familie besser kennen lernen, und dann kam traf sie auf so viel Ablehnung. Was hatte diese Frau nur gegen sie, und war sie gefährlich oder nicht?
Lilli war so vertieft, dass sie gar nicht bemerkte, wie Angelina und Fernando stehen blieben. Sie lief direkt in die beiden hinein und wurde aus ihren Überlegungen gerissen.
„Ups, Entschuldigung! Warum bleibt ihr eigentlich… Oh, wow, das ist ja wunderschön!†œ
Sie standen vor dem Haus der Familie Zoom, einer prächtigen zweistöckigen Villa im spanischen Stil. Das Sonnenlicht ließ die weißen Wände erstrahlen und die Dachziegel leuchteten in dem gleichen warmen Rotbraun, wie die Erde auf der sie standen. Eine breite Treppe führte auf eine Veranda. Gemütliche Clubsessel und Sofas luden dazu ein, es sich auf der Veranda bequem zu machen. Auf der Balustrade, die die Veranda begrenzte, thronten mächtige Säulen, auf denen das Dach ruhte. Wilder Wein und Efeu rankten an den Säulen empor und verliehen dem ganzen Ambiente einen urwüchsigen Touch. Am Ende der Treppe standen eine Frau und ein Mann, die freundlich und erwartungsvoll zu ihnen herunter blickten. Die Frau hielt ein Tablett in der Hand, auf dem mehrere Gläser Eistee standen.

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Fernando legte Lilli den Arm um die Hüfte und flüsterte ihr zu:
„Das sind Conchita und Paco, unsere guten Hausgeister und die Eltern von Sancho und Pancho. Komm, lass sie uns begrüßen, sonst platzen sie noch vor Neugierde.†œ Während Lilli und Fernando sich auf die Treppe zu bewegten, stellte Conchita schnell ihr Tablett auf einem der Tische ab. Kaum standen sie auf der Veranda, da hing die kleine Conchita schon an der Brust von Fernando und umarmte ihn innig.
„Ich bin ja so froh und glücklich, dass du endlich wieder da bist. Und endlich bringst du auch deine Gefährtin mit. Du böser Junge! Solange darfst du nicht mehr wegbleiben.†œ
Fernando lachte und Lillis Gesicht überzog sich mit einer leichten Röte.
„Versprochen, Conchita. Ich lasse mich in Zukunft wieder mehr zu Hause blicken. Aber jetzt möchte ich dir meine Lilli vorstellen.†œ
Conchita löste sich von Fernando und riss sofort die verdutzt Lilli in ihre Arme.
„Ach, lass doch diese Förmlichkeiten. Herzlich willkommen, Lilli. Endlich hat er dich gefunden. Ich bin so glücklich darüber.†œ Conchita lächelte Lilli an und legte ihr zärtlich die Hand auf die Wange.
„Du musst wissen, ich habe das dritte Gesicht. Ich habe von dir geträumt und ich wusste, dass du für Fernando bestimmt bist.†œ Ihr Gesichtsausdruck änderte sich schlagartig. Plötzlich sah sie besorgt aus.
„Aber du bist in Gefahr und ich weiß noch nicht warum.†œ
Lilli wurde blass und schaute Conchita entgeistert an. Aber Conchita hatte schon wieder ihr liebevolles, offenes Lächeln auf dem Gesicht und plapperte munter weiter.
„Mach dir keine Sorgen, mein Engel. Wir passen schon auf dich auf.†œ
Sie wirbelte herum und zog ihren Mann an ihre Seite.
„So, und das mein Schatz, ist Paco, mein Mann. Wenn du irgendetwas brauchst, wende dich an uns. Wir sind immer für dich da. So, und jetzt setzt euch hin und trinkt gemütlich einen erfrischenden Eistee. Ihr müsst ja furchtbar durstig sein†œ
Noch bevor Lilli wusste wie ihr geschah, saßen sie und Fernando in einem der Sessel und beide hatten ein Glas Eistee in der Hand. Conchita war mit Paco verschwunden. Angelina lehnte grinsend an einer Säule und schaute Lilli schaute an.
„Ja, Lilli, ein Tornado ist nichts gegen diese Frau. Aber du wirst dich schnell an sie gewöhnen. Sie ist ein absoluter Schatz und unsere Familie geht ihr über alles.†œ
Angelina stieß sich von der Säule ab und gab Lilli und Fernando einen Kuss auf die Stirn.
„Ich muss mich jetzt wieder um meine Arbeit kümmern. Fernando, ich habe die hintere Gästesuite für euch herrichten lassen. Ihr wollt euch sicher etwas ausruhen. Essen gibt es um acht Uhr. Bis später.†œ
Angelina eilte davon. Fernando drehte sich zu Lilli und musste laut lachen.
„Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich einmal so sprachlos erlebe. Na, es war wohl doch ein bisschen viel jetzt.†œ
Lilli entspannte sich langsam und genoss die friedliche Stimmung auf der Veranda.
„Deine Mutter hat recht, Conchita ist eher wie ein Hurrikan.†œ
Sie ließ sich zurück in den Sessel sinken und nahm einen großen, erfrischenden Schluck Eistee.
„Sag mal, Conchita und Paco sind doch Menschen. Wissen sie, dass ihr Vampire seid?†œ
„Ja, natürlich wissen sie es. Conchitas Familie ist uns schon seit Generationen treu ergeben. Schon ihre Mutter und Großmutter waren bei meiner Familie angestellt. Nein, das trifft es nicht. Sie sind nicht angestellt, sondern wurden eher adoptiert. Sie gehören einfach zu unserer Familie als wären sie mit uns blutsverwandt. Sie haben und hatten alle das dritte Gesicht. Diese Gabe wird anscheinend immer auf die Mädchen vererbt. Auch Conchitas Tochter Rosalia hat die Gabe geerbt. Leider ist sie im Moment nicht da. Sie studiert in Yale und kommt so wie ich nur selten nach Hause. Anfangs war es eine Zufallsbekanntschaft und eher eine Zweckgemeinschaft. Menschen mit besonderen Gaben haben es nicht gerade leicht und lebten früher ja auch sehr gefährlich. Conchitas Großmutter schloss sich aus purem Selbsterhaltungstrieb meiner Familie an und konnte so beschützt leben.

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Aus dieser Zweckgemeinschaft erwuchs dann aber eine tiefe Freundschaft und Liebe zwischen unseren Familien und sie verschmolzen einfach miteinander.†œ
Lilli schaute Fernando jetzt sehr nachdenklich an. Er bemerkte sofort, dass sie etwas sehr beschäftigte. Er legte seine Hand auf ihre und merkte, dass Lilli zitterte.
„Was ist los? Spuck es aus. Es hat was mit Conchitas Bemerkung zu tun, dass du in Gefahr bist, oder?†œ
„Ja, genau und ich glaube, ich weiß auch woher mir Gefahr droht.†œ
Fernando schnellte nach vorne, nahm Lillis Hand fest in seine und schaute sie sehr ernst an.
„Woher?†œ
„Ich glaube von Joana. Vorhin, als wir sie gesehen haben, wurde ich nur auf sie aufmerksam, weil mir ein unheimlich intensives, beängstigendes Gefühl entgegenschlug.†œ Lilli musste schlucken.
„Sie hasst mich. Abgrundtief. So einen starken Hass habe ich bisher selten gespürt, und ich verstehe es nicht. Warum hasst sie mich so und zu was ist sie fähig? Ist es vielleicht, weil ich eine Elfe bin oder hat es mir dir zu tun? Warst du vielleicht mal mit ihr zusammen und sie verkraftet es nicht, dich jetzt mit einer anderen Frau zu sehen? Ich bin absolut ratlos.†œ
Fernando hatte jetzt einen etwas beunruhigten und nachdenklichen Gesichtsausdruck.
„Ich kann mir das auch nicht erklären. Joana ist die Tochter von unseren Nachbarn. Wir sind zusammen aufgewachsen, aber wir hatten nie etwas miteinander. Sie ist für mich wie eine Schwester. Ich weiß aber nicht, ob sie vielleicht Gefühle für mich entwickelt hat. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass sie etwas gegen Elfen hat oder sie sogar hasst. Aber sie ist sicher zu Einigem fähig. Unsere Nachbarn sind auch Vampire. Wenn Conchita Gefahr spürt, müssen wir auf der Hut sein und der Sache auf den Grund gehen. Ich denke, morgen beim Barbecue werden wir wohl Gelegenheit dazu haben.†œ
Lilli seufzte.
„Ja, laß uns morgen der Sache auf den Grund gehen. Ich bin total erledigt und sehne mich jetzt nach einer schönen heißen Dusche und nach ein bisschen Schlaf.†œ
Fernando stand auf und zog Lilli aus ihrem Sessel in seine Arme.
„Ja, wir gehen jetzt in unser Zimmer und lassen das alles ein bisschen sacken.†œ
Er führte sie durch die Tür ins Haus und wußte genau, dass die nächste Überraschung auf Lilli wartete und sie wahrscheinlich ganz umhauen würde. Und er behielt recht.
Sie schritten durch eine sehr großzügige Diele und standen dann in einem riesigen Innenhof, der Lilli den Atem stocken ließ. Rings um den Innenhof führte ein Säulengang, von dem aus die Zimmertüren abgingen. In dem Hof selbst stand eine riesige uralte Eiche, deren Baumkrone den ganzen Hof überdachte. An ihrer Wurzel sprudelte fröhlich eine kleine Quelle. Ein kleiner Bachlauf schlängelte sich über den Boden und verschwand an einer Ecke des Hofes im Erdboden. Vogelgezwitscher erfüllte die Luft und mehrere gemütliche Liegen luden zum Ausruhen und Entspannen ein. Lilli machte sich von Fernando los und ging quer durch den Hof auf die wundervolle Eiche zu. Sie breitete ihre Arme aus und schmiegte sich an den Stamm. Sie schloss die Augen, ihre Finger streichelten zärtlich über die Rinde und sie atmete tief den Duft des Baumes ein. Ein Gefühl des vollkommenen Glücks durchströmte sie und ihr Gesicht bekam einen vollkommen verklärten Ausdruck. Sie war für kurze Zeit nicht mehr auf dieser Welt.
„Ich gehe hier nicht mehr weg. Das ist dir ja wohl klar†œ, sagte sie glücklich lächelnd zu Fernando und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Eiche.

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„Ich dachte, du sehnst dich nach einer heißen Dusche und ein wenig Schlaf†œ, sagte Fernando lachend und ging auf sie zu.
„Ich wusste, dass dir unser Prachtstück gefallen würde. Ich konnte es gar nicht erwarten, ihn dir zu zeigen. Aber das Warten hat sich gelohnt. Du warst noch nie schöner wie gerade jetzt in diesem einen Moment.†œ
Fernando sah Lilli fast ehrfürchtig an und küsste sie dann zärtlich.
„Ich liebe dich†œ, flüsterte Lilli und schlang ihre Arme um seinen Hals.
„Das kannst du mir ja gleich beweisen†œ, flüsterte Fernando, nahm sie auf die Arme und trug sie zu ihrem Zimmer. Lilli zuckte zusammen und ihre Glücksgefühle von eben waren wie weggefegt.
„Entschuldige. Habe ich dir wehgetan?†œ, fragte Fernando.
Lilli sah ihn an.
„Nein. Wieso?†œ
„Du bist doch gerade etwas zusammengezuckt†œ, antwortete er mit einem misstrauischen Gesicht.
„Hab ich dir wehgetan oder hat dich irgendwas erschreckt?†œ
„Nein, es ist alles in Ordnung. Ich weiß nicht, warum ich gezuckt habe. Liegt wahrscheinlich daran, dass ich so kaputt bin. Aber wenn ich jetzt erst einmal geduscht habe und in frischen Klamotten stecke, geht es mir bestimmt wieder besser.†œ
Lilli sah an Fernandos Gesicht, dass er ihr das nicht abnahm, und schon stand sie vor dem nächsten Problem. Sie hatte es die ganze Zeit erfolgreich verdrängt, aber jetzt türmte es sich wieder mächtig vor ihr auf. Sie wusste genau, dass sie es jetzt anpacken musste.

Fortsetzung folgt…

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Seitensprung der Sisterhood – Ankunft in Schottland

Seitensprung der Sisterhood

Kapitel 1
Ankunft in Schottland

Ich war immer noch etwas nervös. Immerhin war ich das erste Mal ohne meine Schwestern unterwegs. Alleine mit Duncan nach Schottland. Duncan… Es war schon merkwürdig – da kannte man jemanden erst einige Wochen, wusste genau, dass man in ihm den richtigen Partner oder Gefährten gefunden hatte, und schon krempelte man sein ganzes Leben um. Natürlich war ich neugierig auf sein Zuhause, ich wusste nur nicht genau, wo das war. Er hatte mir nur gesagt, dass es in der Nähe von Fort Williams lag, wo auch immer das sein mochte. Ich war ja noch nie in Schottland. Er hatte mir eigentlich auch nicht viel über seine Familie erzählt. Nur, dass seine Eltern nicht mehr lebten. In dem Punkt war er sehr ziemlich verschwiegen. Vielleicht war das ja die beste Zeit, um sich besser kennen zu lernen. Denn Zeit hatten wir ja nun endlich genug füreinander. Neugierig sah ich aus dem kleinen Fenster. Unter uns lag eine dünne Wolkenschicht mit einigen Lücken, die ab und zu die Sicht auf das Meer freigab. Es war ein angenehm ruhiger Flug. Duncan war wenige Minuten zuvor von unserem Piloten ins Cockpit gerufen worden, also ließ ich meinen Blick in aller Ruhe durch das Innere der Kabine schweifen. Es war ganz anders als ich es von den Charterflügen gewohnt war. Alles war schön geräumig und komfortabel eingerichtet. Die wenigen Sitzplätze bestanden aus gemütlichen Sesseln, und hatten nichts mit den engen Sitzreihen in der Touristenklasse gemeinsam. An meiner Konsole entdeckte ich einige Knöpfen, die direkt neben der breiten Armlehne angebracht waren. Neugierig drückte ich den ersten und wartete gespannt, was passierte. Oh, das Licht wurde gedimmt. Na ja, das war jetzt nicht so spektakulär, also probierte ich den nächsten aus. Leise Musik erklang. Mh… okay. Beim dritten Knopf entfuhr mir unwillkürlich ein „Huch!†œ, als sich plötzlich die Rückenlehne nach hinten neigte, der Sitz sich in eine bequeme Liegefläche verwandelte, und ich flach auf dem Rücken lag. An der Wand neben mir öffnete sich eine Klappe und ein Brett schob sich mir entgegen, auf dem ein Kissen und eine Decke lagen. Beides nahm ich an mich, und langsam schloss sich die Klappe wieder. Zwei Knöpfe waren jetzt noch übrig. Also probierte ich den vorletzten und konnte beobachten, wie ein Monitor langsam von der Decke herab schwebte, sich etwas nach vorne neigte und auf halber Höhe stehen blieb. Gleichzeitig öffnete sich eine weitere Klappe neben mir und gab einen Blue-Ray Player mit einer großen Auswahl an Discs frei.
„Wow! Also hier kann man es aber aushalten!†œ
Blieb nur noch der letzte Knopf. Tja, und der öffnete eine gut sortierte kleine Bar mit allerhand Leckereien, die ich erst mal ausgiebig begutachtete. Als Duncan wieder die Kabine betrat, war ich gerade dabei, es mir gemütlich zu machen. Er blieb kurz vor mir stehen und musterte mich grinsend. Oh, ich muss wohl ein Bild für die Götter abgegeben haben, denn in einer Hand hielt ich noch die Decke, das Kissen lag schon unter meinem Kopf, und in der anderen Hand hielt ich mindestens 5 von den Discs. Ein halb aufgegessener Schokoriegel steckt zwischen meinen Zähnen und ich lag mit angezogenen Knien, zwischen denen ich eine Dose Coke eingeklemmt hatte, auf dem Rücken. Die Fernbedienung lag auf meinem Bauch.
„Warte meine Süße, ich helfe dir.†œ
Er beugte sich langsam über mich und… biss in den Schokoriegel.
„Mh lecker, süß und cremig. Oh da ist ja noch mehr†œ, murmelte er und küsste mich. Als sein Kuss intensiver wurde, und seine Hand sich unter mein T-Shirt verirrte, ließ ich die Sachen einfach fallen und umarmte ihn.
„Duncan? Der Pilot?†œ, fragte ich leise und knabberte an seinem Ohrläppchen.
„Der ist beschäftigt für die nächsten Stunden†œ, versicherte er mir mit seinen glitzernden dunklen Augen und öffnete den Knopf meiner Jeans….

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Später, sehr viel später, nachdem wir etwas geschlafen und eine kleine Mahlzeit zu uns genommen hatten, schenkte er mir einen Kaffee ein und setzte sich mir gegenüber. Er sah mich ernst an, räusperte sich und fuhr sich mit einer Hand durch seine Haare. Er wirkte seltsam angespannt und nervös.
„Duncan, was ist denn?†œ
Er atmete hörbar aus, nahm meine Hand.
„Tut mir leid, es gibt eine Planänderung.†œ
Ich sah ihn neugierig an.
„Was?†œ
„Ja, wir werden nicht nach Glasgow fliegen, sondern nach Inverness. Ich habe vorhin die Order… also, als der Pilot mich gerufen hat, da war Mythos am Funk. Wir müssen zuerst auf das Anwesen. Nur für ein paar Tage, höchstens zwei Wochen.†œ
Er sah aus dem Fenster und biss die Zähne zusammen.
„Na, so schlimm ist das doch nicht!†œ, dachte ich nur verwundert.
„Und wo ist das Anwesen? Ist es weit weg von Fort Williams, wo immer das auch ist?†œ, fragte ich ihn. Er sah mich immer noch nicht an.
„Das Anwesen liegt in der Nähe von Loch Ness†œ, sagte es dann leise.
Oha, jetzt musste ich doch kichern, hielt mir aber schnell die Hand vor den Mund. Endlich sah er mich wieder an. Gott sei Dank war er nicht mehr so ernst. Und als er meinen amüsierten Gesichtsausdruck sah, musste er sogar schmunzeln.
„Ja, ich weiß, was du denkst. Aber so nahe ist Loch Ness auch wieder nicht. Es tut mir leid Angie, aber es ist wichtig.†œ
Bevor er wieder ernster wurde, umfasste ich sein Kinn.
„Ach, und wenn schon, mir ist es egal. Dann fahren wir eben erst zum Anwesen. Solange wir nur zusammen sind. Duncan, du machst dir wie immer zu viele Gedanken.†œ
„Ja, weil es da noch etwas gibt, was…†œ
Da wurde er von der Stimme des Piloten unterbrochen, der uns über die Sprechanlage zum Anschnallen aufforderte und uns auf die nahende Landung in Iverness hinwies. Ich strahlte Duncan an, küsste ihn schnell, dann zog ich den Gurt fest, schnappte mir seine Hand und sagte feierlich: „Schottland, ich freue mich auf dich!†œ
Minuten später setzte die Maschine sanft auf schottischem Boden auf.
Nachdem wir alle Formalitäten erledigt hatten, und durch den Zoll waren, verschwand unser Gepäck auf geheimnisvolle Weise. Ich sah ihn nur fragend an.
„Oh, das hat alles seine Richtigkeit.†œ
Dann strahlte er mich an, fasste mich an der Hand und zog mich hinter sich her.
„Komm mein Herz, ich möchte dir etwas zeigen!†œ
Er hatte er furchtbar eilig und war kaum zu bremsen, bis ich plötzlich stolperte.
„Hey, langsam! Ich hab nun mal nicht so lange Beine!†œ
„Oh, tut mir leid.†œ
Da hob er mich einfach hoch und trug mich die letzten Meter zu einem kleinen Gebäude.
„Aber deine sind hübscher!†œ, flüsterte er mir ins Ohr und nutze die Gelegenheit, um mir kurz ins Ohrläppchen zu beißen. Wie immer reagierte mein Körper sofort und ein Kribbeln wie bei bei einem elektrischen Stromschlag durchfuhr augenblicklich meinen Körper.
In dem Gebäude blieb er abrupt stehen und ließ mich runter. Dann zeigte er mir, was ihn so in Aufregung versetzt hat.
„Das Angie, ist mein Baby!†œ

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Ich starrte ihn ungläubig an.
„Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder? Ein AUTO? Du nennst dein Auto Baby?†œ
„Meine liebe Angie, das ist kein Auto! Das ist eine Dodge Viper SRT-10! Das Baby hat einen 8,4 Liter Motor, 600 PS und beschleunigt von 0 auf 60 Meilen in 4 Sekunden.†œ
Zärtlich strich er über den glänzenden Kotflügel.
„Auto… tztztz.†œ
Ich verbiss mir mühsam ein Lachen und sagte ernsthaft.
„Natürlich, und so schön schwarz. Hübsche Augen hat Baby ja, muss ich zugeben aber, oh Duncan, dein Baby hat aber breite Füße, und bestimmt auch einen riesigen Durst, oder?†œ
Er runzelte die Stirn und sah mich argwöhnisch an.
„Machst du dich gerade über mich lustig, ja?†œ
Ich hakte mich bei ihm ein und sah ihn unschuldig an.
„Aber ich doch nicht. Ich habe ja nur ein kleines unwürdiges Auto, das mich von A nach B bringt. Aber ich muss zugeben, dein Baby ist wirklich schön. Tja, da kann ich leider nicht mithalten.†œ
Das Auto war wirklich ein Traum, aber bestimmt auch sehr teuer gewesen. Ich seufzte tief.
„Du hast ein Auto? Ich denke, auf der Insel braucht ihr keine†œ, fragte er erstaunt.
„Nicht auf der Insel, aber ich habe noch ein kleines Apartment auf dem Festland, und da steht mein…äh… Erdbeerkörbchen.†œ
„Dein was?†œ
Ja, mein heißgeliebtes Erdbeerkörbchen! Mein Golf 3 Cabrio, in Metallic-Lila!†œ Ich verschränkte die Arme und sah ihn dabei trotzig an.
„Sag jetzt bloß nichts Falsches! Er hat zwar nur 100 PS und auch schon über 200 000 km auf dem Buckel, ein paar klitzekleine Beulchen und hier und da eine kleine Schramme, ab und zu hustet er auch mal, aber er war mir immer treu und hat nie rumgezickt. Er hat ein gutes Herz und eine Seele. Naja, und einen Namen hat er auch†œ, gab ich zögernd zu, „er hört auf den Namen… Alf!†œ
Breit grinsend sah er auf mich herunter. Ich stieß ihn leicht vor die Brust.
„ Oh, schon gut! Wenn ich der Viper die Reifen küsse, darf ich dann auch mitfahren?†œ
„Küss lieber mich, du kleine Verrückte†œ, raunte Duncan kichernd in mein Ohr und setzte mich einfach kurzerhand auf den Beifahrersitz und schnallte mich an. Geschmeidig wie eine Raubkatze glitt er hinter das Lenkrad, startete das Auto und gab Vollgas. Sofort wurde ich in meinen Sitz gepresst und mein Magen und mein Herz trafen sich ruckartig irgendwo in der Mitte. Oh Himmel, wo kann ich mich hier bloß festkrallen? Aah, fragt sich nur, wer hier verrückt ist! Ohne den Fuß vom Gas zu nehmen, fädelte er sich geschickt in den fließenden Verkehr ein und überholte gleich mehrere Autos, und das alles auf der für mich falschen Seite! Eigentlich wollte ich mir die Gegend ansehen, doch die verschwamm vor meinen Augen und ich kniff sie schnell zu. Langsam rutschte ich auf meinem Sitz so tief wie möglich nach unten. Da spürte ich seine Hand auf meinem Oberschenkel.
„Entspann dich, Angie und genieße die Fahrt!†œ
Ich ahnte sein Lächeln mehr, als dass ich es sah. Genießen? Ja klar! Moment mal! Wenn eine Hand auf meinem Bein lag, dann …
„Duncan! Willst du, dass ich einen Herzinfarkt bekomme? Nimm deine Hand da weg und tu sie dahin, wo sie hingehört!†œ, schrie ich in Panik und riss erschrocken meine Augen auf.
„Wir können keinen Infarkt kriegen†œ, stellte er trocken fest. Dann seufzte er und drosselte die Geschwindigkeit auf ein erträgliches Maß.
„Also gut mein Herz, weil du es bist.†œ
Beruhigend tätschelte er mein Bein.
„Schade, ich fahre gerne schnell!†œ
„Danke. Tut mir leid, aber ich habe mit hohen Geschwindigkeiten so meine Probleme†œ, gestand ich kleinlaut. Ich lehnte meinen Kopf an seinen Arm.
„Sag mal, wie passt du überhaupt in dieses Auto?†œ
„Spezialanfertigung.†œ

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Ich musste lachen und sah dann interessiert aus dem Fenster. Der Himmel war leider bewölkt. Wir hatten Inverness schon weit hinter uns gelassen und befanden uns auf einer einsamen Straße, die sich durch die Landschaft schlängelte. Plötzlich sah ich etwas Ungewöhnliches.
„Halt mal schnell an!†œ, rief ich überrascht aus.

Duncan trat abrupt auf die Bremse. Der Gurt verhinderte zum Glück, dass ich mit der Nase auf das Handschuhfach schlug.
„Was ist?†œ, rief er und sah mich erschrocken an.
„Schnell!†œ Ungeduldig riss ich an dem Türgriff und sprang aus dem Auto ohne auf ihn zu warten. Ein, zwei Schritte neben der Straße blieb ich stehen, und als ich ihn hinter mir spürte, deutet ich nach vorne.
„Sieh` doch mal! Ist das nicht wunderschön?†œ
Er umschlang mich mit seinen Armen, drückte mich an sich und lehnte sein Kinn auf meinen Kopf.
„Habe ich tatsächlich gesagt, wir können keinen Infarkt kriegen? Angie, mach das nie wieder!†œ Er seufzte tief.
„Ob ich mich je an deine kleinen Verrücktheiten gewöhnen kann, bezweifele ich stark. Mit dir wird es jedenfalls nie langweilig.†œ
„ Na das hoffe ich doch! Aber das war es doch wehrt.†œ Wir standen auf einer kleinen Anhöhe, von der aus wir die vor uns liegende Landschaft weit überblicken konnten. Grüne Hügel wechselten sich ab mit kleinen verstreuten Wäldern. In der Ferne sahen wir einige schneebedeckte Bergspitzen. Hier und da erkannten man einige Gebäude und steinerne Ruinen, die vor vielen Jahren mal eine Burg gewesen sein mussten. Kleine graue Straßen schlängelten sich durch die Landschaft und unterbrachen das satte Grün. Die Sonne hatte die Wolkendecke teilweise durchbrochen und das Spiel von Licht und Schatten erzeugte den Eindruck, als ob die Landschaft unter uns in Bewegung war. Es sah so aus, als würden auf einem grünen Meer kleine Wellen tanzen und die Oberfläche dadurch bewegen. Dort, wo die Sonnenstrahlen auf einen der vielen kleinen Seen trafen, glitzerte die Oberfläche wie eine unregelmäßige polierte Silbermünze. Es wehte nur ein leichter Wind. Ich lehnte mich zurück an seine Brust, eingehüllt von seinem Duft, genoss ich seine Nähe, das Naturschauspiel und diesen für mich vollkommenen Augenblick. Ich wünschte mir nur, ihn irgendwie festhalten zu können, damit ich mich immer wieder daran erinnern konnte. Dann drehte ich mich zu ihm um, sah ihn begeistert an und flüsterte:
„Weißt du eigentlich, wie schön dein Land ist?†œ
Er sah mich liebevoll an, strich meine Haare behutsam aus dem Gesicht und küsste mich leicht auf den Mund.
„Eigentlich schon, nur habe ich es lange nicht so gesehen und Einiges viel zu schnell vergessen, da ich lange nicht hier war. Es ist schön, ab und zu daran erinnert zu werden. Besonders wenn die Sonne mal scheint. Es freut mich, dass es dir gefällt.†œ Doch dann sah ich etwas Ungewöhnliches in der Ferne aufblitzen. Bei näherer Betrachtung sah es aus wie ein Kreis, ein sehr großer Kreis, der aus Steinen bestand die von innen heraus zu leuchten schienen.
„Was ist das?†œ, fragte ich ihn.
„Mh, das müsste der Feenring in der Nähe des Anwesens sein. Es ist nämlich nicht mehr so weit bis dahin, höchstens noch ein paar Meilen. Komisch. Normalerweise zeigt er sich nicht so offensichtlich, besonders tagsüber nicht. Sterbliche können ihn nicht sehen. Nur in der Nacht zur Sommersonnenwende, dann, wenn er am intensivsten leuchtet, können Menschen, die sensibel genug für mystische Dinge sind, manchmal ein helles Schimmern erkennen. So ein leuchtender mystischer Ring ruft die Feen in der Umgebung zu einer Versammlung in der Morgendämmerung zusammen, wenn ihre Kräfte am stärksten sind.†œ
Oha, Feen! Unwillkürlich fröstelte ich.
„Stimmt was nicht?†œ, fragte Duncan sofort.
„Wir Hexen haben eigentlich immer ein natürliches Misstrauen Feen gegenüber. Diese Wesen sind uns zwar ziemlich ähnlich, sie leben auch im Einklang mit der Natur und beziehen einen Teil ihrer Energie für ihre Magie aus ihr, so wie wir, aber sie sind vollkommen undurchschaubar, rätselhaft und manchmal können sie auch sehr rücksichtslos und grausam sein. Wenn wir Hexen uns etwas von der Natur nehmen, geben wir immer etwas zurück. Sei es eine Dienstleistung, einen Gefallen oder einen Teil von uns selbst – wie bei einem Tauschgeschäft.†œ
„Was denn von euch?†œ, fragte er interessiert.
„Ach meistens sind es nur einige Haare. Feen geben nie etwas freiwillig von sich her. Sie sind… können sehr besitzergreifend und arrogant sein, nicht alle, aber eben ein großer Teil von ihnen. Und Feen haben Flügel†œ, fügte ich noch bedauernd und ein bisschen neidisch hinzu.
Duncan lachte leise.

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„Ich liebe dich auch ohne Flügel, mein Herz. Außerdem brauchst du doch keine, du kannst ohne sie fliegen.†œ Ich seufzte. „Stimmt schon, aber so ein paar Flügel sehen so hübsch aus.†œ Wieder lachte er leise und meinte dann ernster: „Aber diese Sache ist schon sehr merkwürdig. Wir haben doch erst späten Nachmittag. Na ja, was soll`s, das Rätsel werden wir jetzt sowieso nicht lösen. Die Sonne ist schon wieder hinter den Wolken verschwunden. Komm, steigen wir ein, wir müssen weiter.†œ
Nach wenigen Meilen durch die schöne schottische Landschaft verlangsamte er die Fahrt plötzlich und bog in einen kleinen unbefestigten Weg ein. Kurze Zeit später hielt er an, drehte sich zu mir und küsste mich auf die Wange.
„So, mein Herz, wir sind da.†œ
Ach ja? So aufmerksam ich mich auch umschaute, ich sah… nichts! Von dem Anwesen oder überhaupt irgendeinem Gebäude keine Spur. Nur einige niedrige Bäume standen sehr nahe an dem Weg. Fragend sah ich ihn an, doch er öffnete nur sein Fenster und streckte seinen Arm aus, um einen der Bäume mit der flachen Hand zu berühren. Was dann Sekunden später passierte, raubte mir schier den Atem! Genau vor uns erschien wie aus dem Nichts ein riesiges schmiedeeisernes schwarzes Tor, an dessen Streben viele Mystische Figuren und Zeichen angebracht waren, die so kunstvoll und filigran gearbeitet waren, das jeder Betrachter glaubten musste, dass sie lebendig waren und sich bewegen würden. Ein Drache zum Beispiel warf seinen spitzen Kopf in den Nacken und spie Feuer in den Himmel, während ein Werwolf, der auf seiner Schwanzspitze saß, den Mond, der über ihm schwebte, anheulte. Daneben lag ein Kobold unter den Klauen eines wunderschönen Phönix, der in seinem gebogenen Schnabel ein goldenes Ei trug. Auf einem seiner ausgebreiteten Schwingen saß ein lächelnder Gargoyle. Doch mir blieb wenig Zeit dieses Tor zu bewundern, denn schon schwang es auf. Als es zur Seite glitt, hatte ich das Gefühl, als wenn mich die Figuren neugierig mit ihren Augen verfolgen würden. Mir wurde es etwas unheimlich und ich rückte näher zu Duncan.
„Ist der Baum eine Art Schloss, und du bist der Schlüssel?†œ, fragte ich ihn. Er grinste ein bisschen überheblich.
„So etwas Ähnliches. Wir nennen es Molekular-Bioscanner.†œ Als ich die Augen verdrehte, lenkte er ein.
„Okay, ein Schlüssel.†œ Doch dann wurde meine Aufmerksamkeit abgelenkt – das offene Tor gab die Sicht auf etwas Gigantisches frei.

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„Wow!†œ, entfuhr es mir, denn genau vor uns ragte eine riesige Hausfront, die mindestens 25 Meter hoch und aus rotem Backstein gemauert war, empor. Oben auf den breiten Dachzinnen hockten Gargoyles. Sie grinsten mit ihren furchterregenden Fratzen auf das Anwesen. Unheimlich! Wir fuhren in Schrittgeschwindigkeit auf einem gepflasterten Weg durch einen steinernen Rundbogen auf einen kleinen Park zu. Es sah so aus, als hätte man die schönsten Elemente der Universitätsgebäude aus Oxford, Cambridge und Yale hierher geschafft, zwischen den ganzen Bäumen und Blumenrabatten neu angeordnet und so einen einmaligen Campus geschaffen. Ich war einfach überwältigt! Der Anblick war wunderschön, besonders, da alles durch die einsetzende Abenddämmerung in ein warmes Orange getaucht war. Mit offenem Mund starrte ich aus dem Fenster. Wir fuhren auf einen großen, schwarzen Gedenkstein in der Mitte des Parks zu, dann bog Duncan nach rechts ab und hielt vor einem zweistöckigen grauen Gebäude. Über dem Eingang war eine steinerne schwarze Orchidee angebracht.
„Das ist das Haus des Ordens. Darin sind unsere privaten Apartments. Die Verwaltung, das Trainings- und Schulungszentrum ist dort drüben. Alle Gebäude sind miteinander verbunden. Sei es nun ober oder unterirdisch. Und ganz weit hinten, das ist von hieraus nicht zu sehen, liegt die Stadt der Zwerge†œ, erklärte mir Duncan und deutete nach links auf die anderen Gebäude. Stolz schwang in seiner Stimme mit, und er war offensichtlich sehr glücklich darüber, endlich mal wieder zu Hause zu sein.
„Aber lass uns erst mal reingehen, morgen ist auch noch ein Tag, dann zeige ich dir alles†œ, sagte er zu mir und stieg aus dem Auto um mir die Wagentür zu öffnen. Beim Aussteigen hörte ich jemanden mit einer ganz aufgeregten Stimme rufen.
„Sir! Sir Duncan! Habe ich doch richtig gehört! Wie schön, Sie wieder hier zu haben, Sir.†œ Die Stimme gehörte zu einem kleinen rundlichen Mann mit Pausbacken und dichten grauen Haaren, vermutlich ein Zwerg, der einen mit Öl verschmierten Arbeitsanzug trug und mit einem Schraubenschlüssel winkte. Er strahlte über sein ganzes Gesicht und lief auf uns zu. Seine blauen Augen leuchteten regelrecht. Er ergriff Duncans Hand und schüttelte sie kräftig. Dann jedoch ließ er sie schnell los und streichelte der Viper behutsam über die Motorhaube.
„Ah, der Sir hat auch Baby mitgebracht. Wie schön! Na, meine Liebe, hat er dich auch gut behandelt?†œ Hä? Duncan lachte laut, als er meinen ungläubigen Gesichtsausdruck bemerkte und legte den Arm um mich.
„Darf ich dir Henry vorstellen? Er ist für unseren gesamten Fuhrpark zuständig. Henry? Das ist Angie, meine Gefährtin.†œ
„Oh! Verzeihung, Mylady. Freut mich wahnsinnig, Sie endlich kennen zu lernen†œ, beeilte er sich zu sagen, wischte seine Hände an seiner Hose ab und schüttelte mit der gleichen Begeisterung meine Hand. Er hatte ein offenes, freundliches Gesicht, und ich mochte ihn gleich. Entschuldigend fügte er noch ein bisschen verlegen hinzu:
„Ich habe Baby und den Sir doch so vermisst.†œDuncan schüttelte nur lachend seinen Kopf und warf ihm die Autoschlüssel zu.
„Dann bring Baby mal schön vorsichtig ins Bettchen. Und ich habe dir doch schon hunderte Mal gesagt, lass endlich den „Sir†œ weg!†œHenry ließ den Schraubenschlüssel einfach fallen und fing geschickt die Autoschlüssel auf.
„Natürlich, Sir, kommt nicht wieder vor, Sir. Versprochen, Sir.†œ Ohne uns noch eines Blickes zu würdigen, klemmte er sich hinter das Lenkrad und startete das Auto. Strahlend nickte er und gab Vollgas. Duncan zuckte merklich zusammen.
„Vor…!†œ Doch Henry war schon mit quietschenden Reifen um die Ecke verschwunden.
„… sicht†œ, flüsterte er und sah seiner geliebten Viper bekümmert hinterher. Ich verdrehte stöhnend die Augen und knuffte ihn leicht.
„Oh nein, noch ein Verrückter! Können wir jetzt bitte…?†œ Ich war total erschöpft von der langen Reise und wollte mich nur noch ausruhen.

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„Natürlich. Ach, ich weiß ja, dass Baby bei ihm in guten Händen ist. Aber er ist manchmal ein bisschen zu stürmisch. Du hast recht, gehen wir rein. Ich nehme an, Mary wartet schon auf uns†œ, unterbrach er mich und schob mich in Richtung Eingangstür.
„Moment mal, wer ist denn Mary?†œ, fragte ich ihn misstrauisch und blieb einfach stehen. Er drehte sich zu mir.
„Sie ist … sie sorgt für uns, also für uns Brüder. Keiner weiß genau wie alt sie ist. Sie war die Nanny von meinem Vater und dann von mir und…, jedenfalls ist sie mit mir auf das Anwesen gezogen.†œ In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen und eine kleine hagere Frau mit kurzen, sorgfältig frisierten grauen Haaren stand mit strenger Miene vor uns.
„Unpünktlich und zu spät! Nun ist das Essen verdorben!†œ
Ihre dunklen Augen sahen Duncan tadelnd an. Mich beachtete sie gar nicht. Duncan ließ sich nicht im Geringsten davon beeindrucken, sondern umarmte die kleine Frau und wirbelte sie herum. Dann küsste er sie auf beide Wangen.
„Ich freue mich auch, dich zu sehen, Mary!†œ Er drehte sich mit ihr zu mir und zwinkerte mir zu.
„Das ist meine Angie.†œAls er sie wieder auf den Boden gestellt hatte, streckte ich ihr freundlich meine Hand entgegen, die sie nach einigem Zögern auch ergriff. Mit einem unterkühlten Blick musterte sie mich. Unbehaglich wurde mir plötzlich bewusst, dass ich nach der Reise bestimmt wie ein zerrupftes Huhn aussehen musste. Dann sah sie mir tief in die Augen ohne meine Hand loszulassen.
„Sie ist keine Vampirin! Sie ist eine…†œ, flüsterte sie leise.
„Ja, ich bin eine Hexe, gut, nur eine halbe. Die andere Hälfte ist menschlich, aber ich bin stolz darauf!†œ Trotzig sah ich sie an, obwohl ich ein bisschen von ihrem skeptischen Blick verunsichert war, und entzog ihr meine Hand. Langsam schüttelte sie den Kopf und murmelte leise vor sich hin.
„Menschlich … das kann doch nicht sein…†œ Dann wandte sie sich wieder an Duncan.
„Hübsch ist sie ja, und auf den Mund gefallen auch nicht. Aber da ist noch etwas anderes in ihr…†œ
„Mary! Das reicht jetzt!†œ, knurrte Duncan bedrohlich und legte seinen Arm um mich.
„Ja, ja, schon gut. Ich sag ja nichts mehr. Los, rein mit euch! Mal sehen, was ich von dem Essen noch retten kann.†œ Ich konnte plötzlich ein Gähnen nicht mehr unterdrücken und wankte ein bisschen vor Müdigkeit. Duncan nahm mich vorsorglich am Arm und ging mit mir durch die imposante Eingangshalle hinter Mary her, die uns den Vortritt in einen sehr schönen Raum ließ. Ein hübsch gedeckter Tisch lud uns ein und wir setzten uns gegenüber. Mary verschwand in einem Nebenraum und so konnte ich ihm endlich die vielen Fragen stellen, die mir auf der Zunge brannten.
„Duncan, sag mal, warum konnte ich das Anwesen nicht von Anfang an sehen? Das ist bestimmt eine Art Schutzzauber, den ich nicht kenne, richtig?†œ Er nickte zustimmend.
„Und warum braucht ihr hier sowas überhaupt? Damit nicht Unbefugte aus Versehen über das Anwesen stolpern – also Spaziergänger und Touristen?†œ Wieder nickte er nur.
„Und was hat Mary gegen Hexen? Oder hat sie nur was gegen mich persönlich? Oh, vielleicht mag Mary mich ja nicht, weil wir zusammen sind? Liege ich richtig?†œ Kopfschütteln seinerseits.
„Ach ja, und der Feenring, was hat der hier zu bedeuten? Weißt du, dass ich gleich umfalle vor Müdigkeit? Es könnte aber auch der Hunger sein! Oh, aber was ich bis jetzt von dem Anwesen gesehen habe, gefällt mir! Besonders die Rosenbeete… oder mag Mary mich nicht, weil sie was Besseres für dich gewollt hatte? Der Raum hier ist aber hübsch eingerichtet. Antik und modern, eine sehr gelungene Mischung. Ist das euer Esszimmer? Also, für euch Brüder jetzt? Muss wohl so sein, bei dem langen Tisch hier, an dem wir sitzen. Hier passen ja mindestens 20 Personen dran. Oh, dann sind eure Apartments oben? …Duncan, warum sagst du denn nichts?†œAmüsiert betrachtete er mich. Dann breitete er einladend seine Arme aus.
„Komm her, bevor mir noch schwindelig wird.†œ Schnell setzte ich mich auf seinen Schoß und kuschelte mich an ihn. Oh man, der Jetlag hatte mich voll im Griff! Ich rieb meine Nase an seinem Hals und die Wirkung ließ nicht lange auf sich warten. Wie immer beruhigten mich sein Duft und seine Nähe.
„Ich weiß, ich plappere, aber ich bin so schrecklich müde. Tut mir leid.†œ
„Muss es nicht. Also zunächst einmal, Mary mag dich! Sie ist manchmal etwas ruppig, hat aber das Herz auf dem rechten Fleck. Das wirst du merken, wenn ihr euch erst besser kennengelernt habt.†œ

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Oh nein, dann möchte ich aber nicht in ihrer Nähe sein, wenn sie mal so richtig sauer ist! Doch gerade als er anfing mich zu küssen, kam Mary rein und stellte eine große Schüssel mit einem deftigen Eintopf auf den Tisch. Schnell sprang ich von seinem Schoß auf meinen Platz zurück. Ich kam mir wie ertappt vor. Und als mein Magen auch noch anfing laut zu knurren, wurde ich prompt rot! Sie verteilte das Essen und setzte sich mit ihrer unergründlichen Miene an das andere Ende des langen Tisches. Unauffällig schnupperte ich über meinem Teller. Das roch aber merkwürdig! Duncan jedoch strahlte.
„Danke Mary. Mein Lieblingsessen, Lammtopf! Weißt du, Angie, Mary macht den besten Lammtopf der ganzen Welt.†œEr zwinkerte mir verschwörerisch zu und fing an zu essen. Ja klar, das hat ja gerade noch gefehlt! Ich mochte kein Lamm, noch nie, und egal wie auch immer es zubereitet wurde, es schmeckte mir nicht. Aber wenn ich es mir mit ihr nicht ganz verderben wollte, musste ich da durch… irgendwie. Also nahm ich einen Löffel voll, kaute schnell und spülte alles mit einem großzügigen Schluck Wasser hinunter. Ich atmete tief durch und lächelte etwas mühsam. Stumm beobachtete sie uns. Ich nahm mir von dem Brot, das nun wirklich sehr lecker war und wandte mich wieder meinem Teller zu. Doch nach dem zweiten Löffel und zwei Gläsern Wasser konnte ich nicht mehr, der Geschmack war einfach schrecklich.
„Puh, jetzt bin ich aber satt. Ich schaffe keinen Bissen mehr. Schade, es ist köstlich Mary†œ, log ich und schob den Teller zu Duncan.
„Es hat Ihnen überhaupt nicht geschmeckt!†œMary sah mich durchdringend vom anderen Ende des Tisches an. Dann stand sie auf, kam langsam auf uns zu, nahm meinen noch vollen Teller in die Hand und… fing an zu lachen. Unsicher sah ich sie an. Ihr Blick hatte sich total verändert, selbst ihre Augen lächelten mich warm an. Was war das jetzt? Ein Trick? Schnell entschuldigte ich mich.
„Tut mir wirklich Leid, aber ich mag nun mal kein Lamm.†œ Sie schüttelte leicht den Kopf.
„Ich auch nicht. Das Zeug ist nur widerlich. Aber danke, dass Sie es versucht haben. Duncan liebt es. Er hat schon einen merkwürdigen Geschmack was das Essen angeht, nicht wahr?†œ
„Oh ja, wenn ich an das Haggis denke, was er mir mal aufgetischt hat!†œ Und ich erzählte ihr von dem Frühstück, das er mir auf der Seraphim serviert hatte. Die pikanten Details ließ ich natürlich weg. Sie sah ihn ungläubig an, doch er ließ sich nicht stören, sondern nahm sich sogar noch eine zweite Portion. Sie schüttelte nur den Kopf und schlug ihm leicht auf den Arm.
„Was denn? Mir schmeckt es super†œ, sagte er mit vollem Mund und schmunzelte vor sich hin.
„Wie konntest du nur! Haggis!†œ Dann tätschelte sie freundlich meine Hand.
„Keine Angst, meine Liebe, sowas gibt es hier nicht, oder nur ganz selten. Ich mache Ihnen schnell etwas anderes.†œ Als sie Anstalten machte aufzustehen, lehnte ich dankend ab und bat nur um einen Apfel. Ich war einfach zu müde, um noch etwas zu essen. Duncan schob seinen leeren Teller von sich und lehnte sich satt und zufrieden zurück.
„Das war wieder lecker, ach, wie habe ich das vermisst†œ, seufzte er und ergriff über den Tisch meine Hand. Oh nein, sein Handy klingelte.
„Wer… oh verdammt!†œ, fluchte er als er auf das Display sah. Plötzlich sprang er auf, lief ein paar Schritte und drehte uns den Rücken zu. Ich konnte nichts verstehen, doch ich spürte die merkwürdige Spannung, die ihn auf einmal ergriff. Mary und ich sahen uns verwundert an und zuckten gleichzeitig mit den Schultern. Sie stand auf und begann den Tisch abzuräumen. Nachdem er das Gespräch beendet hatte, ging ich zu ihm und legte meine Hand leicht auf seine Schulter.
„Was ist passiert?†œ, fragte ich ihn leise. Er drehte sich zögernd zu mir um.
„Nichts… ich muss nur noch mal weg. Mary wird sich um dich kümmern. Ich versuche, so schnell wie möglich wieder hier zu sein.†œ Sprach`s, küsste mich flüchtig auf die Stirn und war schon durch die Tür verschwunden.

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Ich starrte verwundert auf die Tür, durch die er so schnell verschwunden war. Was war das denn? Wo wollte er denn jetzt noch hin? Als ich Marys Hand auf meinem Arm spürte, drehte ich mich um und sah Verständnis in ihrem Blick.
„Kommen Sie, ich bringe Sie nach oben. Manchmal wird er ganz plötzlich zu einer Versammlung gerufen. Aber keine Sorge, er wird bestimmt nicht lange brauchen†œ, sagte sie leise und ging etwas schwerfällig die große Freitreppe hoch in den ersten Stock. Mir blieb nichts anderes übrig als ihr zu folgen, obwohl ich immer noch etwas erstaunt über Duncans plötzlichen Aufbruch war und gerne gewusst hätte, wer ihn angerufen hat. Gerade als ich meine Hand auf das schön geschwungene und sorgfältig polierte Geländer legte, bemerkte ich links neben der Treppe eine hölzerne Tür mit eisernen Beschlägen. Die Tür war mit einem großen antiken Schloss versehen und passte irgendwie gar nicht hierher. Sie sah uralt aus und war nicht besonders groß. Die Intarsien zeigten die gleichen Szenen, die mir auch schon an dem Tor bei der Einfahrt aufgefallen waren. Der Schlüssel fehlte. Ich nahm mir vor, Duncan zu fragen, was sich dahinter verbarg. Aber morgen war noch genügend Zeit dafür. Und so schleppte auch ich mich die Treppe hoch und freute mich auf mein Bett. Die Müdigkeit steckte in meinen Knochen. Oben zeigte Mary nach rechts einen langen Flur entlang.
„Auf der Seite wohnen Tim, Tiago, Eric und Cyrus, wenn sie auf dem Anwesen sind. Hier geht es zu Duncan, Fernando… Norbert und Bowen. Dragos Apartment ist ganz hinten. Ich habe schon gehört, dass er wieder dabei ist. Schön, er ist ein guter Junge!†œ Ich musste insgeheim grinsen. Junge! Für sie waren die Brüder wahrscheinlich wie ihre Söhne und sie litt bestimmt auch unter dem Verlust von Norbert und Bowen, die bei dem Kampf gegen die Red Dragons ums Leben gekommen waren. Unterdessen öffnete sie die Tür zu Duncans Apartment. Ich blickte noch schnell über meine Schulter zu den Türen von Norbert und Bowen. Da sah ich die Schwerter von den beiden und blieb abrupt stehen. Sie waren so an den Türen befestigt, dass ihre Spitzen nach unten zeigten. Ich schluckte schnell meine Tränen herunter, die mir unwillkürlich in die Augen traten, und räusperte mich.
„Was passiert mit den Apartments von Bowen und Norbert?†œ
„Sie wurden mit den Schwertern versiegelt. Und sie bleiben es auch, bis zwei neue Brüder vereidigt werden und dort einziehen. Ihre Namen werden morgen bei einer kleinen Zeremonie auf den Gedenkstein im Rosenpark geschrieben.†œ Für einen Moment sah sie uralt und sehr traurig aus, doch sie hatte sich schnell wieder gefangen und führte mich durch das Wohnzimmer ins Schlafzimmer und zeigte mir, dass sie schon all unsere Sachen in den Schränken verstaut hatte. Als ich an meine verboten scharfen Dessous dachte, die ich noch schnell in den Koffer geworfen hatte, wurde ich natürlich wieder rot und biss verlegen auf meine Unterlippe. Oh, wie peinlich! Doch sie verzog keine Miene, sondern zwinkerte mir auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer im Vorbeigehen zu. Und als sie sah, dass ich mich kaum noch auf den Beinen halten konnte, verabschiedete sie sich schnell.
„Ruhen Sie sich aus und schlafen Sie gut. Ich bin morgen Früh wieder da.†œ
„Danke, Mary. Und… es tut mir so leid, was mit Norbert und Bowen passiert ist†œ, fügte ich leise hinzu. Wahrscheinlich kannte sie nicht die ganze Geschichte, die zum tragischen Tod der beiden geführt hatte, aber das war auch gut so. Spontan drückte ich ihr einen Kuss auf die Wange.
„Und vielen Dank für die schönen Blumen.†œ Auf dem Tischchen in der Mitte des Raumes stand ein riesiger Strauß Rosen, die in allen möglichen Farben leuchteten. Der Duft war herrlich und erfüllte den ganzen Raum. Sie nickte kurz. Dann hob sie zögernd eine Hand und stich mir leicht über den Kopf, schloss die Tür hinter sich und schon war ich allein. Unbewusst zog ich meine Schuhe aus und krallte meine Zehen in den hellen flauschigen Teppich, der im Wohnzimmer und im Schlafzimmer den gesamten Boden bedeckte. Es fühlte sich so herrlich an, endlich wieder barfuß zu laufen. Nun konnte ich mich in aller Ruhe umschauen. In einem offenen Kamin brannte ein Feuer. Er war so groß, dass ich bestimmt problemlos aufrecht darin hätte stehen können. Auf dem Sims über dem Kamin, wo sonst oftmals ziemlich viel Nippes stand, war nichts – kein Bild, keine Erinnerungsstücke, einfach nichts! Auch die Wände in dem Raum waren leer. Nur ein riesiges in die Wand eingelassenes Regal voller Bücher, zeugte von einem Bewohner. Daneben war gerade noch Platz für eine Kommode, auf der ein Flatscreen stand. Alles wirkte sehr nüchtern und zweckmäßig, fast ein bisschen kalt und unpersönlich. Abgesehen von dem Bücherregal, ließ nichts auf Duncans regelmäßige Anwesenheit in dem Raum schließen. Aber das schwarze Ledersofa mit den vielen Kissen und dem Tisch davor, auf dem die Rosen standen, sahen gemütlich aus.

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Na wenigstens etwas! Ein großer Schreibtisch stand vor dem Fenster. Behutsam strich ich mit den Fingerspitzen über die Platte, auf der nur ein sehr teurer Füller, und ein kleines schmuckloses Kästchen lagen. Plötzlich kam ich mir ein bisschen verloren vor, so ganz alleine in seinem Apartment, denn Duncan ließ sich immer noch nicht blicken und ich vermisste ihn. Seufzend ließ ich mich in den Stuhl hinter dem Schreibtisch fallen und zog gedankenverloren an den Schubladen. Doch keine ließ sich öffnen. Vielleicht waren in dem Kästchen die Schlüssel? Doch auch das war verschlossen. Suchend sah ich mich um. Halt! Was machte ich denn da? Kopfschüttelnd rief ich mich zur Ordnung. Er hatte schon seine Gründe haben, warum er keinen an seinen Schreibtisch ließ. Dann musste ich an meine Schwestern denken. Was die jetzt wohl gerade machten, ob sie schon sicher gelandet waren? Und was machte Doc so alleine auf der Insel? Auch vermisste ich die anderen Brüder, die mir doch sehr ans Herz gewachsen waren. Selbst Ef-Ef fehlte mir. Bevor mich noch das heulende Elend so richtig packte, zog ich schnell mein Handy aus meiner Hosentasche und beschloss eine SMS an meine Schwestern zu schreiben.
„Bin heil in Schottland angekommen. Das Anwesen ist gigantisch! Vermisse euch sehr! LG Angie.†œ
Dann drückte ich auf senden und schaltete mein Handy diesmal nicht aus, obwohl ich es hasste, wenn es in den unpassendsten Momenten klingelte. Plötzlich fiel mir ein, dass sie ja gar nicht wissen konnten, dass ich hier auf dem Anwesen war. Mist! Ach egal, sie würden sich schon ihren Teil denken. Auf jeden Fall hatte mich das etwas aufgemuntert und ich ging ins Bad, um zu duschen. Das Bad grenzte direkt an das Schlafzimmer und war eine exakte Kopie von dem auf der Seraphim, nur dass die Wanne nicht im Boden eigelassen war, sondern auf einem Podest stand. Man musste sogar zwei Stufen hoch gehen, um in die Wanne steigen zu können. Aber mir genügte heute eine schnelle Dusche. Die Wanne würde ich in den nächsten Tagen mal mit Duncan ausprobieren!
Mit meinem zweitliebsten Nachthemd bekleidet, meinem rosa Hello Kitty-Hemdchen mit den Spagettiträgern, das mir bis weit über die Knie reichte und noch feuchten Haaren, beschloss ich, es mir vor dem Kamin gemütlich zu machen und dort meine Haare trocknen zu lassen. Nachdem ich noch ein paar Scheite auf das Feuer gelegt hatte, schnappte ich mir ein Buch über die Geschichte Schottlands und ein paar Kissen und legte mich so auf den Boden vor den Kamin, dass ich die Tür genau im Blick hatte. Duncan kam immer noch nicht. Seufzend schlug ich die erste Seite auf. Doch ich schaffte nicht mal die erste Seite, mir fielen die Augen einfach zu, und ich schlief ein.
Ein lautes Poltern und ein nicht ganz stubenreiner Fluch rissen mich aus dem Schlaf.
„Verdammter Mist! Welcher Trottel hat denn seine Schuhe mitten… oh, du? Was machst du denn hier auf dem Boden?†œ
„Warten†œ, murmelte ich schlaftrunken und rieb meine Augen. Duncan lag bäuchlings vor mir auf dem Teppich, hielt einen von meinen Schuhen in der Hand und sah mir ein bisschen ungehalten in die Augen. Ich krabbelte noch im Halbschlaf auf dem Teppich auf ihn zu. Da drehte er sich grinsend auf den Rücken und ich kuschelte mich in seine wartenden Arme und legte meinen Kopf auf seine Brust, nicht ohne ihn vorher gründlich und ausgiebig geküsst zu haben. Endlich war er wieder da!
„Ich, der Trottel…`tschuldigung. Wowastn?†œ, nuschelte ich und war schon fast wieder eingeschlafen. Er erzählte irgendetwas, aber ich hörte nicht richtig zu, sondern lauschte nur dem Klang seiner Stimme – bis das Wort Feenring viel. Sofort war ich hellwach und starrte ihn neugierig an.
„Was hast du gesagt? Was ist mit dem Feenring?†œ
„Wir wissen nun, warum er bei unserer Ankunft geleuchtet hat.†œ
„Und warum?†œ
„Sie wollten uns eine Warnung zukommen lassen.†œ
„Welche denn? Oh Duncan, nun lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen!†œIch stieß ihn ungeduldig an. Sein düsterer Blick machte mich noch neugieriger, als ich ohnehin schon war.
„Dazu muss ich ein bisschen weiter ausholen. Also, es gibt da eine Splittergruppe bei den Feen. Die bösartigsten von ihnen haben sich mit einer anderen verfluchten Spezies vor Jahrhunderten zusammengetan, und zusammen sind sie verdammt gefährlich und sehr blutrünstig. Diejenigen, die hier in den Highlands ihr Unwesen getrieben haben, konnten wir ausrotten. Aber die anderen, es sind zum Glück nicht mehr viele, sind immer da zu finden, wo es gerade brennt! Uns wurde eben mitgeteilt, dass sie auf der Suche nach dem Mörder ihres Königs, oder Anführers, wie auch immer die ihn nennen, sind.†œ Plötzlich nahm sein Gesicht einen grausamen Zug an und ich konnte sehen, wie er die Zähne zusammen biss.

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„Also so eine Art Söldnertruppe?†œ Er nickte grimmig.
„Woher wisst ihr das alles? Ich meine, von wem habt ihr die ganzen Informationen?†œ, fragte ich ihn erstaunt. Erst zögerte er, doch dann sah er meinen auffordernden Blick und antwortete mir.
„Ein paar Feen gehören auch zum Orden. So konnten wir einige Spione bei ihnen einschleusen und immer ein wachsames Auge auf sie und ihre Aktivitäten haben. Bis vor ein paar Monaten haben sie sich ruhig verhalten. Aber dann ist ein Teil von ihnen plötzlich mit ihrem Anführer spurlos verschwunden.
„Und wer ist dieser Anführer?†œ Ich war wahnsinnig gespannt.
„Es war der Troll, den du in Peru getötet hast und nun suchen sie … dich!†œ
„Mich?†œ Das war ja unglaublich! Wütend sprang ich auf und lief aufgebracht vor Duncan, der immer noch auf dem Boden saß, hin und her.
„Dann haben sich diese abtrünnigen Feen mit den Trollen zusammen getan? Das darf doch wohl nicht wahr sein. Und was will denn dieser Abschaum ausgerechnet jetzt von mir? Ich meine, woher wissen die eigentlich, dass ich es war, der ihren Anführer geköpft hat? Wir haben doch alle erledig, die da waren, oder konnten doch welche entkommen? Da macht man mal endlich Urlaub seit…, †œ blitzschnell überlegte ich, dann kam ich zu dem verblüffenden Ergebnis.
„Überhaupt?! Das auf der Seraphim zählt nicht! Das war ja im Grunde genommen gar kein Urlaub! Oh, ich könnte verrückt werden.†œ Ich redete mich so richtig schön in Rage und suchte nach einem Ventil für meine Wut – irgendetwas, was ich an die Wand werfen konnte. Aber hier gab es ja nichts! Mit verschränkten Armen blieb ich vor ihm stehen.
„Und weißt du, was mich am meisten aufregt? Da hat man die Welt von einem Übel befreit und schon taucht das nächste auf! Ich habe es satt… einfach satt!†œ Wütend kickte ich den Schuh, der vor mir auf dem Teppich lag, mit voller Wucht in den Kamin. Zu dumm, das das Feuer noch brannte. Oh nein! Ohne zu überlegen wollte ich hinterher, um ihn zu retten, doch Duncan war mal wieder schneller. Mit hochgezogenen Brauen stand er plötzlich vor mir und hielt mir den Schuh vor meine Nase. Schuldbewusst sah ich erst ihn und dann das leicht angesengte Stück an. Meine ganze Wut verpuffte augenblicklich. Der Schuh konnte ja nun wirklich nichts dafür und Duncan auch nicht.

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Ich hätte heulen können und schniefte laut.
„Ist doch wahr. Danke. Ich habe mich doch so auf unseren Urlaub gefreut! Aber was sollen wir denn jetzt machen?†œ Fragend sah ich ihn an. Er schüttelte nur mit dem Kopf und schloss mich tröstend in seine Arme.
„Gar nichts. Wir machen nichts. Die Feen hier in unmittelbarer Umgebung des Anwesens, die mit uns zusammen arbeiten, haben uns ja nur gewarnt. Sie wissen auch noch nichts Genaues. Morgen trifft der Spion ein, den wir bei den Söldnern eingeschleust haben, der wird uns dann einiges erzählen können. Außerdem bist du hier sicher. Komm mit, ich zeige dir mal was.†œ Er zog mich mit vor das Fenster und zeigte nach draußen.
„Sieh mal.†œ
Zuerst sah ich nur einige Schatten über den Wegen und zwischen den Häusern umher huschen, doch bei näherer Betrachtung erkannte ich die Gargoyles, die tagsüber zu Stein erstarrt auf den Dächern hockten und nur in der Nacht zum Leben erwachten.
„Eigentlich brauchen wir keine Wächter hier, aber sie bestehen darauf, uns zu beschützen. Irgendwie fühlen sie sich uns verpflichtet, keiner weiß genau warum.†œ
„Es sind schon merkwürdige Geschöpfe.†œ Eine plötzliche Veränderung in seinem Tonfall machte mich stutzig, und ich musterte forschend sein Gesicht.
„Duncan, da ist doch noch was. Irgendetwas beschäftigt dich doch noch.†œ Er seufzte tief. Dann strich er sich über die Augen und antwortete.
„Es ist nichts weiter, ich bin nur müde. Mach dir keine Sorgen, es war ja auch ein langer Tag.†œ Lächelnd sah er mich an und strich mir behutsam eine Strähne hinters Ohr. Er log. Ich wusste genau, dass er mich anlog. Oh nein, er sah schon richtig fertig aus, schließlich hatte ich ja schon ein paar Stunden Schlaf gehabt und er nicht. Seine tiefen Ringe unter den Augen zeigten mir, wie erschöpft und müde er sein musste, aber ihn bedrückte noch etwas, das konnte ihr fühlen. Ich wusste auch, dass er es mir nicht sagen würde, zumindest jetzt nicht. Nun gut, das war seine Entscheidung. Ungläubig sah ich auf meine Uhr.
„Na, dann komm, mein Schotte. Es ist mittlerweile nach zwei. Gehen wir schlafen.†œ
Kurze Zeit später lag ich hellwach im Bett und starrte an die Decke. Duncan schlief tief und fest. Er hatte mich wohlig brummend an sich gezogen, einen Kuss in mein Haar gedrückt und war dabei eingeschlafen. Und bevor ich noch anfing über den vergangenen Tag nach zu grübeln, beschloss ich, mir etwas zu trinken zu holen. Vielleicht konnte ich ja danach endlich einschlafen.
Vorsichtig und leise stand ich auf und schlich auf Zehenspitzen nach unten. Außer Duncan und mir war zum Glück niemand im Haus, und so konnte ich wie ich war, in meinem kurzen Hemdchen, rumlaufen. Die Küche lag direkt hinter dem großen Esszimmer. Sie war mit den modernsten Geräten ausgestattet, doch ich hatte nur Augen für den überdimensionalen Kühlschrank. Wow! Es stand zwar nicht viel drin, weil wir im Moment ja nur zu zweit waren, aber er bot genug Platz für Lebensmittel, die eine komplette Fußballmannschaft problemlos versorgen konnte. Mit einem Glas Milch bewaffnet wollte ich gerade die Treppe wieder nach oben gehen, als mein Blick auf die kleine Tür, die mir schon vorher aufgefallen war, fiel. Sie stand merkwürdigerweise einen kleinen Spalt offen. Neugierig ging ich näher und sah sie mir genauer an. Da waren der Drache und der Phönix, der Werwolf und der Gargoyle. Bei näherer Betrachtung entdeckte ich noch ein Einhorn, und über allen hatte Pegasus seine weiten Flügel gespannt. Diese feine Intarsienarbeit war wunderschön und einzigartig. Vorsichtig umfasste ich das Schloss der Tür mit zwei Fingern und zog sie ein weiter auf. Obwohl ich eigentlich im Dunkeln sehen konnte, war es hinter der Tür ungewöhnlich dunkel und ich konnte nichts erkennen. Als ich mit einer Hand nach einem Lichtschalter in dem Raum suchte, flammten plötzlich einige Fackeln auf. Sie waren an den Seitenwänden angebracht und beleuchteten einen langen Gang, der scheinbar in die Tiefe führte. Automatisch zog ich meine Hand zurück und die Lichter erloschen. Innen mussten Bewegungsmelder abgebracht sein. Doch wer hatte die Tür offen gelassen? Duncan, oder Mary? Gerade als ich noch einmal meine Hand in den Gang strecken wollte, hörte ich Duncan von ober nach mir rufen. Vor lauter Schreck schlug ich gegen die Tür, die mit einem leisen Klick einrastete und sich nicht wieder öffnen ließ. Beinahe hätte ich auch noch die Milch verschüttet, als Duncan wieder meinen Namen rief, und jetzt klang seine Stimme regelrecht verzweifelt. Oh nein, da stimmte etwas nicht! So schnell ich konnte, lief ich, zwei Stufen auf einmal nehmend, nach oben ins Schlafzimmer. Dort bot sich mir ein schreckliches Bild. Duncan wälzte sich stöhnend auf dem Bett hin und her, seine Hände fuhren suchend über das Lacken, Schweißperlen bedeckten seine Stirn. Seine Augen waren fest verschlossen und das Gesicht schmerzverzerrt. Laut rief er immer wieder verzweifelt nach mir.
„Angie? Wo bist du? Komm zurück… verlass mich nicht…bitte! Oh mein Gott, das habe ich doch nicht gewollt!†œ
Er war in einem Albtraum gefangen! Es tat mir in der Seele weh, ihn so zu sehen.
Schnell schlüpfte ich zu ihm unter die Decke, drängte mich an seinen Körper und umfasste mit beiden Händen sein Gesicht.
„Duncan! Schscht, ganz ruhig, ich bin ja da. Ich gehe nirgendwo hin.†œ Sein Atem ging ziemlich heftig, und ich konnte seinen schnellen Herzschlag spüren. Leise versicherte ich ihm immer wieder meine Anwesenheit, dabei küsste und streichelte ich sein Gesicht. Ganz allmählich beruhigte er sich, er schien mich endlich zu spüren und meine Stimme erreichte sein Unterbewusstsein. Aufatmend umschlang er mich und murmelte etwas Unverständliches an meinem Hals. Endlich konnte er friedlich weiterschlafen und auch mir fielen vor Erschöpfung die Augen zu. Mein letzter Gedanke war nur noch, dass ich am nächsten Morgen auf ein paar Antworten bestehen würde! Zu viele Fragen hatten sich aufgetan.

Fortsetzung Kapitel 2: „Seitensprung der Sisterhood – Das Anwesen der Bruderschaft“ findet sich hier.

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Seitensprung der Sisterhood – Doc Jane in geheimer Mission

Seitensprung der Sisterhood

Kapitel 1
Doc in geheimer Mission

Es war einfach herrlich auf der Insel. Südseeflair pur und mittendrin lag Jane in ihrer Hängematte am Strand. Sie gönnte sich einen NS-Icetea, und dank der Ohrstöpsel ihres MP3-Players, konnte sie auch Ef-Efs nerviges Geplapper ignorieren. Seitdem ihre Schwestern gestern abgereist waren, jammerte der kleine Dämon in Hamstergestalt ununterbrochen rum, da er „seine Angie†œ so vermisste. Jetzt schmollte er in seiner kleinen Mini-Hängematte.

Auch ihr fehlten die Mädels jetzt schon. Sie waren noch nie so richtig getrennt gewesen. Ohne die anderen auf der Insel, war es einfach nicht dasselbe. Das machte es ihr auch nicht leichter über Bowens Tod hinwegzukommen. Sie vermisste ihn, aber nicht so wie es eigentlich sein sollte. Eher so, als hätte sie einen guten Freund verloren. Wie schön wäre es gewesen, auch einen Partner zu haben und mit ihm irgendwohin zu fliegen oder eine gemeinsame Zeit auf der Insel zu verbringen? Obwohl sie den anderen ihre Liebe von ganzem Herzen gönnte, nagte der Neid ein wenig in ihr. Sie musste sich dringend ablenken. In Gedanken suchte sie schon mal Farben für ihren einen Neuanstrich ihres Bungalows aus. Sie hatte sich vorgenommen zu renovieren, sobald die verbliebenen Jungs der Bruderschaft mit der MS Seraphim abgereist waren. Der Vibrationsalarm ihres Handys riss sie aus der gedanklichen Farbpalette. Es war eine SMS von Sweetlife.

Hallo Doc. Komm bitte in mein Büro.

Sie trank noch schnell aus, raunte Ef-Ef zu er solle auf sie warten, schlüpfte in ihre Flip-Flops und schlappte los. Sweetlifes Büro befand sich in einer der vielen kleinen Höhlen unter dem Marzipanfelsen. Dort war es angenehm kühl. Ein zusätzlicher Pluspunkt war, dass man durch die dicken Felswände auch nicht belauscht werden konnte. Kurz vorm Ziel ertönte schon Sweetlifes rauchige Stimme durch die offenstehende Tür.
„Komm rein Doc.“ Sie betrat das gemütliche Büro. Das Oberhaupt der Sixpack Schwestern saß hinter ihrem monströsen Schreibtisch. Sie machte eine einladende Handbewegung, die Doc bedeutete, sich ihr gegenüber auf den Besuchersessel zu setzen. In dem Kamin prasselte ein gemütliches Feuer, gedankenverloren starrte sie in die Flammen.
„Na, Jane, schon wieder eingelebt zuhause?“
„Hmmm“, brummte sie nur abwesend. Warum wollte Sweetlife hier mit ihr sprechen? Zum Smalltalk hätten sie sich auch am Strand treffen können.
„Okay, ich komme mal direkt zur Sache, denn ich muss in zwei Stunden zu einer wichtigen Konferenz nach München fliegen. Vorher wollte ich dich um etwas bitten. Es handelt sich um einen Spezialauftrag, und ich wäre wirklich froh, wenn du den für mich erledigen könntest, mir ist da leider etwas dazwischen gekommen.†œ Das weckte Janes Aufmerksamkeit schlagartig.
„Schieß los, worum geht†™s?†œ
„Also gut. Zunächst wollte ich dir sagen, dass du dir nach dem letzten schwierigen und traurigen Einsatz eigentlich eine Erholung verdient hättest, aber rumhängen und in Selbstmitleid ertrinken, das passt einfach nicht zu dir. Deshalb möchte ich, dass du für mich nach Irland fliegst, um etwas abzuholen – etwas sehr Wichtiges. Es erfordert absolute Diskretion und Vorsicht. Du musst auf alles vorbereitet sein, denn es wäre möglich, dass du nicht die einzige bist, die Interesse an diesem Objekt hat.†œ Verschwörerisch blickte die Chefin sie an.
„Es wäre auf jeden Fall hilfreich, wenn du mir sagen könntest, um was es sich handelt und wo genau ich es abholen soll?†œ, fragte Jane mit einem schiefen Grinsen. Ein Spezialauftrag? Das klang doch mal aufregender als zu streichen.

Seite 2

„Gut, genauso habe ich mir deine Reaktion vorgestellt.†œ Lächelnd schob Sweetlife Jane eine Akte über den Schreibtisch.
„Das Artefakt, um das es sich handelt, nennt sich „Die Schachtel der Petra†œund befindet sich in Newgrange, einer keltischen Grabstätte in der Nähe von Dublin. Alles was du wissen musst und brauchst, findest du in der Akte. Du kannst den verbliebenen Learjet nehmen, ich werde mit meinem neuen Heli aufs Festland fliegen. Also, kann ich mich auf dich verlassen?†œ Doc blätterte interessiert in der Mappe und nuschelte nur:
„Ja, klar natürlich.†œ
„Wunderbar! So, ich will dich zwar nicht rausschmeißen, aber du solltest packen und dich direkt auf den Weg machen, das kannst du dir auch im Flieger in Ruhe anschauen.†œ
„Alles klar, gut, dann werd ich mal loslegen. Gute Reise, Sweetlife.†œ Sie klemmte sich die Akte unter den Arm und stand auf.
„Danke, dir auch. Sei vorsichtig… und wir bleiben in Kontakt.†œ Die beiden verabschiedeten sich und Jane wollte gerade das Büro verlassen, als Sweetlife sie nochmal zu sich rief.

„Ach, warte… eines noch… den Dämon, also dieser Hamster da, es wäre mir lieb, wenn du ihn für diese Mission woanders unterbringen könntest. Ich möchte nicht, dass er Aufmerksamkeit auf sich zieht. Ich hab da auch was Passendes, ich hab ihn schon dort angemeldet und der Transport ist auch von einer vertrauenswürdigen Firma organisiert. Er wird dann in 15 Minuten abgeholt.†œ Sie reichte Jane eine Broschüre und schob sie zur Türe raus, die hinter ihr mit einem laut vernehmlichen Klicken einrastete. Was sollte das denn jetzt? So schlimm war Ef-Ef doch auch nicht, aber gut, wenn er davon nichts wissen sollte, konnte sie ihn wohl schlecht mitnehmen. Typisch Sweetlife, alles bis ins kleinste Detail durchorganisiert. Sie blickte auf die Broschüre in ihrer Hand: Fetty-Dort-Klinik „Die Pension für das exzentrische Haustier†œ. Sie machen Urlaub und wir kümmern uns um ihren Liebling. Sportcamp, Diätklinik, Therapien aller Art. Na, das klang ja wirklich nach dem perfekten Ort für einen übellaunigen sprechenden Hamster.

Sie holte Ef-Ef in der Hängematte ab und ging mit ihm die paar Schritte zu ihrer Hütte.
„Wieso gehön wir schon rein? Isch wollte noch die Sonnenuntergang sehön und dabei an mon Angel denken.†œ
Doc ignorierte ihn einfach legte die Akte und den Flyer aufs Bett, setzte ihn obendrauf und zog ihre Reisetasche unter dem Bett hervor. Es war Herbst also würde sie für Irland etwas Wärmeres einpacken müssen als für eine Kreuzfahrt. Sie zog die Schubladen ihrer Kommode auf, wühlte darin herum, bis sie fündig wurde. Schnell steckte sie alles in die Tasche.
„Wieso packst du? Verreisen wir? Zu Angie?†œ Hoffnungsvoll blickte er sie an.
„Hm nein nicht so direkt. Also wir verreisen beide, das ist richtig. Allerdings getrennt ich habe einen Auftrag von Sweetlife, über den ich dich nicht in Kenntnis setzen darf und du öhm wirst gleich abgeholt und machst Ferien auf dem Bauernhof.†œ
Skeptisch kniff der Hamster die Augen zusammen.
„Bauernhof? Mon dieu, wieso nicht Schottland? Und wo und wie..†œ Er brach ab, als draußen ein lautes Rumpeln ertönte. Kurz darauf klopfte es an der Türe. Jane öffnete und stand einem rotäugigen Dämon gegenüber. Seine Haut schimmerte blau, und um seinen Kopf wanden sich zwei geschwungene Hörner. Er trug einen Neongelben Overall. Ehrerbietend verbeugte er sich tief vor Doc.
„Guten Tag. Mein Name ist Fredex von Piff und Paff, wir sind ein Materialisierungs-Transport Unternehmen und ich habe den Auftrag Monsieur Ford Fleur in die Fetty-Dort Klinik zu transportieren.†œ
„Merde! Das ist einfach unglaublisch. Das Allerletze!†œ Motzte es vom Bett. Doc holte Ef-Ef , gab ihm ein Küsschen.
„Sorry Kleiner, schreib mir mal ne Karte und genieß deinen Aufenthalt dort.†œ Sie überreichte ihn an Fredex, und bevor der Hamster noch irgendwas sagen konnte, lösten sich die beiden Gestalten mit einem lauten Ploppen in eine Rauchwolke auf.

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„So, das hätten wir also.†œ Sie schloss die Tür und packte ihre Tasche fertig. Auf dem Weg zum Jet würde sie noch einen kleinen Umweg machen und bei der Seraphim vorbeischauen, um sich zu verabschieden. Ein letzter Blick durch ihr Zuhause, dann machte sie sich seufzend auf den Weg.

Kurz vor der Anlegestelle sah sie schon Tiago oben an der Gangway. Er stand gebückt da und wuselte am Boden rum. So präsentierte er Doc seine hübsche Hinterseite. Sie pfiff laut. Sofort drehte er sich um und lächelte sie strahlend wie immer an.
„Hallo schöne Frau! Kommst du um an unserer Pokerrunde teilzunehmen?†œ Jane ging hinauf aufs Schiff. Da kamen Jean, Tim, Eric und etwas zögernder auch Cyrus an Deck.
„Leider nein, ich bin hier, um mich von euch zu verabschieden. Ich habe einen Auftrag von Sweetlife bekommen und muss gleich los.†œ
„Du verlässt die Insel?†œ Jean trat vor und drückte Doc.
„Pass auf dich auf Kleine.†œ „Wenn was ist, ruf uns an, Frauen in Not helfen wir doch immer†œ, sagte Tiago und küsste sie auf die Wange. Dann verabschiedete sie sich von Eric und Tim. Vor Cyrus blieb sie stehen. Er nahm ihre Hand und zog sie etwas beiseite. Dann packte er sie und umarmte sie ganz fest.

„Jane…†œ, flüsterte er ihr ins Ohr, „…ich weiß…†œ Sie gab ihm einen flüchtigen Kuss.
„Es tut mir leid, ich muss jetzt wirklich los.†œ Sie löste sich von ihm, drehte sich um und verließ das Schiff. Mit der Tasche über der Schulter ging sie schnellen Schrittes zum Flugplatz. Cyrus stand oben an der Reling und blickte ihr nach.
Am Jet begrüßte sie ihren Piloten. Sein Name war Ikarus. Er war ein freundlicher junger Gestaltwandler mit blonden Haaren und Grübchen. Jane stieg ein, nannte ihm das Ziel, und schon ging es los in Richtung Dublin.

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Als die Maschine die vorgesehene Flughöhe erreicht hatte und das Anschnallzeichen erloschen war, meldete sich Ikarus über den Lautsprecher.
„Verehrte Passagierin, willkommen an Bord der Ikarus Airline. Ich hoffe, Sie genießen Ihren Flug. Der Wetterdienst meldet keine besonderen Vorkommnisse, und wenn kein Schwarm Flugenten in die Triebwerke gerät, werden wir voraussichtlich in 8 Stunden in Dublin landen. Over.†œ
Ein humorvoller Pilot – wunderbar. Hoffentlich nahm er seinen Job ernster, denn Jane flog überhaupt nicht gern. Ein Absturz könnte selbst ihrem unsterblichen Leben zum Verhängnis werden. Sie stand auf und holte die geheimnisvolle Akte aus ihrer Tasche im Gepäckfach. Danach goss sie sich einen Chivas aus der Minibar ein und machte es sich in ihrem Sitz gemütlich.
„So, dann wollen wir mal schauen, was die gute Sweetlife sich da ausgedacht hat†œ, murmelte sie.
Auf der ersten Seite der Akte klebte eine schwarze Kreditkarte von NS-Express ohne Limit. Handschriftlich hatte Sweetlife noch ergänzt, dass man in Dublin ganz toll Shoppen könne. Das stimmte, Jane hatte diese Stadt schon sehr oft besucht. Doch zunächst würde sie ihren Auftrag erledigen müssen.

Sie blätterte weiter. Auf der nächsten Seite waren die Adressen von drei Hotels, die ihre Chefin ihr empfahl, aufgelistet. Ein Auto würde auch schon bereitstehen, den Schlüssel sollte sie an einem Schalter der Flughafenverwaltung abholen. Danach stieß sie endlich auf das, was sie am meisten interessierte – eine Skizze der „Schachtel der Petra†œ. Demnach handelte es sich um ein kleines Kästchen in der Größe von 10 x 15 cm. Auf der Zeichnung war nicht genau zu erkennen, aus welchem Material es bestand, aber es war reichlich verziert und mit Steinen, vermutlich Edelsteinen, besetzt. Ein kleines Vorhängeschloss war auf der Vorderseite zu sehen. Im Anschluss fand sie einen Bericht über die Schachtel, den Sweetlife mit einigen persönlichen Anmerkungen versehen hatte. Dieses Kästchen darf unter keinen Umständen geöffnet werden! – war dreimal rot unterstrichen. Okay, notiert, dachte Jane, nahm einen Schluck aus ihrem Glas und verzog das Gesicht, als der Scotch brennend ihre Kehle hinabrann. Dann vertiefte sie sich wieder in die Akte.

Den Informationen entnahm sie, dass die Schachtel ursprünglich in der St. Andreas Kapelle der Burg Hukvaldy in Tschechien, aufbewahrt wurde. Einer Legende nach hatte Petra selbst sie dorthin gebracht. Die Mönche des Ordens Passmaauf hatten dieses Artefakt jahrhundertelang für sie bewacht. Bei einem Großbrand im Jahre 1762 waren alle Mitglieder des Ordens umgekommen. Danach war die Schachtel der Petra spurlos verschwunden. Die Ursache des Brandes, und ob dieser in Zusammenhang mit dem Verschwinden des Artefakts stand, wurde niemals geklärt.

Weiter hinten war eine Luftaufnahme von einem grünen Hügel, der mit weißen Steinen umrandet war, eingefügt. Die Landschaft hatte sie schon beim Durchblättern im Büro wiedererkannt. Es war das legendäre Hügelgrab in Newgrange. Als Tochter eines Druiden mit keltischer Abstammung, hatte sie natürlich schon davon gehört. Sie war zwar noch nie dort gewesen, wusste aber, dass es mit seinen 70 Metern Durchmesser eines der größten bekannten Hügelgräber war. Wie üblich war es mit mehreren Gängen und Kammern versehen. Aber sie hatte schon die vage Vermutung, dass sich dieses kleine Schätzchen nicht in der Hauptkammer befinden würde. Das wäre zu einfach, außerdem wurde Newgrange tagsüber von Touristen besichtigt. Eigentlich eine prima Sache – so könnte sie eine Tour buchen und sich den Ort ganz unverbindlich ansehen.
Das war aber auch schon alles. Mehr Informationen über den Inhalt, und warum diese Schachtel jetzt in Irland war, und woher ihre Chefin das alles wusste, fand sie nicht. Das war auch wieder typisch, nur nicht zu viel preisgeben. Aber gut, sie vertraute ihr, und Jane würde das Ding finden, nicht öffnen und schleunigst nach NSI befördern. Dann wäre immer noch genug Zeit zu erfahren, was genau es damit auf sich hatte. Sie klappte die Akte zu und tauschte sie gegen ihren Laptop aus, den sie natürlich auch eingepackt hatte. Sie rief die Internetseiten der vorgeschlagenen Hotels auf und reservierte sich eine Suite im Clontarf Castle. Es lag nah an der irischen See und von dort konnte sie die Stadt sowie auch Newgrange schnell mit dem Auto erreichen. Als auch das erledigt war, stellte sie den Sitz in die Schlafposition, damit sie ein Nickerchen machen konnte.
Nach einem weiteren Drink, döste sie endlich ein und träumte wieder einmal von Bowen – bis sie jäh aus dem Schlaf gerissen wurde.

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„Mayday, Mayday! Houston wir haben ein Problem. Dr. Whitcomb bitte kommen Sie sofort ins Cockpit. Mayday! Mayday!†œ
Sie schreckte hoch, stieß dabei ihr Glas aus der Halterung der Lehne und stürmte nach vorne ins Cockpit. „Ikarus. Was ist los? Oh Gott, wir stürzen doch nicht ab, oder?†œ Doch Ikarus schaute sie nur grinsend an.
„Nein, nein. Ich hab nur furchtbaren Durst und Hunger. Mir blieb quasi keine andere Wahl. Würdest du mir die Stewardess machen und mir was bringen?†œ
Unglaublich! Wütend starrte Doc den Piloten an.
„Also, wenn du nicht die wichtigste Person neben mir hier an Bord wärst, würde ich dir dafür glatt den Hals umdrehen. Hat das Ding keinen Autopiloten, der für dich kurz übernehmen kann?†œ
„Doch schon, aber normalerweise hat man auch einen Co-Piloten, ich lasse das hier vorne†œ, und dabei tätschelte er liebevoll das Steuerrad, „nicht gern unbeaufsichtigt. Jetzt komm schon… bitte bring mir was zu essen, und dann kannst du auch von der Stewardess zur Co-Pilotin befördert werden.†œ
Sie blickte in sein jungenhaftes Gesicht. Wäre der Kerl nicht noch grün hinter den Ohren, hätte sie sich das mit dem Hals nochmal glatt überlegt. Wortlos verschwand sie nach hinten und kehrte mit einem Müsliriegel und einer Flasche Saft ins Cockpit zurück.
„Hier. Bitte sehr. Hühnchen war aus.†œ
Sie reichte ihm die Sachen und setzte sich neben ihn in den Sessel. Zeit für eine klitzekleine Retourkutsche „Was sind das hier für lustige Knöpfe?†œ Sie schaute ihn mit einem naiven Klein-Mädchen-Blick an und tat so, als wollte sie schon draufdrücken. Da schlug Ikarus ihr plötzlich auf die Hand.
„Vorsicht, das ist der Auslöser für den Schleudersitz!†œ, schrie Ikarus sie mit einer leichten Panik in der Stimmt an. Doch das wusste Jane natürlich, denn im Ernstfall könnte sie den Jet auch fliegen. Alle Schwestern hatten eine Grundeinweisung in ihrer Ausbildung erhalten. Sie grinste höhnisch.
„Wenn ich mich recht erinnere, ist der für den Sitz des Piloten, oder?†œ
„Okay, es tut mir leid, dass ich mir eben nicht selbst was geholt habe. Wir landen in zwei Stunden, schau dir doch einen Film oder so an.†œ
Sie hatte sowieso nicht vorgehabt bei ihm vorne sitzen zu bleiben. Lachend klopfte sie ihm auf die Schulter und verließ wieder das Cockpit. Die fand eine Futurama DVD, als ob jemand gewusst hätte, dass sie in diesem Jet sitzen würde. Dann machte sie es sich bis zur Landung wieder gemütlich.
Als der Jet etwas holpernd aufsetzt hatte, verlor sie keine Zeit, tauschte mit Ikarus nur kurz die Handynummern aus und zog los. Er würde sich ständig in der Nähe des Flughafens aufhalten und sich bereit halten, damit sie jederzeit zurückfliegen konnte. Durch die Zeitverschiebung war es bei ihrer Landung immer noch Abend. Die Sonne ging gerade unter. Sie marschierte über das Rollfeld zur großen Flughafenhalle. Dann steuerte sie den Stand der Flughafenverwaltung an.

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Hinter dem Tresen stand eine rothaarige Frau, sie verkörperte das irische Klischee schlechthin. Als Jane auf sie zuging, hatte sie schon ihren Ausweis aus der Tasche geholt und legte ihn jetzt auf den Tresen.
Nach einem prüfenden Blick darauf, schaute die Frau Jane lächelnd an.
„Guten Abend, Dr. Whitcomb. Wie war ihr Flug? Sie möchten bestimmt den Schlüssel für ihr Fahrzeug abholen, nicht wahr? Mrs. Tamumaisha hat uns angerufen und Bescheid gegeben.†œ
Das klappte doch alles wie am Schnürchen. Jane erwiderte das Lächeln, allerdings weniger aus Freundlichkeit, sondern vielmehr, weil sie sich insgeheim über Sweetlifes Decknamen amüsierte.
„Hallo. Der Flug war super, vielen Dank. Ja, genau den Schlüssel bitte.†œ Die Frau reichte Doc einen Schlüssel, eine Mappe mit Papieren und erklärte ihr dann wie sie zu dem Parkplatz kam, auf dem der Wagen stand.
Auf dem Weg dorthin machte sie noch einen kurzen Zwischenstopp im Waschraum, nur um festzustellen, dass sie ein wenig gerädert aussah. Sie kramte ihre Biker-Jacke und ihre graue Wollmütze aus der Tasche, löste ihren Zopf und zog beides an. Denn hier war es richtiggehend kalt im Vergleich zu NS-Island.
Sie streckte im Spiegel ihrem blassen Ebenbild die Zunge entgegen, schulterte ihre Tasche und zog wieder los. Den Parkplatz fand sie problemlos, aber welches Auto es genau war, wusste sie nicht. Ein Drücken auf die Fernbedienung des Schlüssels, brachte Aufschluss. Der Wagen direkt gegenüber piepste und die Blinker leuchteten auf. Wow! Da hatte Sweetlife sich nicht lumpen lassen. Das Auto, oder besser gesagt der schwarze Sportwagen vor ihr, war ein Audi TT. Sie ging zur Fahrerseite und wollte gerade einsteigen, da fasste sie sich an den Kopf. Linksverkehr! In Irland lenkte man ein Fahrzeug auf der rechten Seite. Sie ging um den Wagen herum und stieg ein. Wahnsinn, was für ein Auto! Eigentlich stand sie ja eher auf Autos, die ihrem alten El Camino ähnelten, der bei ihrer Hütte in den Adirondecks stand, aber das hier war einfach nur todschick. Sie gab die Adresse des Hotels ins Navigationssystem ein, fuhr langsam vom Parkplatz und reihte sich in den Verkehr ein. Die Stimme aus dem Navi schickte sie direkt in Dublins Innenstadt. Als sie die Fleet Street entlangfuhr, sah sie einen Fish & Chips Laden. Die Leuchtschrift im Fenster verriet ihr, dass er noch geöffnet hatte. Bei dem Gedanken an diese Spezialität, lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Ihre letzte Mahlzeit war das Frühstück gewesen. Sie parkte in einer Seitenstraße und betrat das Lokal. Im Grunde war es eher ein Pub, in dem man auch essen konnte. Vorne am Eingang befand sich ein Tresen, an dem ein paar Einheimische saßen und sich einen Feierabend-Drink gönnten. Rechts und links davon standen kleine Tische. Der Laden war dunkel getäfelt und strahlte eine urtümliche Gemütlichkeit aus. Sie suchte sich einen Platz in der hinteren Ecke.
Der beleibte Wirt trat an ihren Tisch, um ihre Bestellung auszunehmen. Sein Gesicht hellte sich auf, als Jane ihm ihre Order in fließendem Irisch angab. Chips mit Essig und dazu fangfrischen frittierten Fisch. Dazu bestellte sie ein Guinness vom Fass. Sie genoss das Essen und beobachtete dabei die hastig vorbei eilenden Menschen.

Als sie fast fertig war, wehte ihr der Duft von Nadelholz um die Nase. Irritiert schaute sie sich um, konnte aber nicht feststellen, woher er kam. Stattdessen erfasste ihr schweifender Blick zwei leicht bekleidete Damen, deren Berufsstand keinen Zweifel offen ließ. Sie flankierten einen groß gewachsenen Mann. Sein Aufzug passte so gar nicht hierher. Er trug einen schwarzen maßgeschneiderten Anzug, der seine durchtrainierte Statur unterstrich, sein Haar war kinnlang und rabenschwarz. Irgendetwas an ihm weckte ihre Aufmerksamkeit. Ja, es war eindeutig seine Aura – die eines Unsterblichen. War er ein Vampir? Leider konnte Jane sein Gesicht nicht sehen, da er von seiner Begleitung in die entgegengesetzte hintere Ecke des Lokals gezogen wurde.
Eigentlich war es unwichtig, denn gerade auf dieser Insel wimmelte es von Vampiren, Werwölfen, Magiern und noch vielen anderen mystischen Wesen. Hier war es nicht nötig, dass sie ihre Identität mit einem Zauber unterdrückten.

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Allmählich forderten der Flug, der Klimawechsel und ebenso die Zeitverschiebung ihren Tribut. Sie gähnte herzhaft, winkte den Wirt herbei, um zu zahlen. Dann fuhr sie zum Hotel.
Clontarf Castle war eine wunderschöne alte Burg, die durch einen hinteren modernen Anbau in ein Hotel verwandelt worden war. An der Rezeption hatte sich eine ordentliche Warteschlange gebildet. Jane hasste es zu warten, also ging sie in der Lobby etwas umher und entdeckte ganz reizende kleine Nischen mit barocken Sesseln. Überall verströmten Kerzen eine schummrige Atmosphäre. In einem großen, offenen Kamin brannte ein Feuer. Weiter hinten befand sich die Hotelbar, die mit sehr dunklem, violettem Licht stimmungsvoll zum Verweilen einlud. Aber sie hatte einfach keine Lust noch einen Drink zu nehmen. Gemächlich machte sie sich auf den Rückweg zur Rezeption.
Dort angekommen bemerkte sie erleichtert, dass sich der Gästeansturm verzogen hatte.
Sie checkte ein, zahlte mit der Kreditkarte, nahm die Schlüsselkarte für ihre Suite entgegen und stieg in den Aufzug. Seltsam, es roch wieder leicht nach würzigem Nadelholz, dabei war in dem Aufzug mit Sicherheit nicht ein Stück Natur verarbeitet worden. Na ja, sie war auch wirklich müde, da war es kein Wunder, wenn ihre Sinne ihr einen Streich spielten. Mit einem dezenten Klingelton glitten die Türen des Lifts lautlos zu. Ihr Zimmer 555 lag am Ende des Korridors auf der linken Seite. Der dicke Teppichboden schluckte ihre Schritte, während sie den Flur entlang ging. Wäre sie nicht so hundemüde gewesen, hätte sie die traumhafte Suite sicherlich gleich mehr zu würdigen gewusst. Angezogen plumpste sie auf das große, weiche, überdimensionale Bett und schlief sofort ein.

Als Jane am nächsten Morgen früh aufwachte, fühlte sie sich fit und ausgeschlafen. Sie öffnete die Balkontür und schaute hinaus auf die kalte, graue unbarmherzige irische See. Leichter Nebel stieg auf, und es roch nach Regen. Erinnerungen an Avalon keimten in ihr auf, die sie rasch beiseite drängte. Leicht fröstelnd ging sie ins Bad. Erst jetzt bemerkte sie wie luxuriös ihre Suite war und insbesondere das Badezimmer. Eine unglaublich große Badewanne war im Boden eingelassen. Die Fliesen und Accessoires in dem Badezimmer waren alle in Braun- und Kupfertöne gehalten.  Alles wirkte sehr dekadent und war schlicht überwältigend.

Während sie ihre Zähne putzte, entschied sie sich gegen die verlockende Badewanne und nahm eine ausgiebige Dusche. Danach überlegte sie, was man am besten als unauffällige Touristin trug. Auch wenn die Menschen nicht wussten, was sie in Wirklichkeit für ein Wesen war, spürten doch viele ihre Außergewöhnlichkeit.
Sie entschied sich für eine Jeans und einen grauen engen Rollkragenpullover. Dann zog sie wieder ihre geliebte enge Lederjacke an. Ihre Stiefel vervollständigten ihr Outfit. Eigentlich zog sie sich häufig so an. Zu viel Aufmerksamkeit war einfach nicht ihr Ding, und sie hatte es gerne bequem. Sie steckte etwas Bargeld, den Zimmerschlüssel, die Zigaretten und ihr Handy in die Jackentaschen und verließ ihre Suite. Mit dem Fahrstuhl fuhr sie ins Erdgeschoss. Auf einer Tafel las sie, dass das Frühstück in der Bar, die sie schon am Vorabend bewundert hatte, serviert wurde. Nach zwei Tassen Kaffee und einem Schokomuffin, fuhr sie mit dem Auto zum Touristenzentrum von Newgrange. An der Rezeption hatte sie erfahren, dass dort stündlich Besichtigungstouren angeboten wurden. Es war an der Zeit für ein wenig Recherche vor Ort.

Das Navi dirigierte sie in eine abgelegene Gegend, die nur von saftigen grünen Wiesen gesäumt war. Weit und breit war kein Haus zu sehen. Hier und da schlängelten sich niedrige Mauern aus Stein über die hügelige Landschaft. Es ging etwas bergab, und wie aus dem Nichts tauchte ein Gebäude mit einer Kuppel auf, vor dem einige Busse geparkt waren. Sie stellte den Audi ab. Am Eingang zahlte sie den Eintritt und wurde eingelassen. Nachdem sie sich in einem Auditorium in einem Vortrag über die altertümliche Grabstelle informiert  hatte, wurde sie mit den anderen Touristen in einen abgewrackten Bus verfrachtet und zu dem 3 km entfernten Hügelgrab gefahren.

Mit Ef-Ef wäre das Gefühl der Einsamkeit, dass sie plötzlich überfiel, sicher nicht so stark gewesen. Aber so unverblümt wie er immer fluchte und sich über alles aufregte, hätte er mit Sicherheit für viel Aufsehen gesorgt. An die Fensterscheibe gelehnt blickte sie hinaus und prägte sich die Umgebung genau ein. Außer grünen Feldern war dort nicht viel zu sehen, aber die Richtung war entscheidend.

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Sie würde nachts zu Fuß wieder herkommen müssen.
Der Bus bog insgesamt nur einmal ab und fuhr den Hügel hinauf. Da tauchte auch schon Newgrange hinter einem einfachen Zaun auf. Das würde also kein Hindernis darstellen. Ein ungepflegter schlaksiger Mann mit borstigen roten Haaren und verschlagenen Augen holte die Reisegruppe am Bus ab und führte sie vor den Eingang des Hügelgrabs. Er erinnerte Jane irgendwie an ein Wiesel.
„Gute Morgen, alle zusammen. Mein Name ist Patrick O´Connoly und ich begleite und führe Sie heute durch das Hügelgrab†œ, begrüßte er die Gruppe in einem breiten irischen Slang und bedeutete ihnen ihm zu folgen. Er ging voran, blieb aber schon kurze Zeit später wieder stehen und zeigte auf drei große Felsbrocken.
„Diese Felsen hier vor dem Eingang wurden von Druiden mit Schutzzeichen versehen, die den Seelen der Verstorbenen beistehen sollten†œ, erklärte er und deutete auf die großen Steine. Jane blickte auf die eingemeißelten Zeichen. Sie erkannte nicht ein einziges wieder, es waren einfach nur Verzierungen ohne jede Bedeutung. Entweder hatte dieser Mann überhaupt keine Ahnung, oder man zählte hier auf die Unwissenheit der Besucher.
Um kein Aufsehen zu erregen, verkniff sie es sich mit ihm über die Zeichen zu diskutieren. Nacheinander folgten sie ihm durch einen schmalen Eingang in das Hügelgrab. Im Inneren war es sehr dunkel, da der Gang nur mit einem einzigen schummerigen Licht beleuchtet war. Die Luft war kühl und abgestanden, es roch nach Feuchtigkeit und Moder. Das Wiesel führte sie mit einer Taschenlampe weiter ins Innere des Grabes. Der Gang mündete in einem Gewölbe, in dem ihr Guide nun stehen blieb. Hier sorgte eine seitlich angebrachte Gaslampe für ein wenig Licht, aber mittlerweile hatten sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Jane konnte zwei weitere Gänge ausmachen, die scheinbar tiefer in das Hügelgrab hineinführten. Dicke rote Taue vor den Eingängen verboten den Zutritt. Das Wiesel erklärte ihnen, dass dort noch restauriert wurde. Den weiteren Erklärungen über das Hügelgrab folgte Jane nicht. Aufmerksam betrachtete sie die in den Stein gehauenen Wege. Plötzlich entdeckte sie in dem linken Gang ein silbrig glänzendes Symbol, das in der Luft schwebte, kurz aufblitzte und dann wieder verschwand, bis es sich aus dem Nichts wieder neu herausbildete. Das war ganz eindeutig ein Schutzzauber! Warum dieser Schutzzauber dort durch die Luft schwebte, darüber musste sie sich nicht lange den Kopf zerbrechen. Das Ende der Führung wurde verkündet und alle aufgefordert, wieder nach draußen zu gehen. O´Connolys Blick ruhte für einen Moment auf Jane, dann schweiften seine Augen kurz in Richtung des Schutzzaubers. Ein leichtes Glitzern stand in seinen Augen, das Jane nicht deuten konnte. Im Gänsemarsch traten alle den Rückzug an und wurden vom Bus zum Eingang zurückgefahren. Da die Führung nur etwa eine Stunde gedauert hatte, war sie mittags wieder in ihrem Hotel.

Ruhelos strich sie durch ihr Hotelzimmer und überlegte wie sie den Schutzzauber deuten und lösen konnte. Eigentlich dürfte es kein Problem sein. Sie nahm ihr Handy, wählte die Nummer der Auskunft und ließ sich mit der Klinik, in der EF-EF untergebracht war, verbinden. Nach dem zweiten Klingeln meldete sich eine krächzende Stimme.
„Fetty-Dort-Klinik. Was kann ich für Sie tun?†œ
„Hallo, Dr. Whitcomb hier, ich würde gerne mit Ford Fleur sprechen.†œ
„Sind Sie die Herrin von diesem unmöglichen Dämon?†œ Ohje, er hatte sich anscheinend schon am ersten Tag beliebt gemacht.
„Naja, also … öhm …†œ, stotterte sie ins Telefon, „… ist er vielleicht zu sprechen? Sie haben doch bestimmt eine Lautsprecherfunktion, damit er telefonieren kann.†œ
„Einen Moment bitte.†œ Doc wurde in eine Warteschleife gehängt und als sie die eingespielte Melodie schon mitsingen wollte, raschelte es im Hörer und das Gespräch wurde wieder aufgenommen.
„Hören Sie, Monsieur Ford Fleur sagt, er kennt keine Dr. Whitcomb und wenn sie noch einmal anrufen, sollen Sie …, also, wollen Sie wirklich, dass ich das jetzt wiederhole?†œ
„Nein, nein, danke, ich kann es mir in etwa denken. Vielen Dank.†œ Enttäuscht legte Jane auf.
Sie hatte zwar damit gerechnet, dass er sauer auf sie sein würde, aber, dass er noch nicht einmal mit ihr sprechen wollte und ihre Bekanntschaft sogar leugnete, tat schon weh.

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Na gut, wenn Ef-Ef aus der Klinik wieder entlassen werden wollte, würde er wohl irgendwann mit ihr sprechen müssen. Nachdem sie in ihrem Notebook sämtliche Seiten über Schutzzauber vergeblich nach dem Symbol aus dem Hügelgrab durchforstet hatte, entschloss sie sich in der Hotelbar ein Glas Wein zu trinken. Im Aufzug nahm sie wieder den schon vertrauten Duft nach Pinien war. Sie wusste, dass sie mit diesem Geruch eine ganz bestimmte angenehme Erinnerung verband, doch bevor sie ihren Gedanken auf den Grund gehen konnte, blieb der Aufzug stehen und die Türen öffneten sich lautlos. Als sie aus dem Lift trat, wurde sie von einer jungen Frau angerempelt, die mit eiligen Schritten auf den Ausgang zusteuerte. Jane blickte ihr nach und sah, dass ihr ein groß gewachsener Mann folgte. Wieder konnte sie sein Gesicht nicht genau sehen, aber sie erkannte seine Aura wieder. Jedes Wesen hatte seine ganz eigene, unverwechselbare Signatur. In ihm erkannte sie den schwarzhaarigen Mann, den sie am Vorabend in dem Pub wahrgenommen hatte, wieder. Sein Duft war unverkennbar, er roch wie ein frischer Ozeanwind, der über Pinienwälder streift. Jetzt wusste sie wenigstens, was es mit dem Nadelholz-Duft auf sich hatte. Scheinbar wohnte er ebenfalls in dem Hotel. Lächelnd ging sie an die Bar und bestellte ein Glas Wein.

Was sie nicht bemerkte, war, dass dieser Mann kurz vorm Ausgang stehen blieb und sich suchend umblickte. Auch er hatte Janes Aura wahrgenommen. Für einen kurzen Moment verweilten seine Augen auf ihren weißblonden Haaren, die ihr fast bis zu den Hüften reichten, dann wandte er sich wieder zum Ausgang und verließ das Hotel.

Um Mitternacht machte sich Jane auf den Weg nach Newgrange. Ganz in schwarzes, hautenges Leder gehüllt, hätte ihre Sixpack-Schwester Kerstin sie bestimmt mit Badgirl-Witzen verspottet. Sie parkte den Wagen hinter dem Touristencenter und zog sich eine Sturmmaske über den Kopf, damit ihre Haare sie in der Dunkelheit nicht verrieten. Die Sig, die sie von Bowen hatte, steckte sie hinten in den Hosenbund. Mit langen Schritten lief sie querfeldein über die Wiesen und orientierte sich an dem Weg, den der Bus gefahren war. Nach einer Viertelstunde tauchte der Zaun vor ihr auf. Leichtfüßig sprang sie darüber. Am Eingang des Grabes blieb sie stehen und blickte sich um. Nichts war zu sehen und zu hören. Sie schlich den schmalen Gang entlang bis zu dem Gewölbe. Von hier aus wollte sie in den Tunnel abbiegen, in dem sie am Morgen das Zeichen gesehen hatte. Sie erstarrte. Die Absperrung und der Schutzzauber waren verschwunden. Jemand war ihr zuvorgekommen. Verdammt, sie wollte Sweetlife auf keinen Fall enttäuschen, aber hier war definitiv jemand schneller gewesen. Sie schritt den Gang entlang, um mögliche Spuren eines Rivalen zu finden. Im Lichtkegel ihrer kleinen Taschenlampe tauchte ein Mauervorsprung auf. Darauf entdeckte sie unter einer verschobenen Steinplatte eine Öffnung, die groß genug für das Kästchen war. Der Hohlraum war leer. Sie konzentrierte sich auf ihre schamanischen Sinne und spürte noch Reste des Zaubers. Ja, genau hier war es gewesen. Plötzlich schlug ihr etwas in den Rücken und sie sackte auf die Knie. Dann wurde sie gepackt und durch die Luft geworfen. Sie prallte hart auf den Boden, rollte sich aber ab und landete durch den Schwung am Dead-End des Tunnels.
„Ich würde sagen, du gibst es mir! Dann überlege ich mir, ob ich dich einfach so gehen lasse†œ, hörte sie jemanden mit einer dunklen, tiefen Stimme sagen.
Sie rappelte sich hoch und sah am Anfang des Tunnels einen großen Mann stehen. Sie erkannte ihn. Es war der Typ aus dem Hotel. Katzenhaft schlenderte sie ein Stück auf ihn zu. Die rechte Hand hielt sie hinter dem Rücken verborgen und bildete darin eine Energiekugel. Bevor diese zu viel Licht verströmte, schnellte ihr Arm nach vorne. Sie traf den Mann mitten auf die Brust. Er wurde von lilafarbenen Blitzen umhüllt, aber er lächelte nur. Er ging weder zu Boden, noch wurde er ohnmächtig. Was war das? Bisher konnte keiner dem Charme ihrer Kräfte widerstehen. Verwundert zog sie die Waffe aus ihrem Hosenbund und zielte auf ihn.
„Das würde ich an deiner Stelle nicht tun. Es sei denn, du möchtest, dass deine Kugeln an mir abprallen und dich treffen.†œ
In einer unglaublichen Geschwindigkeit raste er auf Jane zu. Sie drückte ab. Die Kugel prallte tatsächlich an ihm ab. Mit einem Rückwärtssalto konnte sie dem Querschläger in letzter Sekunde ausweichen. Jetzt saß sie erst recht in der Falle. Inzwischen stand er direkt vor ihr.

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Mit dem Rücken zur Wand hielt er sie mit einer Hand an der Kehle fest, mit der anderen entwendete er ihr die Waffe und ließ sie achtlos zu Boden fallen. Wütend blickte Jane auf ihre Waffe. Mit einem Ruck löste sie sich aus seinem Griff, sprang auf die Füße und boxte auf den Kerl ein. Aber ihre Schläge prallen genauso wie die Kugel an ihm ab. Offensichtlich amüsierte er sich prächtig. Er lachte. Es war ein angenehmes Lachen und Jane sah zum ersten Mal sein Gesicht, das nun direkt vor ihrem war. Er sah verdammt gut aus. Das machte sie irgendwie noch wütender. Er ignorierte ihre Hiebe einfach und zog ihr die Maske vom Kopf.
„Wollen mal sehen, wer du bist.†œ Dann blickte er auf sie herab, sein Gesicht war ganz nah vor ihrem. In seinen wunderschönen grünen Augen stand Verwunderung? Das Lächeln verschwand von seinem Gesicht.
Eine Frau! Ihre Haare wirkten in dieser Umgebung fast weiß leuchtend. Diesen auffälligen Schopf hatte er doch am Nachmittag schon im Hotel gesehen? Er hatte nicht damit gerechnet, sie hier anzutreffen, obwohl er wusste, dass sein Erzfeind eine Gruppe Gestaltwandler aus dem Untergrund mit der Suche nach der Schachtel beauftragt hatte. Er kannte die drei O´Connely Brüder. Zu ihnen gehörte sie wohl kaum. So jemanden wie sie hatte er noch nie zuvor getroffen. Die Energie, die sie ihm verpasst hatte, war nicht ohne gewesen, und kämpfen konnte sie auch. Ebenso wenig schien sie Angst zu haben. Was machte sie hier? Er hatte das unbestimmte Gefühl, sie zu kennen. Nur woher…?
„Lass mich verdammt noch mal los†œ, schrie Jane ihn an und wehrte sich nach Leibeskräften gegen die Umklammerung.
„Ganz schön kratzbürstig, die Kleine†œ, dachte er, packte ihre Arme und drückte sie gegen die Wand. Dann fixierte er sie mit seinen Augen. Es war ein Leichtes für ihn sie zu hypnotisieren, und auf die Art würde er schon erfahren, wer ihr Auftraggeber war.
Jane sah, wie sich seine Augen veränderten. Das außergewöhnliche dunkle Grün erinnerte sie spontan an den Pinienhain in der Toskana, in dessen Nähe sie vor langer Zeit in einer kleinen Bucht am Strand gelebt hatte und sehr glücklich gewesen war. Sie glaubte, das Meer auf ihrer Haut zu spüren. Deutlich hatte sie seinen unverkennbaren Geruch nach Pinienholz in der Nase. Sie spürte instinktiv, was er vorhatte und ließ sich auf sein Spiel ein. Es war nicht einfach, seinen Kräften zu widerstehen. Ganz langsam rutschte sie an der Wand entlang auf den Boden. Er hielt sie jetzt ganz locker an den Schultern und hockte sich ihr gegenüber. Sein Blick bohrte sich noch immer in ihren.
„Wer bist du? Und wer ist dein Auftraggeber?†œ, fragte er sie mit seiner dunklen Stimme.
„Ich bin Rotkäppchen und will zu meiner Großmutter†œ, antwortete sie monoton, sprang auf und warf sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen ihn. Er fiel nach hinten und sie rannte los. Doch schon kurze Zeit später hatte es sie eingeholt und sich auf sie geworfen. Hypnose funktionierte bei ihr also nicht. Er kniete sich auf ihre Beine, damit sie aufhörte zu zappeln und durchsuchte sie nach dem Kästchen. Nichts.
„Wo ist es?†œ, fragte er mit gepresster Stimme.
„Ich weiß nicht, was du meinst†œ, gab sie murrend zurück.
„Das Kästchen der Petra – es war hier. Und erzähl mir nicht, dass du nicht deswegen hergekommen bist.†œ
Okay, er war also aus demselben Grund hier wie sie. Fieberhaft suchte sie nach einem Ausweg, jetzt galt es, heil aus der Nummer raus zukommen. Er wusste von der Existenz des Artefaktes, also konnte sie die Karten zumindest teilweise auf den Tisch legen.
„Ich wollte es holen, aber es war schon weg, jemand ist vor mir hier gewesen. Ich dachte zuerst, du hättest es. Aber ich schwöre dir, ich habe es nicht.†œ
Selbst wenn er nicht die Fähigkeit besessen hätte die Wahrheit von einer Lüge zu unterscheiden, er glaubte ihr.
„Gut, okay, ich will dir nichts tun. Wenn ich dich jetzt loslasse, hörst du dann auf mich anzugreifen?†œ
Jane knurrte eine bejahende Antwort. Langsam ließ er sie los. In einer fließenden Bewegung stand sie auf. Die schmerzenden Arme reibend, ging sie langsam zu ihrer Waffe und steckte sie wieder ein. Als er auf den Ausgang des Grabes zuging, wartete sie einen Moment, bevor sie ihm folgte. Der Unbekannte wartete am Eingang und musterte sie amüsiert.

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Was er sah, gefiel ihm. Das konnte sie an seinem Gesichtsausdruck sehen.
„So ein arroganter Kerl†œ, dachte Jane und musterte ihn spöttisch.
„Außer mir suchen nur die Gestaltwandler nach dem Artefakt. Die Einzigen, die ebenfalls ein Interesse daran haben könnten, wäre die Bruderschaft der Schwarzen Orchidee. Der gehören aber nur Männer an, also, warum suchst du danach?†œ
Er kannte die Brüder? Das war ja interessant.
„Bevor ich dir antworte, will ich erst wissen, wer du bist†œ, sagte Jane herausfordernd.
Er kam auf sie zu. Die Hände hatte er in seinen Manteltaschen vergraben. Dieses Mal trug er keinen Anzug, und dennoch war sein gesamtes Auftreten imposant. Er war bestimmt fast zwei Meter groß. Dicht vor ihr blieb er stehen. Jane reckte ihr Kinn, er sollte bloß nicht glauben, dass seine Nähe sie einschüchterte. Anscheinend gefiel es ihm, auf andere herabzusehen.
„Mein Name ist Sam. Und wer bist du?†œ Er neigte den Kopf, und ein paar dunkle Strähnen fielen in sein Gesicht. Jetzt, wo sie nicht miteinander kämpften, spürte sie seine starke Anziehung.
„Ich bin Jane†œ, hauchte sie kaum hörbar. „Was bist du?†œ
Er kam noch näher. Fast hätte sie sein Gesicht berührt, um die Strähnen zurück zu streichen, aber er trat abrupt zurück. Perplex rieb er sich die Stirn und schüttelte den Kopf. Seine Schwäche für das andere Geschlecht war hier besonders fehl am Platz. Das durfte er sich jetzt nicht anmerken lassen. Er überging ihre Frage einfach.
„Warum bist du hier?†œ, konterte er stattdessen.
„Ich bin… also, es ist mein Auftrag…, mehr kann und will ich dir im Moment nicht sagen. Bon Voyage.†œ Damit ließ sie ihn stehen und schritt den Hügel hinab. Sie hatte immer noch keine Ahnung, was er war und für wen er arbeitete. Doch im Moment brauchte sie einfach Abstand, denn seine Anziehungskraft war viel zu faszinierend. Sie glaubte nicht, dass er etwas Böses oder gar Falsches an sich hatte, ganz im Gegenteil. Trotzdem musste sie vorsichtig sein. Sweetlife hatte ihr gesagt, dass auch andere nach der Schachtel suchen. Sie wollte jetzt als erstes mit ihrer Chefin telefonieren.
Plötzlich hörte sie Schritte und erkannte, dass Sam ihr folgte.
„Jane, warte mal! Bitte!†œ
Sie wartete, bis er sie eingeholt hatte, dann gingen sie gemeinsam den Hügel herab.
„Kennst du die Bruderschaft der Schwarzen Orchidee vielleicht?†œ
„Ja, das tue ich, aber warum interessiert dich das?†œ
Er überlegte. Ein Nachteil seiner Art war, dass sie nicht lügen konnten. Etwas verschweigen konnten sie, aber eine Unwahrheit aussprechen nicht. Sollte er es ihr sagen? Zu verlieren hatte er im Moment nichts, und er wollte mehr über diese Frau erfahren. Ein wenig Entgegenkommen wäre sicherlich angebracht, nachdem er sie so in die Mangel genommen hatte.
„Ich werde Kontakt zu ihnen aufnehmen. Ich weiß nicht, ob du davon gehört hast, aber sie haben die Roten Drachen fast vernichtet. Durch ihre perfekte Organisation und die vielen Verbündeten sind sie sehr mächtig. Jedenfalls sind sie jetzt auf der Jagd nach Dungeon, dem letzten der Roten Drachen, der auch der Anführer war. Die Bruderschaft hat seine bekannten Stützpunkte vernichtet. Nun ist er auf der Flucht. Ich suche ihn auch. Aus persönlichen Gründen.†œ Er bemerkte ihren skeptischen Blick. Woher wusste er das alles?
„Alleine wird mir das nicht gelingen. Ich brauche die Schachtel für den Orden der Schwarzen Orchidee, dann können wir ihn gemeinsam zur Strecke zu bringen. Vor einigen Jahrzehnten habe ich schon einmal mit ihnen zusammengearbeitet.†œ
Jane hörte gebannt zu. Also kannte er die Jungs wirklich. Die Schachtel hatte etwas mit der verbrecherischen Organisation der Roten Drachen zu tun? Auf diese Idee war sie noch gar nicht gekommen. Sie sollte sie zwar Sweetlife bringen, aber wenn er sie Duncan übergeben wollte und sie und ihre Schwestern mit der Bruderschaft in Sachen Red Dragon sowieso kooperierten, spielte dieser Sam ja grundsätzlich auf ihrer Seite. Auch wenn sie sich sonst nie allein auf ihr Gefühl verließ, war es dieses Mal anders. Sie vertraute ihm.

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„Sixpack.†œ
„Was?†œ
„Ich gehöre zum Sixpack. Wir arbeiten in dieser Sache mit der Bruderschaft zusammen und haben sie im Kampf gegen Dungeon unterstützt.†œ
„Wow, du bist also eine von Sweetlifes Amazonen! Ich kenne deine Chefin und wollte schon längst wieder Kontakt zur ihr aufnehmen.†œ
Er hatte es tatsächlich versucht, allerdings war das nicht so einfach, denn das Sicherheitsnetzwerk der Halbgöttin hätte die CIA vor Neid erblassen lassen. Er lachte wieder sein sexy Lachen.
„Das ich nicht gleich drauf gekommen bin! Ich habe lange nichts mehr von Sweetlife gehört, aber dieses Bündnis wundert mich nicht. Sie ist für ihre Kämpferinnen berühmt. Dann ist sie also noch immer im Geschäft, das freut mich zu hören. Also, Jane vom Sixpack, es ist mir eine Ehre dich kennenzulernen, und ich mache dir jetzt ein Angebot, das du unmöglich ausschlagen kannst.†œ
Er lächelte sie offen an. Bei diesem Anblick stockte ihr der Atem. Er war einfach atemberaubend schön, wenn er so lächelte. Sein Dreitagebart verlieh ihm etwas Verwegenes. Dann fiel ihr die Zweideutigkeit seiner Bemerkung auf. Sie zog eine Augenbraue hoch und musterte ihn wieder von oben bis unten.
„Dann lass mal hören, was du so zu bieten hast.†œ
Abrupt blieb sie stehen und sah ihn mit einem erwartungsvollen Blick an. Er zögerte einen kurzen Moment. Aus irgendeinem Grund brachte sie ihn aus dem Konzept. Dann sammelte er sich und sprach leise weiter.
„Nun, da ist zunächst mal die Tatsache, dass ich ein Engel bin. Außerdem bin ich mir ziemlich sicher zu wissen, wer vor uns hier war.†œ
Der zweite Teil sickerte erst langsam in Janes Verstand… ein Engel? Es gab also tatsächlich noch Engel? Das hätte sie im Leben nicht erwartet. Er war eher ein Exemplar Hell´s Angel, das absolute Gegenteil von einem pausbäckigen Kind mit goldenen Löckchen. Es passierte ihr wirklich sehr selten, doch diese Offenbarung verschlug ihr schlichtweg die Sprache.
Sie musste wirklich ganz dringend mit Sweetlife sprechen, denn die Situation wurde immer merkwürdiger.
„Interessiert dich nicht, wer die Schachtel hat? Oder bist du von meiner Spezies so schockiert? Jane?†œ Er zupfte sie sanft am Arm, um auf sich aufmerksam zu machen.
„Jane!†œ Sams Berührung kribbelte an ihrem Arm und sie riss sie aus ihren Gedanken.
„Wer hat sie denn?†œ, antwortete sie scheinbar interessiert, denn natürlich war ihr bekannt, dass nur dieses Wiesel, das sich während der Führung am Vormittag so auffällig benommen hatte, dafür in Frage kam.
„Vermutlich stecken diese O´Connely Brüder dahinter. Nur leider weiß ich nicht, wo sie ihr Quartier haben. Was hältst du davon, wenn du das über deine Kontakte herausbekommst und ich dir dafür helfe mit ihnen fertig zu werden. Dann können wir immer noch entscheiden, wie wir danach weiter verfahren.†œ Er taxierte sie mit seinen grünen Augen. Es fiel ihr unglaublich schwer, in seiner Gegenwart einen klaren Gedanken zu fassen. Versuchte er etwa wieder sie zu hypnotisieren?
„Ich… ich weiß nicht. Ich kann das nicht alleine entscheiden. Ich fahre jetzt zurück ins Hotel. Können wir das morgen Früh besprechen?†œ
„Ja, ja natürlich. Morgen Früh in der Lounge? Um neun?†œ

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Jane nickte knapp und machte sich auf den Weg zu ihrem Wagen, dabei ließ sie den Engel ein weiteres Mal stehen. Dass Enttäuschung in seinem Blick lag, hatte sie sich bestimmt nur eingebildet.
Noch auf der Fahrt zurück zum Hotel rief Doc bei Sweetlife an. Schon nach dem zweiten Klingeln wurde abgehoben. Die Halbgöttin schien niemals zu schlafen.
„Jane. Alles okay bei dir in Irland?†œ
„Hey, Sweetlife. Tja, also ehrlich gesagt, bin ich mir da nicht so sicher.†œ
„Was meinst du damit? Hast du die Schachtel gefunden?†œ
„Ja und nein. Ich habe herausgefunden, dass sie in dem Hügelgrab in Newgrange versteckt war und wollte sie eben holen…†œ Jane schilderte knapp, was in den vergangenen Stunden passiert war. Dass sie Sam getroffen und ihm erzählt hat, für wen sie arbeitet. Für einen kleinen Moment herrschte Stille am anderen Ende.
„Samael lebt also noch…†œ Klang ihre gewiefte Chefin etwa erleichtert?
„Wie er lebt noch? Warum auch nicht? Dann stimmt es also, er ist ein echter Engel? Kann ich ihm trauen? Und woher kennst du ihn?†œ Sweetlife lachte.
„Ruhig Blut Jane, mach dir keine Sorgen. Du hast alles richtig gemacht. Ich hab dich nicht umsonst dorthin geschickt. Vor 200 Jahren hat er mir mal sehr aus der Patsche geholfen. Und ja, er ist ein echter Engel. Der letzte soweit ich weiß. Dungeon hat letztes Jahr die anderen aus seinem Kreis durch die schwarzen Druiden vernichten lassen. Ich dachte, Samael hätte es auch erwischt. Sie waren ins Visier geraten, weil sie die Zusammenarbeit mit den roten Drachen abgelehnt hatten.†œ
„Er will die Schachtel mit mir zusammen suchen. Sweetlife, ein Engel? Ich dachte, die gäbe es nur in der Bibel.†œ
„Ja, das ist eine prima Idee. Ich werde checken, wo sich diese Gestaltwandler versteckt halten. Dann gebe ich der Bruderschaft Bescheid. Wir sind es ihnen schuldig, sie an der Vernichtung teilhaben lassen. Und natürlich ist er ein Engel, sie haben im letzten Jahrtausend nur sehr zurückgezogen gelebt. Ach ja, und wenn er dir etwas sagt, kannst du es blind glauben, Engel können nämlich nicht lügen. Es nützt auch nichts im etwas vorzumachen, er kann Lügen von der Wahrheit unterscheiden. Das solltest du vielleicht wissen. Am besten ihr ruft mich gleich gemeinsam noch einmal an. Dann kann ich kurz persönlich mit ihm sprechen. Bis später dann.†œ
Klick. Aufgelegt. Sie hatte noch tausend Fragen gehabt, die nun unbeantwortet blieben. Blöderweise müsste sie jetzt auch noch sein Zimmer ausfindig machen und zu ihm gehen.
Im Hotel angekommen, erfuhr sie vom Nachtportier durch den Einsatz ihres weiblichen Charmes die Zimmernummer des Engels und fuhr hinauf in die siebte Etage, um dort auf ihn zu warten.

Sam lief rastlos in seiner Suite auf und ab. Sein Plan hatte vorgesehen, dass er jetzt schon im Flugzeug Richtung Schottland sitzen wollte – mit dem Artefakt. Doch er war ihm misslungen. Er würde schon noch zum Zug kommen, das wusste er aus seinen Visionen. Im Grunde beschäftigte ihn auch vielmehr diese Frau. Jane. Er konnte es kaum erwarten, sie wiederzusehen, um… ja um was zu tun? Da klopfte es leise an seiner Türe. Nur mit seiner seidenen Pyjamahose bekleidet, öffnete er.
„Hey, oh cool, du bist ja doch schon da.†œ Verblüfft starrte Jane ihn an. Wie hatte er es nur geschafft vor ihr im Hotel zu sein, zumal sie die Strecke wirklich gerast war?
„Entschuldige, dass ich so spät noch vorbeikomme, aber Sweetlife möchte gerne mit dir sprechen.†œ
Nervös glitt ihr Blick über seinen muskulösen Oberkörper. Man, dafür brauchte er einen Waffenschein. Jeder Muskel war bis ins Kleinste ausdefiniert, das war einfach unglaublich sexy. Sie blickte verlegen an ihm vorbei ins Zimmer. Sam blickte sich um und dann wieder zu Jane. Er grinste.
„Komm doch rein. Du störst nicht, ich habe noch auf den Zimmerservice gewartet.†œ
Sie ging an ihm vorbei zu einem Sofa und setzte sich einfach. Dann rief sie erneut bei Sweetlife an.

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„Hey, ich bin jetzt bei Sam, ich aktiviere den Lautsprecher, dann können wir miteinander sprechen.†œ
Gesagt, getan. Das Telefon legte sie vor sich auf den Tisch. Nach einem Räuspern ertönte die vertraute rauchige Stimme.
„Hallo Sam. Es freut mich zu hören, dass du noch unter uns weilst.†œ
Im Hintergrund lief Reggae-Musik und ein Stimmengewirr war zu hören, dann knallte eine Tür zu und die Geräuschkulisse verstummte.
„Also, ihr beiden, ich habe schon mit der Bruderschaft gesprochen und sie von den Geschehnissen bei euch vor Ort in Kenntnis gesetzt. Sie haben natürlich keinerlei Einwände, dass Sam mit uns zusammenarbeiten wird. Sie konnten auch den Aufenthaltsort der O´Connely Brüder in Erfahrung bringen, die drei werden morgen Mittag in ihrem Hauptquartier in Hotshot, Louisiana erwartet. Wenn ihr jetzt gleich in den Flieger steigt, müsstet ihr ungefähr zur gleichen Zeit ankommen wie sie. Vorausgesetzt Sam, es ist in Ordnung für dich mit uns allen zu kooperieren.†œ
„Hallo Sweetlife, schön, deine Stimme zu hören und natürlich ist es mir eine Ehre mit euch zu arbeiten, das war ohnehin meine Absicht. Ich pass schon auf deine Kleine auf.†œ Er zwinkert dabei Doc zu, die ihm mit einem kalten Blick antwortete.
„Sehr gut, einen wie dich können wir in unserer Truppe brauchen. Also, dann macht euch auf den Weg und haltet mich auf dem Laufenden.†œ
Sie verabschiedeten sich von einander und Jane steckt ihr Handy wieder ein. Klasse, jetzt hatte sie den Kerl an der Backe. Kurze Zeit saßen sie sich schweigend gegenüber und musterten einander. „Ich würde sagen, du ziehst dir was an, und ich gehe schnell packen. Dann treffen wir uns in 15 Minuten vor dem Hotel†œ, sagte Jane schließlich und stand auf.
„Ich werde da sein.†œ
Und so war es auch. Mittlerweile hatte sie Ikarus informiert und ihn gebeten, das Flugzeug startklar zu machen und dann im Eiltempo ihre Sachen gepackt. Beim Auschecken sah sie Sam schon draußen vor dem Eingang stehen. Er lehnte an der Wand und wirkte regelrecht gelangweilt. Gott, irgendwas ärgerte sie einfach unheimlich an diesem Mann. Vielleicht lag es auch daran, dass sie hundemüde war, sie konnte es kaum erwarten, endlich im Flieger zu sitzen und sich eine Mütze Schlaf zu gönnen.
Sie fuhren gemeinsam zum Flughafen, unterwegs fiel ihre Unterhaltung kühl und zweckmäßig aus. Nachdem sie die Autoschlüssel abgegeben hatte, kam ihnen Ikarus schon in der Abflughalle entgegen.
„Dr. Whitcomb! Hallo, so nach Hotshot, Louisiana geht†™s also?†œ
„Hey Ikarus, ja ganz genau, und das ist Sam, er wird uns begleiten.†œ Die beiden Männer schüttelten sich die Hand und dann verließen sie die Halle und gingen quer über das Rollfeld auf den Learjet zu.
Unvermittelt warf Sam sich auf Doc und begrub sie unter sich auf dem Boden. Sie wollte schon protestieren, doch dann ertönte ein ohrenbetäubender Knall und der Learjet explodierte. Ikarus, der ein Stück vorausgegangen war, wurde von der Druckwelle wie eine Puppe durch die Luft katapultiert. Ein paar Meter neben ihnen prallte er auf. „Ikarus!†œ, schrie Jane hysterisch.
„Mir geht†™s gut!†œ, krächzte er und rollte sich wie eine Schildkröte zusammen. Dann hagelte es Flugzeugfetzen auf sie nieder. Jane bekam nicht einen einzigen Kratzer ab, denn Sams Körper schirmte sie vollständig ab. Sein Gesicht schwebte direkt über ihrem. Gott, dieser würzige Pinienduft machte sie ganz benebelt und übertünchte sogar den Gestank des brennenden Kerosin.
„Alles okay?†œ
„Mhm…†œ Er legte eine Hand an ihre Wange.
„Sicher?†œ
„Ja, mir geht†™s gut, bis auf die Tatsache, dass unser Flieger gerade in die Luft gejagt wurde, und ich von einem Engel zerquetscht werde.†œ Ikarus schlurfte zu ihnen rüber und sah fassungslos auf das brennende Wrack.
„Dieser Bombardier war nigelnagelneu. Wer ist zu so etwas fähig?†œ
„Tja, das werden wir noch herausfinden, jetzt sollten wir aber schnellstens von hier verschwinden, sonst müssen wir endlos Fragen beantworten und schaffen es nie pünktlich nach Hotshot. Da kommt schon ein Feuerwehrwagen.†œ Sam stand auf und klopfte dem Piloten auf die Schulter.
Die drei schafften es wie durch ein Wunder unbemerkt zurück in die Abflughalle.

Kaptitel 2: „Seitensprung der Sisterhood – Engelsduft“ findet sich hier!

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